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Über 1000 Tage Angriffskrieg – Hilfe für Eltern und Kinder von der Ukrainischen Down-Syndrom Organisation

Regula Spalinger im Gespräch mit Ivanna Vikhtynska

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine prägt auch die Arbeit der Ukrainischen Down-Syndrom Organisation. In ihrer Arbeit fokussiert sie vor allem auf psychologische Unterstützung und Beratung in alltäglichen und rechtlichen Fragen. Um die vielen Fragen von Betroffenen zu beantworten, hat die Organisation eine Online-Informationsplattform erstellt. Jugendliche und junge Erwachsene mit Down-Syndrom begleitet die Organisation mit spezifischen Online-Formaten, bei denen es auch um die Bewältigung von kriegsbedingtem Stress geht.

Mittlerweile führt Russland seit über 1000 Tagen seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf Familien mit einem Kind mit Down-Syndrom?
Ivanna Vichtynska: Da wir eine gesamtukrainische Dachorganisation sind, wenden sich Familien aus allen Gebieten der Ukraine an uns. Die persönliche Situation jeder Familie ist sehr individuell, unter anderem weil der Krieg in unterschiedlichem Ausmaß präsent ist. In Gebieten nahe der Front steht die Frage des Überlebens an vorderster Stelle. In Fällen, bei denen die Sicherheit der Familie gefährdet ist, entschließen sich die Eltern zur Flucht und versuchen, an einem neuen Ort ein neues Leben aufzubauen. Aber selbst in den zentralen und westlichen Landesteilen sind die Gefahren durch den Krieg dauernd präsent. Die Hauptstadt Kyjiw wird beispielsweise täglich mit Raketen und Drohnen beschossen. Oft werden gezielt Elektrizitätswerke angegriffen, um möglichst breite Bevölkerungskreise zu treffen. Ziel der Angriffe sind auch Wohnhäuser, und selbst Krankenhäuser oder Schulen bleiben nicht verschont. Aufgrund der lebensbedrohlichen Gefahr, die der Krieg mit sich bringt, sind immer wieder neue Familien zum Verlassen ihrer Heimatregion gezwungen. All dies hinterlässt tiefe Spuren im Inneren der Menschen, besonders wenn Familien durch den Krieg auseinandergerissen werden, oder wenn es Gefallene unter den Angehörigen gibt. Niemand kommt aus dem Krieg so heraus, wie er hineingegangen ist.

Das alles stellt schon eine enorme Belastung dar. Doch für die von uns betreuten Familien kommen dazu die Herausforderungen, die ein Kind mit Down-Syndrom mit sich bringt. Unsere Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Familien in ihrer schwierigen Situation beizustehen und mit anderen Eltern eine Gemeinschaft zu bilden, bei der sich die Familien gegenseitig stützen.

Welche Unterstützung bieten Sie den Familien konkret an?
Wichtig und unverzichtbar ist die psychologische und fachliche Unterstützung. In einem Erstgespräch erfassen wir die Situation der Familie als Ganzes und des Kindes mit Down-Syndrom – sein Alter, die gesundheitlichen Voraussetzungen, was die größten Herausforderungen sind etc. Je nach Situation der Familie schließen sich daran weitere medizinische, soziale, schulische oder juristische Abklärungen an. Diese bespricht unser Team, oder wir ziehen mit uns zusammenarbeitende Fachleute zu Rate.

