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Russland: Unterschiedliche kirchliche Reaktionen auf die Duma-Wahlen

19. Januar 2012
Die russischen Parlamentswahlen vom 4. Dezember und die anschließenden Proteste von über zehntausend Demonstranten gegen von der Regierung organisierte Wahlfälschungen und für Neuwahlen haben in der Russischen Orthodoxen Kirche unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen.

Zwei Wochen nach den umstrittenen Duma-Wahlen rief Patriarch Kirill Regierung und Opposition zur Überwindung der politischen Spaltung auf. Die Nation stehe an einem schwierigen Wendepunkt, der über ihre Zukunft entscheide, erklärte das Kirchenoberhaupt am 18. Dezember bei einem Gottesdienst in Noginsk bei Moskau. Der Streit müsse durch einen «zivilisierten Dialog» gelöst werden, «damit unser nationales Leben nicht zerstört wird». Der Patriarch rief die Behörden auf, den Bürgern mehr zu vertrauen und den Dialog zu fördern. So könnten Missverständnisse und Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt und verhindert werden, dass «Fehler und falsch verstandene Arbeit für das Land» die Menschen entzweiten. Ziel müsse ein stärkerer Zusammenhalt der Gesellschaft sein.

Der Leiter der Synodalabteilung der Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, Erzpriester Vsevolod Tschaplin, hatte bereits eine Woche zuvor, am 10. Dezember, den meist friedlichen und gesetzlichen Verlauf der Wahlen festgestellt. Er warnte vor bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Allen politischen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz dürfe es nicht wieder zu Ereignissen wie in den Unruhe- und Revolutionsjahren 1905, 1917, 1991 und 1993 kommen. Erzpriester Tschaplin räumte allerdings auch berechtige Fragen zum Wahlverlauf ein: Er hoffe, die Regierung werde die Fragen der Demonstranten adäquat und ehrlich beantworten.

Bemerkenswert viele Priester unterstützten offen die Demonstranten und äußerten ihre Kritik zumeist auf der Internetseite Pravoslavie i mir (Orthodoxie und Welt): Erzpriester Georgij Mitrofanov, Professor für Kirchengeschichte an der Geistlichen Akademie St. Petersburg, erklärte, die Wahlen machten deutlich, wie viele Menschen in Russland nicht nur über die Zustände im Land unzufrieden seien, sondern auch völlig frustriert über ihre Machtlosigkeit. Das Volk erwarte nichts – weder von einem Machtwechsel noch von der jetzigen Regierung. Nicht wenige, denen es schlecht ginge, seien bereit, die schlimme kommunistische Vergangenheit mit einer romantischen Aura des Guten und der Gerechtigkeit zu verbrämen. Einmal mehr verfügten die Russen über ein schwaches Parlament; die jüngsten Wahlen trügen den Stempel einer der tiefsten und verheerendsten menschlichen Leidenschaften – des Kleinmuts. Die Idee von der Wählbarkeit der Regierung durch das Volk werde diskreditiert und die Vorstellung genährt, die Menschen hätten keinerlei Einfluss, nichts hinge von ihnen ab und sie brauchten keine Freiheit. Angesichts dessen müssten sich die orthodoxen Geistlichen fragen, warum sie die letzten 20 Jahre nicht genutzt hätten, um in der russischen Gesellschaft eine Schicht von Menschen heranzuziehen, die nach Freiheit streben und im Namen Christi Verantwortung übernehmen.

Andere Geistliche äußerten sich ähnlich: Erzpriester Alexander Iljaschenko, einer der Verantwortlichen von Pravoslavie i mir, erklärte, man könne und müsse gegen den «Zynismus und die Verachtung protestieren». Es gebe keine Rückkehr zur «jüngsten Vergangenheit». Das Volk habe das Recht «aufzubegehren, wenn Wahrheit und Würde mit Füssen getreten werden». Priester Fedor Ljudogovskij meinte, die jüngsten Wahlen seien ein Beispiel für Lüge und Heuchelei, mit denen sich kein Christ abfinden dürfe. Als Wahlbeobachter schilderte Priester Dimitrij Sverdlov in einem ausführlichen Essay die am Wahltag herrschende Atmosphäre von Lüge, Heuchelei und moralischem Verfall: Viele Menschen hätten bereitwillig illegal gehandelt und schämten sich für die Wahlfälschungen nicht einmal, weil man sie ihnen von oben befohlen habe.

Mittlerweile hat auch ein Gericht in Wolgograd einen ranghohen Mitarbeiter der Stadtverwaltung zu einer Geldstrafe von umgerechnet 72 Euro verurteilt. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass der Stadtangestellte Mitte November in seinem Büro einen orthodoxen Priester stundenlang bedrängt hatte, Gläubige zur Wahl der Regierungspartei «Einiges Russland» aufzurufen. Der Priester hatte den Fall der politischen Einflussnahme im Internet publik gemacht und scharf kritisiert. Dem Moskauer Patriarchat sind nach eigenen Angaben landesweit insgesamt zwei solche Fälle bekannt, bei denen staatliche Stellen Druck auf Priester ausübten.

www.portal-credo.ru, 5., 8., 19. Dezember; www.religare.ru, 5. Dezember; www.religion.ng.ru, 7. Dezember; www.pravmir.ru, 5., 17. Dezember; KNA-ÖKI, 19. Dezember 2011 – O.S.

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