Ukrainische Down-Syndrom Organisation: Halt geben in Kriegszeiten
Regula Spalinger im Gespräch mit Tetjana Pavljuk und Ivanna Vikhtynska
Neben der unmittelbaren Nothilfe fokussiert sich die Ukrainische Down-Syndrom Organisation nach anderthalb Jahren Krieg vor allem auf die psychologische Begleitung von Kindern mit Down-Syndrom und deren Eltern. Aus Sicherheitsgründen und um möglichst viele Betroffene im In- und Ausland zu erreichen, findet die Beratung größtenteils online statt. Zudem plant die NGO einen ersten Ratgeber in ukrainischer Sprache für Grundschullehrer zu Kindern mit Down-Syndrom, um deren Inklusion in die Schulen zu fördern.
Wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten anderthalb Jahren verändert?
Tetjana Pavljuk: Zu den Herausforderungen für Eltern mit einem beeinträchtigten Kind kommt seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine die Stresssituation des Krieges hinzu. Regelmäßig beraten unsere Spezialist:innen Familien, die schon länger mit uns in Kontakt stehen. Jeden Monat erhalten wir zudem fünf bis zehn Erstanfragen von Eltern mit Neugeborenen mit Trisomie 21. Mehrere Familien mussten unter Lebensgefahr ihren Wohnort verlassen. Manche leben seither unter prekären Verhältnissen in weniger gefährdeten Regionen der Ukraine, andere im Ausland. Wir stehen mit einer Ukrainerin in Kontakt, die mit ihren zwei kleinen Kindern zuerst nach Albanien geflohen ist und dort im Sommer ihr drittes Kind gebar. Dieser Junge mit Trisomie 21 ist sehr schwach. Mittlerweile haben die vier Aufnahme in Belgien gefunden. Wir unterstützen sie aus der Ferne so gut es geht: Eine Psychologin und Heilpädagogin ermutigt sie per Video und gibt Tipps, was für eine gesunde Entwicklung des Kindes zu beachten ist. AuSerdem nimmt die Mutter online an einem Kreis für Eltern von Babys mit Down-Syndrom teil, der von einer unserer Mitarbeiterinnen geführt wird.
Ivanna Vikhtynska: Im vergangenen Jahr haben wir noch alle gehofft, dass der Krieg bald zu Ende geht. Wir leisteten unmittelbare Nothilfe und unterstützten Familien mit Adressen, wo sie unterkommen konnten. Zudem organisierten wir Medikamente, die die Kinder mit Down-Syndrom dringend benötigten und die in manchen Regionen nicht mehr verfügbar waren. All dies leisten wir weiterhin, doch nun realisieren wir auch, dass wir nicht „nur noch ein ganz kleines bisschen“ durchhalten müssen. Daher haben wir für die Jugendlichen mit Down-Syndrom, die ich betreue, ein Programm entworfen, das den Namen „Innere Stütze“ trägt. Im Bereich der psychischen Gesundheit können sie sich so Tag für Tag Halt geben, selbst wenn die gegenwärtigen Lebensumstände enorm schwierig sind.
Tetjana Pavljuk: Daher liegt auch bei der Hilfe für die Eltern unser Fokus auf der psychologischen Unterstützung. Ein beeinträchtigtes Kind benötigt mehr Aufmerksamkeit als ein gesundes, daher ist es unabdingbar, dass wir die Ressourcen der Eltern stärken. Interessierte Mütter und Väter können sich einer unserer moderierten Online-Gruppen anschließen, die entsprechend dem Alter der Kinder gebildet werden. Während der Sitzung können sich die Eltern unter Leitung einer Psychologin zu Themen austauschen, die für alle wichtig sind, z. B. über das Stillen von Kindern mit Down-Syndrom oder einzelne Gesundheitsaspekte. Auf diese Weise können die Eltern ihre Unsicherheiten und Sorgen teilen und gegenseitiges Verständnis finden. Dank dem Online-Format können wir überregional oder gar länderübergreifend arbeiten.
Welche Sicherheitsvorkehrungen muss Ihre NGO aufgrund des Kriegs treffen?
Tetjana Pavljuk: Zum Schutz der Mitarbeitenden und Klienten arbeiten wir seit Februar 2022 fast ausschließlich online. Im vergangenen Oktober mussten wir unsere Büroräumlichkeiten im Zentrum von Kyjiw aufgeben. Bis zum Kriegsausbruch kamen Familien sowohl aus der Hauptstadt als auch den umliegenden Regionen zu Beratungen dorthin. Es gab Räume für die Logopädin, die Physiotherapeutin und die Heilpädagogin sowie einen großen Saal, den wir für verschiedene Treffen nutzten. Alles war sehr freundlich und zweckmäßig eingerichtet. Angesichts des Kriegs konnten wir jedoch nicht Monat für Monat die Ausgaben für Miete und Nebenkosten decken. Zudem steht an diesem Ort kein Luftschutzkeller zur Verfügung. Die Entscheidung zur Aufgabe des Büros fiel uns unglaublich schwer, doch heute bin ich froh, dass wir den Schritt gewagt haben. Die tägliche Arbeit setzen wir online auf eine möglichst sichere Art fort. Während der wärmeren Monate organisieren wir auch Treffen für Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom in einem Kyjiwer Park in der Nähe einer Metro-Station, während die Eltern sich separat treffen. Für den Fall eines Luftalarms können so alle Gruppen sofort einen Schutzraum aufsuchen.
