Russland: Soziologen zur Religiosität der orthodoxen Bevölkerung Russlands
Der Direktor des Levada- Zentrums in Moskau, Lev Gudkov, und der Leiter dessen Abteilung für sozialpolitische Forschungen, Boris Dubin, ziehen daraus den Schluss, dass die religiöse Selbstidentifikation vor allem ethno-konfessionell definiert wird (orthodox = russisch), und die Russische Orthodoxe Kirche – als Ersatz für die sowjetische Identität – ein ganzheitliches Identifikationsangebot bietet, das ohne Folgen für die individuelle Integration in das kirchliche Leben und den persönlichen Alltag bleibt. Die beiden Forscher präsentierten ihre Forschungsergebnisse am 28. September 2011 an einer Konferenz des christlich-orthodoxen Instituts des Hl. Filaret (SFI) zum Thema «In der Gegenwart Gott und dem Menschen dienen».
Die Selbstidentifikation der Russen habe sich in den letzten 20 Jahren radikal verändert: 72 % der erwachsenen Bevölkerung bezeichneten sich heute als orthodox, während sich nur noch 9 % als ungläubig erklärten. Von denjenigen, die sich als russisch-orthodox bezeichnen, glauben jedoch nur 55 % an Gott, von denen 34 % nicht an Gottes Existenz zweifeln und 21 % zwar glauben, aber auch zweifeln – dieses Verhältnis sei in den letzten zehn Jahren etwa gleich geblieben. Weniger als 10 % der orthodoxen Gläubigen besuchen regelmäßig einen Gottesdienst, mehr als die Hälfte tut dies zweimal im Jahr (an Ostern und Weihnachten). Die Mehrheit gibt an, nie zu beten und die grundlegenden christlichen Gebete nicht zu kennen. Als wichtigste kirchliche Mysterien gelten die Taufe und die Sterbesakramente. Dabei falle die Tabuisierung des Themas «Tod» auf: Nur 17 % der Gesamtbevölkerung glauben an ein Leben nach dem Tod, während von den orthodoxen Befragten 41 % an das Paradies und 48 % an die Hölle glauben. Weniger als ein Drittel der orthodoxen Eltern sprechen mit ihren Kindern über religiöse Themen. Die Teilnahme am orthodoxen Gemeindeleben ist äußerst gering: So hätten 93 % der orthodoxen Russen noch nie am Gemeindeleben teilgenommen. 70 % der Befragten unterschreiben den Satz: «Man kann niemandem vertrauen», eine Mehrheit glaubt, dass «Geld alles entscheidet».
Allerdings würden laut den Forschern von der Russischen Orthodoxen Kirche moralische Grundlagen, Sinnstiftung und positive Impulse für das Zusammenleben erwartet. Die Autorität der Kirche werde oberflächlich anerkannt, wobei unter Jugendlichen eine Tendenz zu einem skeptischeren oder gleichgültigen Verhältnis zu Kirche auszumachen sei. Besonders kirchenkritisch sei die gebildete Bevölkerung: Sie werfe der Kirche vor, sich mit der Regierung zu solidarisieren und sich nicht um die dringenden gegenwärtigen Probleme zu kümmern: soziale Ungerechtigkeit, Gewalt, Korruption und Vergangenheitsbewältigung.
www.blagovest-info.ru, 29. September 2011 – R.Z.