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Russland: Scharia-Gerichte in Inguschetien und Dagestan

22. Mai 2012
Seit Mai 1999 existiert in Inguschetien, der kleinsten autonomen nordkaukasischen Republik der Russländischen Föderation, ein Scharia-Gericht.

Der Stv. Vorsitzende des Scharia-Gerichts, Magomed Chaschtyrov, erklärte Mitte April gegenüber der Nezavisimaja gazeta die Funktionsweise des Gerichts, das sich heute vor allem mit Zivilangelegenheiten wie Scheidungen, Erbrecht, Vertrags- und Arbeitsrecht oder auch mit Klagen wegen Körperverletzung beschäftige. Bis ins Jahr 2000 fungierte das Scharia-Gericht als offizielles Rechtsprechungsorgan Inguschetiens; allerdings stuften die Behörden der Republik das Scharia-Gericht auf Anraten des russischen Justizministeriums auf ein bloßes Konsultativ-Organ für Privatpersonen zurück, das dem Geistlichen Zentrum der Muslime der Republik Inguschetien untersteht.

Bevor ein Fall vor das Scharia-Gericht gelangt, müssten sich die Konfliktpar- teien laut Magomed Chaschtyrov in erster Instanz an den Imam ihrer jewei- ligen Moschee wenden. Da jeder Imam das Recht habe, bestimmte Streitfragen in eigener Regie zu lösen, würden 70% der Streitsachen bereits auf dieser Stufe entschieden und nur 30% kämen vor das Scharia-Gericht. Beide Konfliktparteien reichten hierbei ihre Klagen an den Vorsitzenden ein, worauf es zu einer Anhörung vor einem Sachverständigenrat, bestehend aus den Imamen der Ort- schaften der Konfliktparteien, komme. Dieses Gremium fälle das Urteil auf- grund des islamischen Rechts, dem sich die Konfliktparteien in der Regel beugten. Chaschtyrov zufolge stellt dieses System eine große Entlastung für die staatlichen Gerichte dar, da die meisten Zivilklagen gar nicht erst an sie gelangten. Deshalb unterstütze auch die Regierung diese Regelung, und das inguschetische Muftiat bemühe sich um ein reibungsloses Funk- tionieren dieses Rechtssystems.

De facto existierten Scharia-Gerichte auch in Dagestan, Tschetschenien oder Tatarstan, obgleich unter anderem Namen. Dazu erklärte der Pressesekretär des Muftis Dagestans, Magomedrasul Omarov, gegenüber der Nezavisimaja gazeta, dass die Rechtsabteilung der Geistlichen Leitung der Muslime Dage- stans als ein beratendes Gremium wirke, an das sich Gläubige wenden könnten, wenn sie ihre Angelegenheiten nach is- lamischen Recht regeln lassen wollten. Das Gremium setze sich aus Vertretern der muslimischen Geistlichkeit zusam- men und arbeite vergleichbar einem Scharia-Gericht. Die Rechtsabteilung prüfe nicht nur theologische, sondern auch praktische Fragen des Alltags. Wie in Inguschetien bestehe das System der muslimischen Konsultativorgane aus mehreren Stufen: Neben der Rechtsab- teilung der Geistlichen Leitung der Mus- lime Dagestans, die sich in der Haupt- stadt Machatschkala befindet, würden viele Fragen von den Imamen der Moscheen vor Ort gelöst. Erst wenn dies misslinge, würden sich die Konfliktparteien an das Gericht der Alime wenden, ein Gremium von mehreren Fachleuten für islamisches Recht, die schließlich das Urteil fällten. Mittlerweile gibt es laut Omarov auch Vorschläge, diese Art der Rechtsprechung auch für die im euro- päischen Teil Russlands lebenden Muslime einzuführen.

www.religion.ng.ru, 18. April 2012 – O.S.

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