Polen: Dominikanerpater fordert öffentliche Debatten über die Kirche
Der Brief wurde auf der Titelseite der liberalen Zeitung Gazeta Wyborcza unter dem Titel «Die Schuld meiner Kirche» veröffentlicht und hat kontroverse Reaktionen ausgelöst: Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Józef Michalik von Przemyśl, kritisierte den Brief scharf, während der polnische Primas Józef Kowalczyk von Gnieźno (Gnesen) erklärte, dass man sich mit dem Brief ernsthaft auseinandersetzen müsse.
In sieben Thesen diagnostiziert Wiśniewski den gegenwärtigen Zustand der katholischen Kirche Polens: falscher Triumphalismus nach dem Sieg über den Kommunismus; eine skandalöse Spaltung der Bischöfe; Xenophobie, Nationalismus und verborgener Antisemitismus bei fast der Hälfte der Priesterschaft; Fundamentalismus im Kirchenvolk – mit Verweis auf «Kreuzverteidiger» vor dem Präsidentenpalast (s. G2W 10/2010, S. 6f.); die Unfähigkeit des Episkopats im Umgang mit Radio Maryja, das die Leute zugleich zu Gebet und Fanatismus anhalte und Glaube und Pseudopolitik vermische; die Unfähigkeit zur Kommunikation mit der pluralistischen Welt und vor allem mit der Jugend. Alles in allem sei die polnische Kirche heute ein «großer, bunter, imponierender, aber künstlich aufgeblasener Luftballon».
Der 74-jährige Pater Wiśniewski, eine bekannte Figur der Solidarność-Bewegung der 1970er und 80er Jahre, machte aber auch konstruktive Vorschläge. Er forderte vor allem die Lancierung von öffentlichen Debatten in sieben Arbeitskreisen mit kompetenten Laien und Geistlichen zu folgenden Themen: Präzisierung von Begriffen in öffentlichen Debatten (z. B. Liberalismus, Patriotismus, Fundamentalismus); das Verhältnis der Kirche zur Europäischen Union; Bewertung der Transformation Polens vom Kommunismus zur Demokratie; die religiöse Ausbildung der Jugend; das Verhältnis der Kirche zum Staat; das Verhältnis zur Orthodoxen Kirche und zur Tätigkeit gewisser Medien (Radio Maryja, TV Trwam, Zeitschrift Nasz Dziennik).
Erzbischof Józef Michalik kritisierte in einem Interview mit der katholischkonservativen Zeitung Nasz Dziennik das öffentliche Auftreten Wiśniewskis und wies öffentliche Debatten über die Kirche als Einmischung zurück. Er würdigte den Sender Radio Maryja und den um den Sender gruppierten Medienkonzern Lux Veritatis für die Wahrnehmung «wichtiger religiöser und gesellschaftlicher Funktionen». Der Kirchensender vertiefe den Glauben, lehre Gebete und bringe Menschen dazu, soziale Verantwortung zu übernehmen, so der Erzbischof. – Kardinal Józef Glemp und andere Bischöfen hatten dagegen Radio Maryja aufgrund rassistischer Aussagen in der Vergangenheit als Problem bezeichnet. Die polnische Staatsanwaltschaft hat jedoch nie hinreichende Anhaltspunkte für ein Verfahren gefunden.
In einer weiteren Stellungnahme vom 20. Dezember wies Pater Wiśniewski die Vorwürfe von Erzbischof Michalik zurück, den Brief an die Presse gebracht zu haben und von «Fremden» beeinflusst worden zu sein. Er habe diesen Schritt auf einer Pilgerreise ins Heilige Land im Herbst 2010 alleine beschlossen. Sehr erfreut zeigte er sich über die positive Reaktion des polnischen Primas Józef Kowalczyk, der Wiśniewskis Lebenswerk für die Kirche würdigte, ebenfalls politisch gefärbte Predigten kritisierte und den Brief trotz einiger Überzeichnungen nicht auf die leichte Schulter nehmen will.
www.wyborcza.pl, 14., 19., 20. Dezember; Kathpress, 17. Dezember 2010; NZZ, 6. Januar 2011 – R.Z.