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„Kinder der Hoffnung“: Ein neuer Begegnungsort entsteht

Regula Spalinger im Gespräch mit Igor Smazhennyj und Anna Matjuschkina
Die ukrainische NGO „Kinder der Hoffnung“ unterstützt bedürftige Flüchtlingsfamilien mit Lebensmitteln, notwendigen Alltagsgütern und finanziellen Basisbeiträgen, bis die Eltern eine neue Arbeitsstelle gefunden haben. Im Dorf Chotjaniwka bei Kyjiw entsteht mit dem „Haus der Freunde“ ein Ort der Erholung und Rehabilitation für die Flüchtlingsfamilien. Dort sollen demnächst auch Ferienlager für die Flüchtlingskinder stattfinden.

Wie stark ist Kyjiw derzeit von russischen Raketen- und Drohnenangriffen betroffen?
Igor Smazhennyj: In der Ukraine vergeht kaum ein Tag ohne feindliche Angriffe. Nicht immer wird Kyjiw angegriffen, und es gibt Angriffe von unterschiedlicher Intensität. Aber fast jede Nacht ertönen die Sirenen. Da Raketen und Drohnen die Angriffsrichtung ändern können, wird jeweils in der gesamten Ukraine Alarm ausgelöst. Wenn Kyjiw angegriffen wird, wie bei den schweren Luftangriffen in der Nacht auf den 24. April, ist an Schlaf nicht zu denken. In Chotjaniwka gab es seit Beginn des Krieges nur einen einzigen Schrapnell-Treffer bei einem Haus. Der Schutz im Hinterland ist zwar größer, doch machen sich alle Bewohner hier Sorgen um die Menschen in der Stadt. Unsere Mitarbeiterinnen Anna Matjuschkina und Tanja Antonova sowie viele der von uns betreuten Familien leben in Kyjiw und leiden sehr unter dem Beschuss.

Wie unterstützt Ihre NGO Flüchtlingsfamilien?
Igor Smazhennyj: Wir unterstützen geflüchtete bedürftige Familien mit materieller Hilfe wie Lebensmitteln oder mit finanziellen Basisbeiträgen hauptsächlich im Gebiet Kyjiw, wo der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt. In vielen Fällen erfolgt die Hilfe für kurze Zeit, bis ein Elternteil eine neue Arbeitsstelle gefunden hat. Zu den von uns unterstützten Familien sind in den vergangenen Monaten auch vermehrt Witwen mit Kindern gekommen, die ihren Mann bzw. Vater im Krieg verloren haben, sowie Familien, in denen der Ernährer schwer verwundet wurde. Leider decken die Sozialbeiträge sowie die Invaliden- oder Witwenrenten in der Ukraine nur einen Bruchteil der Lebenshaltungskosten. In Härtefällen kann unsere Organisation Familien auch über einen längeren Zeitraum mit Basiszuschüssen unterstützen. In der Ukraine spart heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung an allem. Ältere gebrechliche Menschen leiden am meisten. Jüngere, mit uns zusammenarbeitende Freiwillige bringen älteren Menschen regelmäßig Lebensmittel.

Wie arbeiten Sie mit Flüchtlingskindern zusammen?
Anna Matjuschkina: Zu unseren Treffen hier in Kyjiw und den beiden Dörfern Voropaiw und Chotjaniwka kommen Kinder aus sehr unterschiedlichen Familien. Aufgrund der schmalen Haushaltsbudgets sind unsere kostenlosen Kurse und Unternehmungen für viele Familien die einzigen Freizeitaktivitäten, die ihre Kinder besuchen können. Einige Kinder haben durch den Verlust nächster Angehöriger im Krieg oder durch andere schreckliche Erlebnisse Traumata erlitten. Zudem sind die Kinder stets dem Stress und der Gefahr von Luftangriffen ausgesetzt. Wenn die familiären finanziellen Verhältnisse es erlauben, können wir eine Psychologin oder einen Psychologen empfehlen. Leider gibt es in der Ukraine bisher viel zu wenige in Traumatherapie geschulte Fachpersonen. Was wir als Stiftung für bedürftige Familien auf Wunsch immer tun können, sind Gespräche und Begleitung durch unsere leitenden Geistlichen. Stabilisierend auf den psychosozialen Zustand der Kinder wirken auch unsere gemeinsamen Anlässe, in die wir Elemente der Kunsttherapie einbauen. Dank der Unterstützung von Forum RGOW können wir den Mädchen und Jungen, die unsere Treffen besuchen, ein Gefühl von Stabilität vermitteln. Hinzu kommen die Wärme und Freude, die durch die gemeinsamen kreativen Tätigkeiten entstehen. Unsere Anlässe für Kinder führen wir sonntags durch, so dass die Eltern sie begleiten können. Bei schönem Wetter können wir sogar draußen Spiele durchführen oder grillen. Im Notfall verfügen die Kirchen, wo wir uns versammeln, im Untergeschoss oder einem angrenzenden Gebäude über Schutzräume. Jedes Jahr kommen mehr Kinder zu unseren Veranstaltungen. In Kyjiw sind es aktuell nicht selten 50, im Dorf Voropaiw an Festtagen über 70. Im Vergleich zu frontnahen Gebieten wie Charkiw, Sumy oder Dnipro ist Kyjiw viel sicherer. Nach wie vor kommen täglich Flüchtlinge in die Hauptstadt. Wir werden auch in Zukunft viel zu tun haben. Dabei finden die neu zur NGO stoßenden Kinder und ihre Familien rasch Anschluss.

