Ukrainische Down-Syndrom Organisation – Gelebte Inklusion in Kriegszeiten
Regula Spalinger im Gespräch mit Tetjana Pavljuk und Ivanna Vikhtynsk
Die Ukrainische Down-Syndrom Organisation unterstützt Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom. Sie hilft ihnen bei der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und steht ihnen bei der Suche nach einer Arbeitsstelle bei. Um die zahlreichen Anfragen aus dem ganzen Land zu bewältigen, hat die Organisation im letzten Jahr die Online-Informationsplattform „Inklusium“ erstellt, über die Kurse und Informationsmaterial abgerufen werden können. Für Familien, die besonders stark vom Krieg betroffen sind, will die Organisation auch 2026 wieder ein Sommercamp anbieten.
Tagtäglich leiden ukrainische Städte unter russischen Luftangriffen. Wie wirkt sich dies auf Ihre Arbeit aus?
Tetjana Pavljuk: Wir leben nun schon vier Jahre unter solchen Umständen – eine unglaublich lange Zeit. Manchmal frage ich mich: Gab es wirklich einmal ein anderes Leben? Der Krieg erfordert von uns ein ähnliches Verhalten wie von einem Menschen, dessen Angehöriger in Not geraten ist: Man steht einander bei und hilft, wo man gebraucht wird. So ist es auch mit unserem Land, das unser Haus ist. Wir halten sein Fundament und die Wände. Während unsere Verteidigungskräfte die Grenzen und den Himmel über uns vor den russischen Eindringlingen schützen, konzentrieren wir uns auf unsere Arbeit. Wir fokussieren uns auf die Punkte, die für unsere Klientinnen und Klienten wichtig sind. Bei unseren zweimal wöchentlich stattfindenden Online-Teambesprechungen findet der Beschuss nur dann Erwähnung, falls jemand ohne Strom oder Wasser ist. Die Kriegssituation ist bereits so sehr Teil unseres Alltags, dass wir uns zu Beginn der Sitzung als eine Art Appell zurufen: „Sind alle am Leben?“ und auf das Ja aus der Runde: „Dann lasst uns loslegen!“
Ihre Angebote haben Sie nach Altersgruppen gegliedert. Was sind dabei die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
In Einzelfällen beraten wir bereits werdende Eltern, wenn sie erfahren haben, dass ihr Kind mit Trisomie 21 zur Welt kommen wird. Am häufigsten nehmen Familien mit Kleinkindern im Alter von null bis zwei Jahre Kontakt mit uns auf. Pro Jahr wenden sich bis zu 80 neue Familien an unsere Organisation. Die nächste Gruppe bilden Kinder mit Down-Syndrom im Alter von zwei bis sieben Jahren. Mit den einzelnen Kindern arbeiten je nach Bedarf unsere Spezialistinnen: eine Psychologin, zwei Heilpädagoginnen, eine Logopädin, eine medizinische Spezialistin für Rehabilitation, eine Musikpädagogin sowie eine Ernährungsberaterin. Das Programm für diese Kinder nennen wir „Step by Step“, da Kinder mit Down-Syndrom stärker als andere Kinder in kleineren Schritten Alltagsfähigkeiten erlernen. Die Logopädin übt schwierige Laute ein, während die Heilpädagoginnen den Eltern zeigen, wie sich die Feinmotorik spielerisch entwickeln lässt. Für die Kinder im Schulalter bieten wir ein Unterstützungsprogramm für Lehrkräfte an. In der Ukraine können Kinder mit Down-Syndrom bis zu einer mittleren Beeinträchtigungsstufe die Regelschule besuchen. Die Lehrpersonen an Grund- oder Sekundarschulen, die inklusive Klassen leiten, erhalten von uns eine Anleitung, wie Kinder mit Down-Syndrom in ihrer Entwicklung gezielt gefördert werden können. Seit 2023 bieten wir modulartig aufgebaute Online-Trainings an, die von erfahrenen ukrainischen Heilpädagog:innen entwickelt wurden. Nach Abschluss des Kurses und Bestehen der Tests besteht die Möglichkeit, ein Zertifikat zu erhalten. Dieses Jahr konnten wir 102 Kurszertifikate an Lehrkräfte vergeben. Einzelne Module können jederzeit frei auf unserer Informationsplattform besucht werden.
Auf welches Echo stößt Ihre Informationsplattform, die im letzten Jahr gestartet ist?
Die Plattform trägt den Namen „Inklusium“.[1] Seit dem Launch der Plattform haben sich bereits über 1600 Nutzer registriert, gegen 400 Personen nahmen regelmäßig an Kursen teil. Auf der Plattform sind momentan 44 Videokurse aufgeschaltet, darunter die Trainings für Lehrkräfte, von denen ich erzählt habe. Außerdem gibt es einen Bereich mit Empfehlungen für Eltern von Kleinkindern. Zudem stehen zwei Bücher online zur Verfügung, die die Förderung der Kommunikationsfähigkeiten von Kindern mit Down-Syndrom sowie die Vorbereitung auf die Schule in den Blick nehmen. Die Plattform entwickeln wir laufend weiter und tauschen uns dazu häufig im Team aus. Eine von überall her zugängliche elektronische Bibliothek ist gerade in unserem Kriegsalltag unglaublich wichtig.
Wissen Sie, wer die Informationsplattform besucht?
