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Russland: Kirchlicher Wertekatalog als ideologische Grundlage für "Einiges Russland"?

15. August 2012
Der russische Premierminister und Vorsitzende der Regierungspartei «Einiges Russland», Dmitrij Medvedev, hat am 16. Juni dem Generalrat der Partei eine weltanschauliche Neuausrichtung vorgeschlagen: Die Partei dürfe nicht länger «nur eine Partei der Führer sein», sondern müsse für die breite Bevölkerung mittels eines «Wertekatalogs, für den jedermann jederzeit stimmen wird», attraktiv werden.

Bei dem Katalog handle es sich um die für Staat und Gesellschaft Russlands «traditionellen Werte mit Schwerpunkt auf Moral, Kirche und selbstverständlich unsere vier wichtigsten Religionen».

Medvedev führte nicht weiter aus, wie der Wertekatalog auszusehen habe. Laut der Tageszeitung Nezavisimaja gazeta könnte es sich dabei um den allgemein gefassten «Katalog moralischer Werte» der Russischen Orthodoxen Kirche handeln, den Erzpriester Vsevolod Tschaplin, Vorsitzender der Synodalabteilung für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, der Öffentlichkeit letztes Jahr vorgestellt hatte (s. G2W 4/2011, S. 7f). Im Februar hatte Erzpriester Tschaplin diesen Katalog den Duma- Abgeordneten von «Einiges Russland» als mögliche weltanschauliche Ausrichtung der Partei vorgestellt. Auf Nachfragen der Nezavisimaja gazeta an Erzpriester Tschaplin, ob der Parteivorstand von «Einiges Russland» seine Vorschläge angenommen habe, antwortete dieser, er freue sich, dass die Regierung ein offenes Ohr habe «für das, was die Kirche immer gesagt hat». Entscheidend sei nun, diese Werte zu formulieren. Dabei hoffe er auf einen intensiven Dialog zwischen Regierung, Partei, Gesellschaft, Kirche und den anderen Religionsgemeinschaften «über wahre und trügerische Werte». Er könne sich jedoch nicht dazu äußern, ob Medvedev den von ihm vorgeschlagenen Katalog für «Einiges Russland» nutzen wolle.

Auf die Frage, ob die Regierungspartei sich auf die Kirche stützen werde, entgegnete Tschaplin, es sei «korrekt, dass die Parteien ihr Augenmerk auf die Kirche richten, anders zu handeln wäre unbedacht». Er begrüße es, «dass es in der Politik Kräfte gibt, die ihre Nähe zu christlichen oder allgemeinen Werten signalisieren, die den traditionellen Religionen gemeinsam sind». Bevorzugen werde die Kirche allerdings keine Partei, sie stehe im Dialog mit unterschiedlichsten politischen Kräften.

Laut Nezavisimaja gazeta befleißigen sich Kirche und Partei zusehends einer anti-liberalen Rhetorik (s. RGOW 7-8/ 2012, S. 24-25). So erklärte Medvedev an einem Parteitreffen Ende April, er sei «nie ein Liberaler gewesen». Wenige Tage zuvor hatte das Fürbittgebet des Patriarchen gegen «den aggressiven Liberalismus» stattgefunden, der angeblich die Kirche bedroht (s. RGOW 6/ 2012, S. 6f.). Ähnlich hatte sich Erzpriester Dmitrij Smirnov, der Vorsitzende der Synodalabteilung für die Beziehungen zu Streitkräften und Rechtsschutzorganen, geäußert: Liberalismus sei für ihn «wie ein Tor zur Hölle». Erzpriester Tschaplin sagte, der Staat sei zu liberal und könne «die Nabelschnur nicht durchtrennen, die ihn mit den 1990er Jahren verbinde, einer «Anti-Welt».

Aleksej Malaschenko, Politologe vom Moskauer Carnegie-Zentrum, bewertete Medvedevs Erklärung vom 16. Juni als einen «zweifelhaften taktischen Schritt: Putin, Medvedev und die Regierung müssten sich nachträglich legitimieren. Ihre Legitimität steht nach den Wahlen infrage; Kirche und Religionsgemeinschaften hingegen sind bei der Bevölkerung beliebt – jedenfalls ist die Russische Orthodoxe Kirche weitaus beliebter als die Duma». Von einer Klerikalisierung der Staatsmacht könne jedoch keine Rede sein, da es für die Regierung «völlig normal ist, die Religion […] zu instrumentalisieren». Die Kirche gehe laut Malaschenko darauf ein, da sie sich Nutzen davon erhoffe.

www.religion.ng.ru, 20. Juni 2012 – O.S.

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