In Chotjaniwka wurde vor Ostern das Fundament für ein Begegnungszentrum für Flüchtlingsfamilien gelegt. Was ist die künftige Aufgabe dieses „Hauses der Freunde“?
Igor Smazhennyj: Das Hauptziel des Zentrums ist es, für die durch die Kriegserlebnisse traumatisierten Familien einen verlässlichen Ort der Erholung und Rehabilitation zu schaffen. Unser Grundstück, auf dem das zweistöckige Haus gebaut wird, grenzt unmittelbar an die kleine Kirche von Chotjaniwka. In der Nähe wohnen verschiedene Gemeindeglieder, die Anlässe unterstützen werden. So ist der Standort ideal, um an Wochenenden regelmäßige Aktivitäten mit den Kindern und eine Sonntagsschule durchzuführen. Im Sommer können wir zudem Ferienlager anbieten, wie wir sie vor der Großinvasion jedes Jahr organisiert haben. Die Kinder vermissen solche längeren Zusammenkünfte, während derer sie sich mit Gleichaltrigen austauschen und gleichzeitig ein Stück Unabhängigkeit von den Eltern erleben. Gemüse und Früchte werden wir künftig teils aus unserem unter Mithilfe der Kinder gestalteten Garten beziehen, was ein Stück zur Selbstversorgung beiträgt. Ebenso werden die Kinder bei benachbarten Familien Elemente der Tierpflege kennenlernen.

Wie schreitet der Bau voran?
Igor Smazhennyj: Jeder Bau ist mit Unvorhergesehenem oder schwierigen Situationen verbunden. Das gilt doppelt in einem Land, das sich im Krieg befindet. Viele qualifizierte Bauarbeiter sind in der Armee. Doch unser erfahrener Vorarbeiter Igor Dzjurban lebt in Chotjaniwka. Dank seinem Kontaktnetz können wir die nötigen Fachleute gewinnen. In der Ukraine sind in diesem Jahr die Steuern erhöht worden, was die Baukosten in die Höhe treibt. Aber wir suchen nach wirtschaftlichen Möglichkeiten und wir finden sie. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die nächstgelegene Brücke auf der Straße nach Chotjaniwka bei Kriegsbeginn zum Schutz gesprengt wurde und die Ersatz-Pontonbrücke für Lastwagen nicht befahrbar ist. Dadurch müssen wir Ladungen mit Baumaterialien über eine lange Umfahrungsstraße transportieren. Unsere Baubrigade hat von März bis April das Grundstück gerodet, die Kanalisation und Brunnenschächte angelegt sowie das Fundament gegossen. Nun werden die Wände des Begegnungszentrums gemauert. Im Sommer soll der Dachstock errichtet werden, worauf der Innenausbau erfolgt.

Welche Anlässe für die Kinder planen Sie in der nächsten Zeit?
Anna Matjuschkina: Nach den Osterfeiertagen treffen wir uns traditionell wieder mit unseren Kindern zu einem für uns besonders wichtigen Anlass – dem Internationalen Kindertag am 1. Juni. Vom kleinsten Teilnehmer bis hin zu den Jugendlichen – alle freuen sich auf dieses Fest, denn es ist unser lang ersehntes und großes Picknick. Kinder und Eltern grillen gemeinsam Hotdogs, rösten Marshmallows über dem Feuer, begleitet von Musik und ukrainischen Liedern. So verabschieden wir unsere Kinder in die Sommerferien und schließen damit unseren Zyklus regelmäßiger Treffen ab. Am 1. September, dem traditionellen Schulanfang, versammeln wir uns alle wieder. Da es für viele Familien schwierig ist, einen Schulranzen, Schreibwaren oder Kleidung für den Turnunterricht zu kaufen, bereitet unser Team jeweils individuelle Sets vor und schenkt sie bei diesem Treffen den Kindern.

Welche Perspektiven ergeben sich durch das „Haus der Freunde“?
Anna Matjuschkina: Die Kinder warten mit großer Vorfreude darauf. Manche haben seit Jahren keine richtigen Ferien mehr erlebt. In Chotjaniwka mit der angrenzenden Auenlandschaft entsteht ein Ort, wo sie künftig kostenlose Sommercamps mit Gleichaltrigen besuchen können. Die gesundheitliche Förderung und ganzheitliche Entwicklung von Kindern in einem eigenen Sommerlager ist unser lang ersehnter Traum. Nach all den Ereignissen des Krieges und den emotionalen Belastungen, die unsere Kinder durchleben mussten, stellt ein eigenes Ferienlager eine wertvolle Zuflucht dar – und zugleich einen bedeutenden Beitrag unserer Stiftung zur Entwicklung, Bildung und psychologischen Unterstützung unserer Kinder. Da wir eine große Nachfrage für die thematischen Sommerlager erwarten, können wir uns mehrere aufeinanderfolgende Camps vorstellen. Im Garten werden wir gemeinsam Bäume und Sträucher pflanzen, Beete mit Blumen und Gemüse anlegen. Das spätere Ernten und Genießen wird den Kindern die Natur auf erlebnisreiche Art nahe bringen. Zudem erfahren sie hier, wie man sorgsam mit Wasser, Strom und weiteren Ressourcen umgeht. Wie der Name „Haus der Freunde“ es andeutet, heißen wir so bald als möglich auch Gäste oder junge Freiwillige aus der Schweiz und weiteren Ländern Europas herzlich willkommen.

Sie können die Arbeit von „Kinder der Hoffnung“ mit einer Spende auf das Konto des Forums RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 5178 0) mit dem Vermerk „Kinder der Hoffnung“ unterstützen.

Bild: Zu Ostern hat „Kinder der Hoffnung“ mit den Flüchtlingskindern Osterschmuck gebastelt (Foto: Kinder der Hoffnung).