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Russland: Levada-Zentrum und Memorial International werden „ausländische Agenten“

07. November 2016

Anfang September und Anfang Oktober hat das russische Justizministerium das Levada-Zentrum und die Gesellschaft Memorial International in das Register für ausländische Agenten eingetragen.

Das Levada-Zentrum ist das größte unabhängige Zentrum für soziologische Meinungs- und Marketingforschung in Russland. Die Registration geschah u. a. aufgrund regierungskritischer Aussagen des Zentrumsdirektors Lev Gudkov und des Leiters der Abteilung für soziokulturelle Forschungen, Alexej Levinson. Zudem wird das Zentrum beschuldigt, einige Forschungen im Interesse anderer Staaten durchzuführen. Den Antrag auf den Registereintrag hat der Co-Vorsitzende der Organisation „Antimajdan“ und Mitglied des Föderationsrats, Dmitrij Sablin, gestellt.

Im Bericht des Justizministeriums werden u. a. folgende Gründe genannt: Gudkov hielt im Oktober 2014 einen Vortrag zum Thema „Der paradoxe Erfolg amoralischer Macht: Gewalt und freiwillige Verantwortungslosigkeit“, in dem er das aktuelle Regierungssystem als mafiös und korrumpiert beschrieb. Die Krim-Annexion bezeichnete er öffentlich als „Reaktion der Regierung auf die Abnahme der massenhaften Unterstützung für das Regime“. In einer Vorlesung im Juli 2016 charakterisierte Gudkov das politische System Russlands „als geschlossenes autoritäres System, in dem die Regierung sich auf militärische Strukturen, Geheimdienste, Oligarchen, Staatsbeamte, Bürokratie stützt und deren Interessen vertritt“.

Zudem zeigte eine Umfrage des Levada-Zentrums wenige Wochen vor den Parlamentswahlen am 18. September, dass die Zustimmung für die Regierungspartei Einiges Russland um 8 Prozent gesunken war.

In seiner öffentlichen Reaktion vom 7. September schreibt der Direktor des Levada-Zentrums Lev Gudkov: „Das russische Justizministerium hat im Zeitraum vom 12. bis 31. August 2016 eine außerplanmäßige Überprüfung der Tätigkeiten des Levada-Zentrums in den zweieinhalb Jahren seit der letzten Überprüfung im Februar 2014 durchgeführt. Daraufhin hat das Ministerium, ohne dem Zentrum die gesetzlich vorgesehene Einspruchmöglichkeit zu gewähren, bereits am 5. September erklärt, dass das Levada-Zentrum in das Verzeichnis der Organisationen aufgenommen wird. […] Die neue Situation erschwert die Tätigkeit unserer Organisation massiv. Nicht nur werden Finanzierungsquellen abgeschnitten. Das Stigma des ‚ausländischen Agenten’ […] macht unsere Umfrageforschung unmöglich.“ Das Zentrum habe nie verborgen, dass es Mittel aus dem Ausland erhält, doch 2013 stammten laut Gudkov nur noch 3 Prozent des Budgets aus internationalen Quellen: „Bereits in den Jahren 2013 und 2014 haben Gesamt- und Einzelprüfungen im Levada-Zentrum festgestellt, dass einige Projekte aus dem Ausland finanziert werden. Das Zentrum durfte daraufhin keine Unterstützung mehr für Umfragen von ausländischen Stiftungen in Form von direkten Zuschüssen annehmen, konnte aber weiter gemeinsam mit ausländischen Partnern (Universitäten, Stiftungen, etc.) an Projekten teilnehmen und auf der Basis von kommerziellen Verträgen Aufträge für Umfragen zu gesellschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Themen sowie zur Marktforschung annehmen. […] Wir sind stolz auf die Möglichkeit, mit ausländischen Partnern zusammenarbeiten zu können. Das darf kein Anlass sein, uns als ausländische Agenten zu diskreditieren, sondern ist ein Beweis für die hohe Professionalität und Qualität unserer Forschungen.“

Das Levada-Zentrum ist die 141. als „ausländischer Agent“ registrierte NGO in Russland. Es wurde von Jurij Levada (1930–2006), dem bisherigen Leiter des Allrussischen Meinungsforschungszentrum WZIOM gegründet, nachdem letzteres 2003 in vollständigen Staatsbesitz umgewandelt worden war. Memorial International ist der Dachverband von mehr als 60 Memorial-Organisationen, die sich der Aufarbeitung der Auswirkungen und dem Opfergedenken der Gewaltherrschaft des Stalinismus widmen.

Seit Inkrafttreten des Gesetzes über die nicht-kommerziellen Organisationen im Juli 2012 müssen sich NGOs, die Spenden aus dem Ausland erhalten und in Russland politisch tätig sind, bei den Justizbehörden als „ausländische Agenten“ registrieren (s. RGOW 4–5/2015, S. 44–45). 2016 wurde der Begriff der „politischen Tätigkeit“ nochmals deutlich ausgeweitet: Sie umfasst u. a. „die Bildung gesellschaftspolitischer Ansichten und Überzeugungen, darunter auch die Durchführung von Meinungsumfragen und die Veröffentlichung ihrer Resultate“.

Beide NGOs werden den Beschluss vor Gericht anfechten.

Meduza.io, 5. September; www.rbc.ru, 6. September; NZZ, 7. September;
levada.ru, 1., 9. September; www.zeitschrift-osteuropa.de, 12. September; Russland-Analysen Nr. 323, S. 17 2016 – R. Z.

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