Russland: Gemeinsamer orthodox-katholischer Arbeitskreis Sankt Irenäus zur Primatsfrage
Bei der Tagung in St. Petersburg befassten sich die Mitglieder des Arbeitskreises erneut mit den Definitionen des Ersten Vatikanischen Konzils im Blick auf den Primat des Papstes sowie mit den orthodoxen Reaktionen auf dieses Konzil in unterschiedlichen Regionen (Russland, Naher Osten, Rumänien). Außerdem setzten sie sich mit dem Verständnis vom Primat in der Kirche aus Sicht der Russischen Orthodoxen Kirche auseinander und diskutierten die Vorschläge anderer ökumenischer Studiengruppen (Orthodox-katholische Konsultation in den USA, Lutherischkatholische Studiengruppe von Farfa Sabina) im Blick auf eine Verständigung in der Primatsfrage. Die bei der Tagung gewonnenen Erkenntnisse wurden in den folgenden Thesen gemeinsam formuliert:
«Für uns, Katholiken und Orthodoxe, ist es von grundlegender Bedeutung, das Erste Vatikanische Konzil mit Hilfe der historischen Methode zu verstehen. Damit können wir die oft apologetischen Einstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten überwinden. Wir können so auch Zugang zu dem Sinn finden, den die Konzilsväter den verabschiedeten Texten geben wollten. In dieser Hinsicht ist der Rekurs auf die Erklärungen, die auf dem Konzil vor der Abstimmung dieser Texte gegeben wurden, methodologisch notwendig. Nur so kann man den genauen Sinn der Formulierungen verstehen, den das Konzil intendierte. Der Rückgriff auf diese historische Methode führte uns zu mehreren Feststellungen:
Das Erste Vatikanische Konzil hat nicht die Aussage «Der Papst ist unfehlbar» zum Dogma erhoben, sondern hat in einer viel längeren Definition festgelegt, unter welchen Bedingungen der Papst die Lehre der Kirche in einer unfehlbaren Weise zum Ausdruck bringen kann. Die Aussage des Konzils, dass päpstliche Definitionen «aus sich selbst, nicht aufgrund der Zustimmung der Kirche (ex sese, non ex consensu ecclesiae)» unabänderlich seien, bedeutet nicht, dass er eine Lehre außerhalb der Gemeinschaft der Kirche definieren kann.
Die Entscheidungen des Ersten Vatikanischen Konzils waren sehr durch die politischen Umstände bedingt: Gewährleistung der Freiheit der Ortskirchen gegenüber dem Staat, aber auch durch den kulturellen Kontext: Der Fortschritt in Archäologie, Geologie, Geschichtswissenschaft usw. hinterfragte die überlieferten Glaubensformulierungen, so dass es dringend notwendig war, sie der neuen Situation entsprechend zum Ausdruck bringen zu können.
Das Konzil unterlag weiteren Begrenzungen. Der Abbruch des Konzils durch den Krieg führte zu einem unbeabsichtigten Ungleichgewicht in der Ekklesiologie: der Behandlung des päpstlichen Primats unabhängig vom Bischofsamt und vom Mysterium der Kirche im Allgemeinen. Weitere Begrenzungen sind: eine sehr spezifische kanonische Sprache, die für Fehlinterpretationen anfällig ist, und eine Theologie, die unzureichend von der Heiligen Schrift und der Kenntnis der Kirchengeschichte geprägt ist.
Dieselbe historische Arbeit führte zu der Erkenntnis, dass viele Formen der Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils, einschließlich der maximalistischen Auslegungen, dem Dogma selbst nicht entsprechen, wenn dieses richtig verstanden wird. So ist zum Beispiel die Unfehlbarkeit des Papstes nicht die Quelle der Unfehlbarkeit der Kirche, sondern das Gegenteil ist der Fall. Ein weiteres Beispiel: Die Lehräußerungen des Papstes erheben nicht den Anspruch auf Unfehlbarkeit, es sei denn es handelt sich um ex-cathedra-Definitionen.
Aufgrund der Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils durch das Zweite Vatikanische Konzil zeichnet sich ein neues Gleichgewicht ab, das das Bischofsamt und die Gemeinschaft der Ortskirchen aufwertet. Das Dekret Unitatis Redintegratio, das eine besondere Öffnung gegenüber den orthodoxen Kirchen bietet, ermuntert zu einem Dialog «auf der Ebene der Gleichheit», der durch den historischen Ansatz bereichert werden soll. Darüber hinaus schlägt die Enzyklika Ut Unum Sint ein Gespräch vor über die Formen der Ausübung, die der römische Primat in einer wieder vereinten Kirche annehmen könnte.
Gleichzeitig stellen wir fest, dass die Fragen des Primats im Allgemeinen seitens der Orthodoxen auch aus orthodoxer Sicht nicht zufriedenstellend gelöst sind. Innerhalb der orthodoxen Kirchen gibt es Diskussionen über die Auslegung der alten Kanones hinsichtlich der Rolle des ersten Sitzes der Kirche in seiner Beziehung zu den anderen Sitzen, wobei auch die gegenwärtigen kirchlichen Realitäten in Betracht gezogen werden.
Unsere Gespräche zeigen, dass wir getrennt keine zufriedenstellenden Antworten auf die Frage nach verschiedenen Formen und Ebenen des Primats finden. Wir hoffen aber, dass wir gemeinsam zu Lösungen kommen, die zeitgemäß sind. Wir sind uns bewusst, dass die Frage des Primats in vielen Reaktionen auf die Enzyklika Ut Unum Sint angeschnitten wurde. Es ist gut, dass diese zentrale Frage von vielen ökumenischen Gruppen untersucht wird. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interpretationen des Ersten Vatikanischen Konzils wünschen wir die Erarbeitung einer Hermeneutik, die in der Lage wäre, den Text korrekt zu interpretieren sowie einen Weg zur vollen Gemeinschaft aufzuzeigen. » Dem Gemeinsamen orthodox-katholischen Arbeitskreis St. Irenäus gehören 26 Theologen, 13 orthodoxe und 13 katholische, aus mehreren europäischen Ländern und den USA an. Er war 2004 in Paderborn (Deutschland) gegründet worden.
NÖK, 24. November 2011.