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Russland: Verschärftes Antiterrorgesetz schränkt Religionsgemeinschaften ein

09. August 2016

Am 20. Juli sind in Russland Änderungen am Antiterrorgesetz in Kraft getreten, die auch das Gesetz über Gewissensfreiheit und religiöse Vereinigungen betreffen. Insbesondere wird „missionarische Aktivität“ außerhalb religiöser Gebäude staatlich reguliert und in Privatwohnungen verboten.

Die Duma hat sich mit einem Paukenschlag in die Sommerpause verabschiedet. Am letzten Sitzungstag verabschiedete sie Verschär- fungen der Antiterrorgesetzgebung, die von der Duma-Abgeordneten der Partei Einiges Russland, Irina Jarovaja, zusammen mit Senator Viktor Osjorov vom Russischen Föderationsrat initiiert wurden. Trotz Bitten zahlreicher Institutionen, sein Veto einzu- legen, hat Präsident Vladimir Putin das Gesetz, auch als „Jarovaja- Paket“ bekannt, am 6. Juli unterzeichnet.

Auch der Präsidentialrat für die Entwicklung der Zivilgesell- schaft und der Menschenrechte monierte anlässlich der Gesetzesän- derungen zahlreiche Verstöße gegen die Verfassung – so die Straf- mündigkeit ab 14 Jahren für eine Reihe terroristischer Verbrechen oder den neuen Straftatbestand des „Nicht-Anzeigens schwerer Verbrechen“. Zudem kann nun die russische Regierung bei Bedarf Telekommunikationsanbieter verpflichten, Internetdaten und Telefongespräche bis zu sechs Monate, die Metadaten sogar bis zu drei Jahre lang zu speichern. Internetdienste und selbst Vertreter des Telekommunikationsministeriums rechnen mit einer Verviel- fachung der Abonnementspreise, da die Unternehmen die Kosten für die Datenspeicherung tragen sollen. Ein weiterer Bestandteil des Jarovaja-Pakets ist die Regulierung der „missionarischen Aktivität“ religiöser Gemeinschaften.

Das Gesetz über „missionarische Aktivität“

Der  neue  Artikel  241  im  Gesetz  über  Gewissensfreiheit  defi- niert „missionarische Aktivität“ als unmittelbare oder mediale Verbreitung einer Glaubenslehre unter Personen, die der betref- fenden Religionsgemeinschaft nicht angehören, mit dem Ziel, neue Mitglieder zu gewinnen. Erlaubt ist Mission in religiösen Räumlichkeiten, Gebäuden und Anlagen, die im Privatbesitz der Religionsgemeinschaften oder ihnen zu diesem Zweck gemäß Immobilienrecht zur Verfügung gestellt sind, an Pilgerorten, auf Friedhöfen, in Krematorien und in Bildungseinrichtungen, die historisch zur Durchführung religiöser Riten verwendet werden. Außerhalb dieser Räume soll „missionarische Aktivität“ nur noch Personen – darunter auch ausländischen Missionaren – erlaubt sein, die von den offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften dazu bevollmächtigt sind und ein von der zuständigen Regierungsbe- hörde ausgestelltes Dokument bei sich tragen. Bei der Verbreitung religiöser Literatur, Audio- und Videomaterialien muss die Herausgeberschaft deutlich gekennzeichnet sein.

Nicht erlaubt ist missionarische Aktivität in Privatwohnungen und in Räumlichkeiten anderer Religionsgemeinschaften sowie Mission im Namen von gesetzeswidrigen Religionsgemeinschaften, die z. B. zu extremistischen Handlungen aufrufen, zum Bruch mit der Familie zwingen, durch Einsatz von Drogen die Gesundheit gefährden, zum Selbstmord auffordern, Mitglieder zu ihren Guns- ten enteignen und zur Verweigerung von Bürgerpflichten anstiften. Die Strafen reichen für Bürger von 5000 bis 50000 Rubel, für juristische Personen von 100000 bis 1 Mio. Rubel.

