Russland: Fron und Folter in der Strafkolonie
Nadeschda Tolokonnikova, eine der drei im letzten Jahr verurteilten Mitglieder der Punkband Pussy Riot , hat in einem Brief, denihr Ehemann Pjotr Versilov veröffentlicht hat, auf die unmenschlichen Zustände in der Strafkolonie Nummer 14 in Mordwinien aufmerksam gemacht und ist aus Protest in einen Hungerstreik getreten.
In der Strafkolonie verbüßt Tolokonnikova derzeit ihre zweijährige Freiheitsstrafe (s. RGOW 10/2012, S. 4 f.).
Unmenschliche Zustände
Laut Tolokonnikova nähten die rund 800 inhaftierten Frauen in der Strafkolonie Uniformen und Arbeitskleidung, u. a. für die Poli- zei, das Militär und Fluggesellschaften. Entgegen dem russischen Arbeitsrecht, das auch für den Haftvollzug gilt, würden die Frauen statt der vorgeschriebenen acht bis zu 17 Stunden täglich arbeiten, schlafen könnten sie höchstens vier Stunden. Einen freien Tag gebe es höchstens alle sechs Wochen. Selbst im Krankheitsfall wage es keine der Frauen, sich zu widersetzen, da sie sonst von bestimmten Mitgefangenen misshandelt würde, die mit der Lagerleitung kooperierten, um sich Hafterleichterungen oder eine vorzeitige Entlassung zu verschaffen (im Lagerjargon „die Roten“ genannt).
Genäht würde auf völlig veralteten und abgenutzten Maschinen, obwohl das Lager mehrfach Geld für neue erhalten habe. Wenn eine Näherin die Norm nicht erfülle – unabhängig, ob die Maschi- ne nicht funktioniere oder sie mit der Arbeit nicht nachkomme –, werde die ganze Abteilung bestraft, z. B. mit stundenlangem Stehen auf dem Appellplatz bei jeder Witterung. Andere Frauen, die mit der Arbeit nicht nachkämen, würden von „den Roten“ mit Billigung der Lagerleitung geschlagen. Keine wage es, sich zu beschweren, da sie sonst umgehend zurückgeschickt und als „Petze“ erst recht verprügelt würde. Die Arbeitsatmosphäre sei gereizt, die Näherinnen hypernervös, todmüde und ausgelaugt; Suizidversuche seien keine Seltenheit. Für die Lagerleitung seien die demoralisierten und völlig rechtlosen Frauen sehr bequem, sie sähen in ihnen ausschließlich kostenlose Arbeitskräfte: Tolokonnikovas Lohn habe im Juni 29 Rubel (ca. 65 Cent) betragen. Dabei schreibe das Arbeitsrecht eine bestimmte Entlohnung für Häftlinge vor.
Die „sanitären Einrichtungen sind so konzipiert, dass sich die Frauen wie rechtloses, schmutziges Vieh fühlen“. Zwar gebe es WCs, Duschen und Einrichtungen für die Intimpflege, doch aus „Erziehungsmaßnahmen“ und zur Strafe müssten sich je fünf Frauen einen kleinen Raum ohne jede Privatsphäre teilen. Heißes Wasser gebe es nicht; zudem seien die WCs oft verstopft und müssten von den Näherinnen selbst repariert werden. Zum Essen erhielten die Gefangenen altes Brot, keimendes Getreide und angefaulte Kartoffeln, zu Trinken mit Wasser verdünnte Milch. Das Schlimmste aber sei, dass die Lagerleitung keine Anstrengung scheue, nichts von den Miss- ständen nach außen dringen zu lassen. Sie zwinge die Häftlinge mit widerwärtigsten Methoden zum Schweigen. Der Bericht Tolokonnikovas löste in Russland und im Ausland hitzige Diskussionen aus. Die Strafvollzugsbehörden in Mordwinien und Moskau wiesen alle Anschuldigungen zurück: Tolokonnikovas Bericht sei reine Verleumdung. Untersuchungskommissionen der Strafvollzugsbehörde und unabhängige NGOs begaben sich in die Strafkolonie, um den schweren Vorwürfen nachzugehen. Dabei kamen die Bürgerrechtler und die Vertreter der Justizbehörden zu widersprechenden Ergebnissen: Erstere fanden die Anschuldigungen Tolokonnikovas bestätigt, letztere sahen keine Probleme. Bürgerrechtler und ehemalige Dissidenten, die bereits in sowjetischer Zeit in den mordwinischen Straflagern eingesessen hatten, bestätigten die Aussagen Tolokonnikovas und erklärten, das gesamte Vollzugssystem als solches sei inhuman und praktisch unverändert aus der Sowjetzeit übernommen worden.
Kirchliche Reaktionen
Erzpriester Vsevolod Tschaplin, der Leiter der Synodalkommis- sion für die Beziehungen der Russischen Orthodoxen Kirche zur Gesellschaft, verurteilte dagegen die „starrköpfige“ Gefangene: Wenn Tolokonnikova ihre Sünde nicht beichte, dann werde Gott sie mit ewiger Qual viel schlimmer bestrafen. Sie als Kriminelle müsse begreifen, dass der Strafvollzug kein Kurort sei. Arbeit und eingeschränkte Lebensbedingungen seien vielmehr Teil der Strafe, auch wenn ungerechtfertigte Gewalt vermieden werden müsse.
Die orthodoxe Internetseite Pravmir.Ru bat drei erfahrene Gefängnisseelsorger – Erzpriester Ioann Kaleda, Michail Rezin und Alexander Stepanov – um Stellungnahme. Erzpriester Kaleda mein- te, wenn Geistliche sich die Änderung des Strafvollzugsystems zur Aufgabe gemacht hätten, wären sie ihrer Arbeit im Gefängnis längst enthoben worden. Ihre Aufgabe sei die Seelsorge – an Häftlingen wie Vollzugsbeamten. Ein Priester könne sich für gewisse Erleichte- rungen wie einen humaneren Umgang mit den Häftlingen einsetzen, doch auf keinen Fall irgendwelche Bedingungen diktieren, sonst verliere er sofort den Zutritt zu den Strafkolonien. Ähnlich äußerte sich auch Erzpriester Michail Rezin.
Erzpriester Alexander Stepanov erklärte, der Strafvollzug sei ein hermetisches und unmenschliches System, das nach eigenen Regeln funktioniere und auf Angst und Einschüchterung beruhe. Zwar seien ihm keine 16stündigen Arbeitstage im Lager bekannt, doch im Strafvollzug sei es Norm, dass die Lagerleitung „die Roten“ zur Disziplinierung der übrigen Häftlinge einsetze. Bei Missständen solle ein Priester am besten Bürgerrechtler einschalten.
Olga Stieger