Um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren und die Eltern finanziell unterstützen zu können, führen wir jährlich zum Welt-Down-Syndrom-Tag am 21. März eine Spendenaktion durch. Dieses Jahr standen die Eltern von Neugeborenen und Babys bis zwei Jahre im Mittelpunkt der Aktion. Wir sammelten etwa 400 000 Hrywnja (ca. 9 000 Euro), was ungefähr dem Betrag entspricht, den unsere Organisation benötigt, um alle Anfragen zu bearbeiten und den Eltern die benötigte Unterstützung durch eine psychologische oder weitere Fachpersonen zu gewährleisten. Da sich auch ukrainischsprachige Flüchtlingsfrauen im Ausland an uns wenden, sind wir teilweise mit sehr komplexen Fällen konfrontiert. Die Anfragen aus der Ukraine überwiegen jedoch selbstverständlich bei weitem. In diesem Jahr haben meine Kolleg:innen bereits über 360 Konsultationen für Eltern von Säuglingen und Kindern bis zwei Jahre durchgeführt. Im Rahmen des Programms „Kleinkinder“, das wir speziell für diese Eltern ins Leben gerufen haben, bieten wir Beratungen mit einer Psychologin, einer Heilpädagogin und einer Physiotherapeutin an. Die Eltern werden je nach Alter ihrer Kinder in Gruppen eingeteilt. Die Gruppe „Kleinkinder 1“ ist für Eltern mit Kindern im Alter von 0 bis 1 Jahr, die Gruppe „Kleinkinder 2“ für das Alter 1 bis 2 Jahre. In diesen Gruppen treffen sich die Eltern zweimal im Monat online, um ihre Sorgen über die Entwicklung ihrer Kinder mit einem Psychologen und einem Heilpädagogen zu besprechen und Empfehlungen zur Bewältigung von Schwierigkeiten zu erhalten. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, Familien mit Kindern im Alter von 0 bis 2 Jahren besonders intensiv zu unterstützen, da dies eine der kritischsten Phase im Leben der Familien ist.

In diesem Jahr haben wir zudem einen langgehegten Wunsch realisiert: Wir haben eine separate Informationsplattform (https://platforma.downsyndrome.org.ua) gestaltet, die auf häufig gestellte Fragen von Eltern und Fachpersonen Antworten gibt: Was ist das Down-Syndrom? Wie lassen sich Kinder mit Down-Syndrom fördern? Wie wird das Kind bei der Invalidenversicherung angemeldet? Wie erfolgt die Prüfung durch die medizinische Kommission? Für die Lehrer:innen stellt die Website Hinweise zum Unterrichten von Kindern mit Down-Syndrom in bestimmten Fächern, wie z. B. Mathematik, bereit. Da die Familien in unterschiedlichen Landesteilen wohnen, teilweise auch als Flüchtlinge im Ausland leben, erfüllt diese Informationsplattform eine wichtige unterstützende Funktion. Die Webseite wird laufend mit neuen Materialien und Informationen ergänzt. Auch eine Sektion für junge Menschen mit Down-Syndrom ist darin enthalten.

Wie begleiten Sie Jugendliche mit Down-Syndrom?
Uns ist es ein Anliegen, dass wir für alle Altersgruppen geeignete Angebote zur Verfügung stellen. Die Arbeit mit den Jugendlichen nahm 2018 ihren Anfang, als wir begannen, einzelne Jugendliche für den Eintritt ins Berufsleben zu coachen und dabei auch deren Arbeitgeber einbezogen. Das Ziel, für diejenigen eine Arbeitsstelle zu finden, die dies wollten, haben wir erreicht. Diese Richtung verfolgen wir seither weiterhin. Durch das Coaching realisierten wir auch, dass damit nur die Spitze des Eisberges abgedeckt ist. Denn zusätzlich müssen auch praktische Fragen des Alltags behandelt werden. Daher gründeten wir den sog. Youth Club, bei dem regelmäßig Online-Treffen mit einer Sozialpädagogin und mir stattfinden. Während der Corona-Zeit verlagerten wir den Youth Club ins Internet, wodurch sich auch Jugendliche aus anderen ukrainischen Regionen anschließen konnten. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gibt es sogar Jugendliche und junge Erwachsene mit Down-Syndrom, die als Flüchtlinge im Ausland an den Club-Abenden teilnehmen. Zu besonderen Anlässen treffen wir uns auch physisch in Kyjiw.

