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Russland: Kirchen kritisieren Putins Tempelberg-Vergleich

14. Januar 2015

In seiner Rede zur Lage der Nation am 4. Dezember hat der russische Präsident durch einen gewagten Vergleich aufhorchen lassen. Vladimir Putin rechtfertigte die Annexion der Schwarzmeerhalbinsel Krim im März 2014 durch Russland damit, dass von dort die Christianisierung Russlands ausgegangen sei.

Seine Rede gipfelte in der folgenden Aussage: „Für Russland haben die Krim, das antike Chersones und Sevastopol eine unschätzbare zivilisatorische und sakrale Bedeutung – so wie der Tempelberg in Jerusalem für jene, die den Islam oder das Judentum bekennen. Genauso werden auch wir verfahren, von jetzt an und immerdar.“

Die Krim sei, laut Putin, der „spirituelle Ursprung“ der Entwicklung der russischen Nation. Der Kiewer Großfürst Vladimir habe sich 988 in der Tempelstadt Chersones an der Südküste der Krim taufen lassen. Anschließend habe er die „ganze Rus‘“ christianisiert. Das Christentum habe viel zur Entstehung des russischen Staates beigetragen, so Putin: „Dank der religiösen Eintracht haben sich unsere Vorfahren zum ersten Mal und für immer als eine einheitliche Nation begriffen.“

In der Ukraine erntete Putin für seine Begründung des Krim-Anschlusses an Russland lediglich Kopfschütteln. Sergii Bortnyk vom Kirchlichen Außenamt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche–Moskauer Patriarchat erklärte gegenüber der katholischen Nachrichtenagentur KNA: „Putins Logik kann nicht akzeptiert werden, weil von ihr gefährliche Schlussfolgerungen abgeleitet werden können.“ Für die orthodoxe Kirche sei nicht die Krim, sondern Vladimir heilig. Bortnyk fragte, ob Putin auch Istanbul annektieren wolle, weil Vladimirs Großmutter Olga vermutlich in Konstantinopel getauft worden sei. Er interpretierte Putins Aussage als Versuch, eine eigene „heilige Geschichte Russlands“ zu entwickeln. Vor dem jetzigen Krieg in der Ostukraine sei von Moskau ständig betont worden, dass Kiew ein Zentrum der 1 000-jährigen Geschichte Russlands sei. „Wenn Moskau jetzt seine autonome Interpretation der Geschichte entwickelt, kann dies als prinzipielle Trennung der Wege der russischen und der ukrainischen Orthodoxie gesehen werden“, so Bortnyk.

Auch die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche kritisierte Putins religiöse Rechtfertigung der Annexion der Krim. Der Sekretär der Bischofssynode, der Kiewer Weihbischof Bogdan Dziurach, sagte der KNA, Putin versuche „eher plump, einen neuen Mythos zu erfinden“. „Kein pseudo-historisches und kein pseudo-religiöses Argument kann den vor allen Augen durchgeführten Diebstahl eines Teils des ukrainischen Territoriums rechtfertigen.“

In Russland gab es allerdings keinen Widerspruch von Religionsvertretern gegen Putins Tempelberg-Vergleich, obwohl Patriarch Kirill bei Putins Rede ganz vorne im Publikum saß. Einzig der orthodoxe Moskauer Erzdiakon und Blogger Andrej Kurajev nannte den Vergleich der Krim mit dem Jerusalemer Tempelberg falsch. In seinem Blog wies er Putin zahlreiche historische und theologische Fehler nach, die in dem Satz kulminierten: „Entweder wählte man Putins Redenschreiber aus einst hoffnungslos miserablen Schülern, oder dieser Exkurs richtet sich an Hilfsarbeiter von Kolchosen. Will sagen: Von den Historikern und dem von ihnen wohl bald vorgelegten ‚einzig zugelassenen Lehrmittel für Schulen‘ wird vor allem erwartet, dass sie Hochstimmung erzeugen, jedoch keinen historischen Wahrheitsgehalt liefern. Also geraten wir einmal mehr ins Ideologie-Zeitalter. Ich erinnere daran, dass Ideologie laut Marx die Macht der Illusionen ist.“

www.echo.msk.ru, 4. Dezember; KNA-ÖKI, 8. Dezember 2014 – O. S.

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