Das Gesetz ist ohne Konsultation der religiösen Gemeinschaften in Russland formuliert worden. Wenige abmildernde Änderungen wurden erst kurz vor der Abstimmung am 24. Juni angebracht und einzig dem Rechtsdienst der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK)  zur Begutachtung  vorgelegt.  Vertreter  von  protestantischen, muslimischen, jüdischen und buddhistischen Religionsgemeinschaften wie auch Religionswissenschaftler und Rechtsexperten haben dieses Vorgehen und die Gesetzesänderungen kritisiert. Während die einen den Gesetzestext als dilettantisch bewerten, empfinden ihn andere als beleidigend, wieder andere fühlen sich an Sowjetzeiten erinnert.

Reaktionen der Religionsgemeinschaften

Das Moskauer Patriarchat hingegen sieht in den Gesetzesänderungen keinen Anlass zur Sorge. Die Leiterin des juristischen Dienstes des Moskauer Patriarchats, Hegumene Ksenija (Tschernega), ist zuversichtlich: „Sollte das neue Gesetz die missionarische Tätigkeit der ROK einschränken, werden wir Verbesserungen initiieren. Nach unserer Meinung jedoch wird dieses Gesetz nur nicht-traditionelle religiöse Gemeinschaften betreffen.“ So sieht das vermutlich auch die Gesetzesinitiantin Jarovaja, die im September 2015 von Patriarch Kirill (Gundjaev) für ihren Beitrag zur Stärkung der geistig-moralischen Traditionen in der Gesellschaft und zur Entwicklung der kirchlich-staatlichen Beziehungen mit dem Hl. Evfrosinija-Orden der ROK ausgezeichnet wurde. Der russisch-orthodoxe Publizist Andrej Desnitsky hingegen hält es für naiv zu glauben, dass der Text nicht auch gegen traditionelle Religionen ausgelegt werden könne. Davor warnt auch der Muftirat Russlands, der sich um eine gemäßigte Position bemüht und „die Führung des Landes im Kampf gegen beliebige radikalen Stimmungen, gegen Terrorismus und Extremismus unterstützen“  will.

Eine öffentliche Botschaft an Präsident Putin verfasste der Konsultativrat der Vorsitzenden der protestantischen Kirchen Russlands, dem zwölf der größten evangelisch-protestantischen Gemeinschaften angehören (u. a. Pfingstgemeinden, Adventisten, Baptisten): „Es ist unmöglich, gläubigen Menschen zu verbieten, zu beten, ihre religiöse Erfahrung mit anderen zu teilen, im Gespräch mit Menschen Verse aus der Heiligen Schrift zu zitieren oder gewisse religiöse Riten außerhalb von religiösen Gebäuden auszuführen, und dies alles innerhalb von Wohnungen zu verbieten.“ Zudem schaffe die Forderung einer staatlich dokumentierten Missionserlaubnis „die Grundlage für die massenhafte Verfolgung gläubiger Menschen“.

Roman Lunkin, Leiter des Studienzentrums für Probleme der Religion und Gesellschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften, charakterisiert das Phänomen auf folgende Weisef: Die Rechtsschutzorgane, die dieses Gesetz vorangetrieben haben, taten das so, dass die Regierung jetzt dazu verpflichtet ist, Gläu- bige, ihre Gruppen und Menschen, die irgendetwas verkünden, zu verdächtigen. Das ist die Furcht vor ausländischen Agenten und westlichem Einfluss in der religiösen Sphäre.“

Regula Zwahlen

Quellen: www.er-duma.ru, 11. September 2015; pravmir.ru, 22. Juni; http://ксгпцр.рф/documents/docs/obrashcenie-k-prezidentu-rossijskoj-federatsii-v-v-putinu, 23. Juni; patriarchia.ru, 24. Juni; Gustav-adolf-werk.de, 24. Juni; golosislama.com, 24. Juni; kommersant.ru, 26. Juni; meduza.io, 28., 29. Juni, 6., 11. Juli; President-sovet.ru, 30. Juni; www.kremlin.ru, 6. Juli; Portal-credo.ru, 6. Juli; TASS, 7. Juli 2016.

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