Die Arbeit mit den jungen Menschen geschieht in zwei Gruppen: eine für Teenager ab 14 Jahren, die zweite richtet sich an junge Erwachsene ab 18 Jahren. Durch den engen Austausch mit ihnen entdecken wir viele außerordentliche Talente. Darunter sind Jugendliche, die abgelegen auf dem Dorf aufgewachsen sind und zum Teil weit fahren mussten, um gefördert zu werden. So malt ein Mädchen mit Down-Syndrom auf Bestellung ganz wunderbare Bilder. Ein anderes Mädchen ist Akrobatin in einem Zirkusensemble. Ein Junge aus dem Gebiet Vinnytsja rezitiert Gedichte. Bei den Online-Treffen mit den Jugendlichen gehen wir von der aktuellen Situation aus: Wie lässt sich das durch den Krieg verursachte Stress-Niveau senken, und welche Körpertechniken gibt es dafür? Auch der Umgang mit Geld und Rechnen im Alltag ist ein wichtiges Thema. Der Zugang dazu ist für Menschen mit Down-Syndrom meist nicht einfach. Und doch sind solche Fähigkeiten gerade für jene, die arbeiten und Geld verdienen, elementar und wichtig für ein selbstbestimmtes Leben. Mit der Gruppe junger Erwachsener bereisen wir virtuell verschiedene Länder, lernen deren Geografie, Hauptstadt, Währung, Sprache, Küche und kulturelle Traditionen kennen. Auch diese Treffen sind in den Alltag eingebettet, denn manche Teilnehmende leben mittlerweile in diesen Ländern. Außerdem gibt es Hausaufgaben, die die Teilnehmenden lösen sollen. Sie empfinden sich als Teil eines sozialen Ganzen, da wir über Messenger-Dienste häufig in Kontakt sind. Das ist nicht hoch genug einzuschätzen, denn manche unserer jungen Klienten mit Down-Syndrom wären sonst sehr einsam. Gerade für Menschen mit Down-Syndrom sind kreative soziale Kontakte eminent wichtig.

Im Sommer hat Ihre NGO außerdem drei Camps zur Rehabilitation von Müttern und ihren Kindern durchgeführt. Wie sind diese Ferienlager verlaufen?
Dieses Jahr haben wir drei Ferienlager durchgeführt. Das erste mit Unterstützung von Forum RGOW, wofür wir uns ganz herzlich bedanken! An den Camps nahmen insgesamt 138 Personen teil, darunter 56 Kinder mit Down-Syndrom, die während der gemeinsamen Zeit kreativen und sportlichen Aktivitäten nachgehen und so neue Kraft tanken konnten. Diesmal haben von Elternseite nicht nur Mütter, sondern auch sechs Väter die aufbauende Wirkung der Ferienlager erfahren. Die Tage werden in Zelten und in der freien Natur im Gebiet Vinnytsja verbracht. Obwohl die Camps vor allem die Kinder im Blick haben, haben wir festgestellt, dass auch die Eltern diese gemeinsame Auszeit brauchen. Viele kommen in einem sehr belasteten emotionalen Zustand an. Wenn es den Eltern nicht gut geht, leiden auch die Kinder. Das einwöchige Zusammensein wird von unserem Team gestaltet. Medizinische und psychologische Fachpersonen sowie Freiwillige sind ebenfalls anwesend. Neben Freude, Entspannung und neuen Fertigkeiten für alle sind diese Tage eine wertvolle Gelegenheit für Einzelgespräche. So können mit den Eltern neue mögliche Verhaltensweisen oder Lösungen für akute Probleme besprochen werden. In gemeinsamen Spielen können wir Elemente aufgreifen, um soziale Fähigkeiten und Talente zu stärken. Eine weitere positive Auswirkung der Ferienlager ist, dass sich Freundschaften zwischen Familien ergeben, so dass diese sich danach gegenseitig unterstützen können.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Ihren regionalen Partnern, die zumeist auf der Basis von Elterninitiativen bestimmte Projektideen realisieren möchten?
Das ist eine sehr wichtige Frage, denn das Engagement von Menschen vor Ort ist besonders wertvoll. Doch oft fehlt es an verschiedenen Ressourcen, seien es Kenntnisse (z. B. in Projektpräsentation, Fundraising) oder Finanzen. Wir verfolgen folgenden Ansatz: Anstatt die lokale Gruppe ins kalte Wasser zu werfen, coachen wir zunächst jeweils eine Vertreterin, die über besondere Erfahrungen verfügt. Bei einem unserer regelmäßig veranstalteten Runden Tische mit Eltern und weiteren Interessenten trägt sie die mit uns gemeinsam erarbeitete Präsentation vor. So hatten wir beispielsweise Ende Oktober einen Workshop zum Thema „Ein Raum für Kinder mit Down-Syndrom – von der Idee zur Realisation“. Dabei ging es auch um unterschiedliche Unterrichtsmodelle für die Kinder, deren Plus- und Minuspunkte wir gemeinsam diskutierten. Die Gruppe, die ihr lokales Projekt vorstellte, hat sich entschieden, die bisherige Behindertenschule zu verlassen und eine eigene kleine Schule zu gründen. Die Projektleiterin ist selbst Lehrerin, Mutter eines Kindes mit Down-Syndrom, zudem führt sie ein Tanzstudio für Kinder. Die bisherige Schule bietet keine Therapien wie Logopädie an. Auch fördert sie die Kinder nicht in ihrem kreativen Ausdruck, was gerade eine Stärke von Kindern mit Down-Syndrom ist. Deshalb will diese Gruppe den Weg in die Eigenständigkeit einschlagen. Wir haben ihr geholfen, das Projekt mit konkreten Etappen und fundierten Zahlen zu strukturieren. Neben solchen Runden Tischen zur Vorstellung eigener Projekte führen wir auch Weiterbildungen für unsere regionalen Partner-NGOs durch. Im Mittelpunkt stehen dabei häufig Fragen, die alle beschäftigen: Wie schreibt man ein Fördergesuch, oder wie baut man nachhaltige Projektpartnerschaften auf?

Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
Ich möchte folgende Projekte hervorheben, die wir im nächsten Jahr neben der Begleitung und Beratung der Familien verfolgen. Einerseits zeigt die Praxis, dass wir einen Reserve-Hilfsfonds für in Not gerate Familien gründen sollten. Denn aufgrund des Kriegs oder persönlicher Schicksalsschläge benötigen einzelne Familien manchmal ganz plötzlich eine unbürokratische finanzielle Überbrückung. Ein zweiter Bereich ist unsere Online-Informationsplattform zum Down-Syndrom. Diese ist für alle ukrainischen Eltern und weitere Interessierte wichtig, daher werden wir die Website laufend mit neuen Inhalten ergänzen. Außerdem wollen wir die Zusammenarbeit mit den regionalen Partnergruppen weiterentwickeln, mit der wir 2022 begonnen haben. Über die vergangenen Jahre haben sich zudem Partnerschaften mit Down-Syndrom-Organisationen anderer Länder ergeben. So bieten wir beispielsweise mit deutschen Kolleg:innen wertvolle Webinare zu spezifischen Themen an. Besonders freut uns, dass wir seit diesem Herbst fruchtbare Gespräche mit der amerikanischen Global Down Syndrome Foundation führen, die sich auf medizinische Themen spezialisiert hat. Die Stiftung hat Ressourcen, um wichtige Texte und Forschungsergebnisse auch in andere Sprachen zu übersetzen, u. a. ins Ukrainische, was bei uns aufgrund fehlender Mittel unmöglich wäre. Mit der Stiftung planen wir eine Konferenz zu medizinischen Fragen rund um das Down-Syndrom, unter Beteiligung von Fachärzten und Vertreter:innen des ukrainischen Gesundheitsministeriums. Das ist ein großes Vorhaben, doch wir sind zuversichtlich, dass wir es gemeinsam mit unseren Partnern erfolgreich umsetzen können.

Sie können die Arbeit von „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ unterstützen.

RGOW 12/2024, S. 27–29

Bild: UDSO