Weissrussland: Orthodoxe Intellektuelle kritisieren Glückwünsche von Patriarch Kirill an Lukaschenko
In ihrem Brief an den Patriarchen schrieben die 19 Theologen und Kulturschaffenden:
«[...] Zahlreiche orthodoxe, nicht-orthodoxe und nicht-gläubige Weißrussen folgten der Stimme ihres Gewissens. Sie konnten den Sieg Alexander Lukaschenkos bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen nicht als ehrlichen Sieg anerkennen: Weder hatten andere Präsidentschaftskandidaten Zutritt zu den Medien, noch wurden die Vertreter der Oppositionsparteien in die Wahlkommissionen aufgenommen. Während der Wahl wurde immer wieder administrativer Druck ausgeübt, eine unabhängige Wahlbeobachtung wurde behindert und wenn es eine gab, so stellte sie zahlreiche grobe Wahlfälschungen fest.
Viele Weißrussen folgten ihrem Gewissen und gingen auf den Oktober-Platz [in Minsk], um friedlich gegen Lüge, Gewalt und Unfreiheit zu protestierten. Als dann später vor dem Regierungssitz eine Provokation geschah, wurden viele friedliche Demonstranten sowie unbeteiligte Passanten brutal zusammengeschlagen (darunter Frauen und ältere Menschen); mehr als 600 Personen wurden verhaftet und sitzen wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung unter entwürdigenden Bedingungen in Untersuchungshaft. Die Präsidentschaftskandidaten und ihre engsten Mitarbeiter, insgesamt 19 Personen, wurden vom KGB verhaftet; sie werden massivem Druck ausgesetzt, einige von ihnen sind schwer verletzt. Während Ihres [letzten] Besuchs in Minsk sagten Sie, dass Sie sich mit dem weißrussischen Volk identifizieren. Doch angesichts der Umstände, unter denen Sie als Oberhaupt der Kirche dem amtieren- den Präsidenten [...] zu seiner vierten Wiederwahl gratulierten [...], könnte der Eindruck entstehen, Sie identifizierten sich nicht mit dem ganzen Volk, sondern nur mit einem bestimmten Teil und würden den anderen [...] völlig ignorieren – dabei sind es jene Menschen, denen das Schicksal ihres Landes nicht egal ist. Deren Meinung, die geprägt ist von den Vorstellungen christlicher Freiheit und Würde, den Idealen der Demokratie, wird übergangen; sie selbst werden von einem gleichberechtigten Leben als Bürger ausgeschlossen.
In Ihrem Vortrag in Minsk haben Sie auf die Wichtigkeit hingewiesen, dass sich die Kirche niemals und unter keinen Umständen mit der Staatsmacht [...] identifizieren darf [...].
Wir halten Sie für unser geistlich verantwortliches Oberhaupt und bitten Sie nicht etwa darum, die eine oder andere politische Haltung zu äußern [...] – wir unterstützen keine konkreten Kandidaten, sondern wir engagieren uns für ehrliche und faire Wahlen, für die Einhaltung der Verfassung und die Würde des Menschen. Seit jeher hat sich die Kirche der Gefangenen angenommen, daher bitten wir Sie, die Inhaftierten zu unterstützen. Wir bitten Sie, zu bezeugen, dass die Kirche Wahlfälschungen [...] ebenso verurteilt wie Lüge und Sünde. Ebenso bitten wir Sie, die überzogene Gewalt zu verurteilen und die Provokateure, die die gewaltsamen Ausschreitungen vor dem Regierungssitz auslösten, zum Eingeständnis und zur Reue zu bewegen. Wir bitten Sie, sich für die Familien jener Demonstranten einzusetzen, denen man droht, die Kinder wegzunehmen. Möge Ihr machtvolles Wort, das der Lehre des Evangeliums und der christlichen Moral entspringt, nicht aber einer augenblicklichen politischen Laune noch geopolitischen Interessen, dem Frieden in der weißrussischen Gesellschaft dienen und nicht ihrer weiteren Spaltung.»
Die umstrittene Präsidentschaftswahl in Weißrussland am 19. Dezember 2010 war überschattet von Massenprotesten der Opposition, die Lukaschenko massive Wahlfälschung vorwarf. Gegen die Demonstranten ging die Polizei mit äußerste Härte vor und nahm zahlreiche Verhaftungen vor.
Trotzdem gratulierte Patriarch Kirill in einem Glückwunschtelegramm am 22. Dezember Lukaschenko zu seiner Wiederwahl: «Ich gratuliere Ihnen herzlich zum Sieg bei den Präsidentschaftswahlen [...]. Als Inhaber des höchsten Amtes im Staat haben Sie in den vergangenen Jahren dem Land und seinen Bürgen aufrichtig gedient – das Ergebnis der vergangenen Wahl hat den Grad des Vertrauens in Sie dargetan. [...] Ich hoffe dass Weißrussland weiterhin den Weg zur Entwicklung brüderlicher Beziehungen zu Russland sowie zu anderen his- torisch und geistig nahe stehenden Ländern treu verfolgt. Ich wünsche Ihnen Frieden, gute Gesundheit und Kraft für Ihre Arbeit zum Dienst am Vaterland.»
www.portal-credo.ru, 23., 27. Dezember 2010 – O.S.