Russland: Orthodoxe Priester dürfen in Ausnahmefällen Politiker werden
(s. G2W 4/2011, S. 5). Eine Kandidatur soll demnach auf allen politischen Ebenen erlaubt sein, wenn sie für die Kirche zur Verteidigung gegen «schismatische oder andersgläubige Kräfte» notwendig sei. Auch auf Parteilisten dürften Geistliche dann antreten. Die Bewerbung um ein politisches Amt muss jedoch in jedem Einzelfall von der Kirchenleitung genehmigt werden. Normalerweise sei sie unzulässig. Eine Parteimitgliedschaft sei in keinem Fall erlaubt.
Bei der Präsidentenwahl im März hatte die Kirche eine Kandidatur des beurlaub- ten Priesters und Schauspielers Iwan Ochlobystin noch verhindert. Er sei immer noch ein Geistlicher und dürfe daher nicht für das Präsidentenamt kandidieren, hieß es zur Begründung. Die Kirchenleitung lehnte damals auch ab, dass Geistliche als Wahlbeobachter arbeiten. Bei der Parlamentswahl im Dezember hatten mehrere Priester Manipulationen bei der Stimmenauszählung publik gemacht (s. RGOW 2/2012, S. 5).
Besonders in der Ukraine könnte die Kirche Beobachtern zufolge Kandida- turen von Geistlichen gutheißen. 2010 kam es dort erstmals seit mehr als zehn Jahren wieder zu Konflikten zwischen Moskau und dem von der Weltorthodoxie nicht anerkannten Kiewer Patriarchat um Kirchengebäude. In der Ukraine sind bereits einige Geistliche der Ukrainischen Orthodoxen Kirche – Moskauer Patriarchat bei Wahlen in der Ukraine angetreten; so sitzt etwa der Metropolit von Odessa, Agafangel (Savvin), seit 2006 im Regionalparlament (s. G2W 1/2011, S. 10f.). Er kandidierte auf der Liste der Partei der Regionen von Staatspräsident Viktor Janukovytsch.
An einer internationalen Forschungskonferenz in der Moskauer Universität, die Fragen der Geschichte der russischen Staatlichkeit gewidmet war, betonte Patriarch Kirill, dass die Russische Orthodoxe Kirche nicht bestrebt sei, den Staat zu ersetzen oder Staatsfunktionen zu erhalten. Damit nahm er Stellung zu der von einigen Experten geäußerten Meinung, dass die Initiative von Staatsduma-Abgeordneten, dem- nächst die Beleidigung religiöser Gefühle unter Strafe zu stellen (s. RGOW 11/2012, S. 5f.), verfassungswidrig sei, da gemäß der russischen Verfassung die Kirche vom Staat getrennt sei: «Von der Kirche zu fordern, sie solle nicht mit dem Staat zusammenschmelzen, würde bedeuten, offene Türen einzurennen. [...] Hinter diesen Forderungen steht oft etwas anderes, nämlich Versuche, die Kirche dazu zu bringen, die seelsorgerische Verantwortung für ihre Mitglieder abzulegen», so der Patriarch. Die Gläubigen seien Staatsbürger und Gesellschaftsmitglieder und insofern berufen, sich bei der Ausführung ihrer Bürgerpflichten von ihrem christlichen Gewissen leiten zu lassen. «Das gilt sowohl für die einfachen Bürger als auch für diejenigen, die leitende Posten im Staat bekleiden.» Zugleich seien die Gläubigen berufen, mit Vertretern anderer religiöser Überzeugungen und Ansichten im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens und der Gerechtigkeit im Lande zusammenzuarbeiten. In dieser Hinsicht sei Russland eines der fortschrittlichsten Länder der Welt, «weil die Tradition des religiösen Friedens unter den heutigen komplizierten Bedingungen, nicht nur von den Oberhäuptern der Kirche, sondern auch von einer absoluten Mehrheit der Gläubigen unterstützt wird.»
Im Gegensatz zur orthodoxen Kirche verbieten die römisch-katholische und griechisch-katholische Kirche, dass Geistliche politische Ämter bekleiden.
KNA-ÖKI, 4., 8. Oktober; Kathpress, 5. Oktober 2012 – R.Z.