Die Plattform haben wir mit einem Fragebogen verknüpft. Daher wissen wir, dass Eltern ca. 40 Prozent der Nutzer ausmachen. Die übrigen 60 Prozent verteilen sich auf unterschiedliche Gruppen. Journalisten machen rund 20 Prozent aus. Ähnlich stark sind Privatpersonen vertreten, die mehr über ein bestimmtes Thema erfahren möchten und z. B. über einen Artikel auf unsere Plattform stoßen. Ein weiteres Plus ist, dass wir die Zahl der Seitenaufrufe verfolgen können. So sehen wir, welche Bereiche wir noch stärker ausbauen sollten. Wenn wir ein neues Projekt erarbeiten, denken wir umgekehrt auch immer mit, wie wir dessen Inhalte und Resultate einem breiteren Publikum auf „Inklusium“ zugänglich machen können.
Ivanna Vikhtynska: Ich möchte noch einen Punkt zur Informationsplattform hinzufügen. In der letzten Woche war ich als Gastrednerin bei einem Webinar zum Thema Frühförderung eingeladen. Organisiert wurde es von Fachleuten, die in einem kommunalen Zentrum der Stadt Kyjiw mit Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten. Es waren Spezialist:innen aus verschiedenen Städten eingeladen. Bei diesem Anlass habe ich über unsere Informationsplattform berichtet, und warum wir den Weg zur Online-Präsenz eingeschlagen haben. An uns wenden sich Familien aus allen Regionen des Landes, aufgrund des Kriegs inzwischen sogar von außerhalb der Ukraine. Die verschiedenen Referate am Webinar zeigten, dass bei kommunalen Zentren immer Einschränkungen existieren. Wendet sich beispielsweise eine Familie an ein Zentrum in einem der zehn Stadtbezirke Kyjiws, wird sofort gefragt: Lebt diese Familie überhaupt in diesem Bezirk? Wenn nicht, dann gehört sie leider nicht zur Zielgruppe des Zentrums. Vielleicht könnte das Zentrum auf kostenpflichtiger Basis mit der Familie arbeiten, aber das ist keineswegs sicher, denn es besteht eine strikte Wohnsitz-Pflicht. Unsere Plattform hat demgegenüber einen entscheidenden Vorteil: Sie ermöglicht es, jeder Familie zu helfen – unabhängig vom physischen Aufenthaltsort. Das bestätigen auch die Rückmeldungen von Familien, die in kleinen Städten oder Dörfern leben, in denen es keine Fachkräfte gibt.
Wie unterstützen Sie Jugendliche mit Down-Syndrom?
Die Unterstützung von Jugendlichen mit Down-Syndrom erfordert sowohl von uns wie vom ganzen Land den größten Einsatz. Angebote für Klein- und Schulkinder entwickeln sich allmählich in verschiedenen Regionen der Ukraine, aber für Jugendliche und junge Erwachsene gibt es bislang kaum Angebote. Manche können arbeiten, andere nicht, aber jeder Mensch braucht sein eigenes Lebenskonzept. Auf diese unterschiedlichen Bedürfnisse gibt es in der Gesellschaft bislang sehr wenige Antworten. Unsere Klientinnen und Klienten arbeiten alle. Wir hatten im Lauf dieses Jahres sogar einige Fälle von interner Versetzung. Generell zeigt sich, dass eine Arbeitsstelle für Menschen mit Beeinträchtigungen eine sehr individuelle Angelegenheit ist, die ein hohes Maß an Engagement von allen Beteiligten erfordert: von Arbeitgebern, Sozialpädagoginnen und Familie. In der Zusammenarbeit mit jungen Erwachsenen haben wir einen weiteren Traum: einen Jugend-Hub für junge Menschen mit Down-Syndrom, für den wir derzeit ein Konzept entwickeln. Nach unserer Vorstellung soll es ein Raum in Kyjiw sein – ein „zweites Zuhause“ –, in dem junge Menschen mit Down-Syndrom die Gastgeber sind. Einige, darunter Erwachsene mit Down-Syndrom, kommen dorthin, um zu arbeiten, während andere wie Partner und Familien zu Besuch kommen. So entsteht echte soziale Inklusion.
Werden 2026 wieder Sommercamps für besonders stark vom Krieg betroffene Familien stattfinden?
Tetjana Pavljuk: Seit 2023 konnten wir bereits acht Einzellager durchführen, an denen 139 Familien teilnahmen, in denen mindestens ein Kind mit Down-Syndrom aufwächst. 2025 fanden die Sommerlager erneut in abgelegenen Dörfern statt. Das letzte von dreien in der Karpatenukraine, damit sich alle vom Beschuss in ihrer Wohnregion erholen konnten. Für die Mütter (aufgrund des Kriegs können nur vereinzelt Väter teilnehmen) ist es eine riesige Entlastung, dass auch Geschwister dabei sein dürfen. So wirkt die Aufnahme neuer Fähigkeiten über Bewegungsspiele, künstlerische Workshops und Gespräche mit den Erwachsenen viel nachhaltiger. Vermittelt werden die Inhalte durch ein Team aus Heilpädagogen, Psychologinnen, medizinischem Personal und Freiwilligen. Auf Wunsch der Familien haben wir zur weiteren Stabilisierung Gruppen gebildet, die unsere Spezialistinnen aus den Sommercamps online psychologisch begleiten. Mit Unterstützung von Forum RGOW wollen wir das Programm auch im nächsten Jahr weiterführen.
Sie können die Arbeit von „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ unterstützen.