Wie gestaltet sich momentan die Zusammenarbeit mit Ihren regionalen Partnern?
Tetjana Pavljuk: Ich selbst leite über einen Messenger-Dienst eine Gruppe mit 30 regionalen Vertreterinnen. Diese arbeiten auf der Basis eigenständiger Down-Syndrom Organisationen oder als kleine Eltern-Initiativgruppen in 16 ukrainischen Gebieten (Oblaste). Eines unserer strategischen Ziele, die wir uns dieses Frühjahr gesetzt haben, betrifft gerade die Entwicklung der regionalen Organisationen. Zurzeit planen wir für die interessierten regionalen NGOs einen runden Tisch im Online-Format; es ist bereits der dritte seit Beginn des Angriffskrieges. Manche unserer Partner-NGOs mussten ihre Tätigkeit vorübergehend einstellen, da die finanziellen Schwierigkeiten zu groß waren, oder die Leiterinnen ins Ausland geflohen sind. Durch den Austausch und unsere Unterstützung hoffen wir, die Zahl der wieder aktiven NGOs auf über 20 bis Ende Jahr anzuheben.
In Schepetivka wurde im Frühjahr 2023 dank Ihrer Unterstützung ein soziales Café eröffnet. Wie entwickelt es sich?
Tetjana Pavljuk: Immer, wenn ich mit der regionalen Leiterin in Kontakt stehe, dankt sie allen Partnern und Förderern für die Realisierung des Projekts. Es waren viele Hürden zu nehmen, z. B. einen Generator für den Fall von Stromausfällen zu erwerben. Im Café arbeitet ein erster junger Mitarbeiter mit Down-Syndrom.
Ivanna Vikhtynska: Das Café dient der Bevölkerung als Gaststätte im Zentrum der Kleinstadt, die ca. 270 km westlich von Kyjiw liegt. Gleichzeitig finden in den Räumen auch sog. Master-Classes für Kinder und Jugendliche mit Down-Syndrom statt, bei denen ihre handwerklichen Fähigkeiten gefördert werden. Die Kommissionen, die in der Ukraine die Arbeitsfähigkeit eines beeinträchtigten jungen Menschen beurteilen, arbeiten leider noch äuSerst langsam. Für die Eltern und die begleitenden Fachpersonen ist es oft ein dornenvoller Weg, eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, der viel Energie und Hartnäckigkeit verlangt. Die Anstellung weiterer junger Menschen mit Down-Syndrom ist in Schepetivka ein mittelfristiges Ziel. Doch einen bedeutenden Effekt hat das Café schon heute auf die lokale Bevölkerung. Es zeigt, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung sowohl in unseren Alltag als auch das Arbeitsleben integriert werden können.
An welchen weiteren Projekten arbeiten Sie gerade?
Tetjana Pavljuk: Unsere Spezialisten besitzen eine langjährige Erfahrung bei der entwicklungspädagogischen Förderung und der gesundheitlichen Begleitung von Kindern mit Down-Syndrom. Unser Ziel ist es, in Zukunft vermehrt Lehrkräfte weiterzubilden. Denn viele Lehrer:innen an Grundschulen, die gemäß der Gesetzgebung der Ukraine seit 2017 eigentlich zur Inklusion verpflichtet sind, haben noch nie ein beeinträchtigtes Kind gesehen. Zum Down-Syndrom wissen die meisten praktisch nichts. Da noch keine entsprechenden Bücher in ukrainischer Sprache erschienen sind, wollen wir einen praktischen Ratgeber für Eltern und Lehrer:innen zur Entwicklungsförderung von Kindern (0 – 8 Jahre) mit Down-Syndrom herausgeben. Unsere Fachpersonen – eine Psychologin, Physiotherapeutin, Neuropsychologin, Logopädin und Heilpädagogin – werden verschiedene Aspekte beleuchten, insbesondere, worauf in den verschiedenen Lebensphasen der Kinder zu achten ist.
Ivanna Vikhtynska: Wie wichtig das Eintreten für die Rechte von Behinderten (sog. advocacy) ist, konnte ich erst wieder im Juni 2023 bei Sitzungen der Kommission zur Revision des Arbeitsgesetzes erleben, an denen ich teilgenommen habe. Aufgrund des anvisierten EU-Beitritts werden gesetzliche Neuerungen angepeilt. Verschiedene NGOs sind in diesen Prozess eingebunden. Unser Wort hat immer dann besonderes Gewicht, wenn es darum geht zu verstehen, was abstrakte juristische Formulierungen in der Praxis für Auswirkungen haben. Junge beeinträchtige Erwachsene, die in den ersten Arbeitsmarkt integriert wurden, kann man in der Ukraine leider immer noch an ein, zwei Händen abzählen Die jungen Leute, die wir alle gut kennen, sind jedoch echte Botschafter. Sie zeigen der Gesellschaft, dass eine solche Integration normal ist.
Sie können die Arbeit von „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Ukrainische Down-Syndrom Organisation“ unterstützen.
Bild: UDSO