Diakonie Polen: Ein Obdach für ukrainische Flüchtlinge
Stefan Kube im Gespräch mit Wanda Falk
Gemeinsam mit der Diakonie der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen unterstützt G2W evangelische Kirchgemeinden bei der Bereitstellung von Unterkünften und Hilfestationen an der Grenze und in verschiedenen polnischen Städten. Zudem versorgt die Diakonie Polen die Geflüchteten mit Lebensmitteln, Hygiene-Artikeln und Ausrüstung. Außerdem organisiert sie den Transport polnischer Sachspenden und leistet psychologische und medizinische Hilfe, wie die Generaldirektorin der Diakonie, Wanda Falk, berichtet.
Wie viele Flüchtlinge aus Ukraine sind momentan in Polen?
Vom Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar bis Ende April sind über 5,8 Mio. Menschen aus der Ukraine geflohen. Mehr als die Hälfte davon, über drei Mio. Flüchtlinge haben in Polen Zuflucht gesucht. Über 90 Prozent sind Frauen, Kinder und ältere Menschen, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren die Ukraine während des Krieges nicht verlassen dürfen. In einer Umfrage unter den Flüchtlingen gaben 60 Prozent an, aus den zentralen und nördlichen Teilen der Ukraine zu stammen. 63 Prozent kamen mit Kindern. 94 Prozent gaben an, jemanden aus ihrer unmittelbaren Familie zu haben, der in der Ukraine geblieben ist. Derzeit wächst die Zahl derjenigen, die von Polen in die Ukraine zurückkehren: bis Ende April wurden über. 700 000 Rückkehrer registriert.
Wie haben die polnische Gesellschaft und der Staat auf die große Zahl an Flüchtlingen reagiert?
Viele polnische Familien haben nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihre Wohnungen und Häuser für die ukrainischen Flüchtlinge geöffnet. Insbesondere in den ersten Wochen des Krieges gab es eine große gesellschaftliche Mobilisierung und Bereitschaft, den Flüchtlingen zu helfen. Angesichts des Alptraums des Krieges verweise ich immer auf das Beispiel des barmherzigen Samariters, dem in dieser gegenwärtigen dramatischen Situation eine besondere Bedeutung zukommt. Das polnische Parlament hat ein Gesetz erlassen, das es den Flüchtlingen erlaubt, eine polnische Sozialversicherungsnummer (PESEL) zu beantragen. Mit der PESEL-Nummer haben sie im gleichen Umfang wie die polnischen Staatsbürger:innen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen, z. B. zur medizinischen Versorgung und zu Sozial- und Familienleistung. Außerdem ermöglicht die PESEL-Nummer den ukrainischen Flüchtlingen, in Polen zu studieren, zu arbeiten oder ein Unternehmen zu gründen. Bis Ende April haben sich eine Million Ukrainer:innen für eine PESEL-Nummer registriert.
In welchen Regionen Polens leben die meisten Flüchtlinge?
Etwa 70 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge bleiben in den größeren Städten bzw. in deren Ballungsgebieten. Schwerpunkte sind die Gebiete Warschau, Oberschlesien und Zagłębie, Wrocław, Krakau, Danzig und Rzeszów. Der größte Bevölkerungszuwachs wurde in Rzeszów verzeichnet, wo die Bevölkerung um 53 Prozent zunahm und nun 35 Prozent der Einwohner:innen Ukrainer sind. Nur wenige Flüchtlinge möchten in einem Dorf oder in einer Kleinstadt wohnen, da die überwältigende Mehrheit nicht dauerhaft bleiben möchte und auf ein baldiges Ende des Kriegs hofft.
Wie hilft die Diakonie Polen den ukrainischen Flüchtlingen?
Wir versorgen die Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Hygiene-Artikel und Kleidung. 70 evangelische Kirchgemeinden haben kostenlos Wohnungen für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt, die teilweise schon bezogen wurden oder noch hergerichtet werden. Momentan sind wir dabei, notwendige Renovierungsarbeiten bei einigen Wohnungen durchzuführen sowie Küchen, Betten und Matratzen anzuschaffen. Zudem koordinieren wir mit unseren Partnern humanitäre Transporte sowohl in die Ukraine als auch in die Aufnahmezentren in Polen. Wir helfen auch bei der Koordinierung des Transits von Flüchtlingen in westeuropäische Länder, da viele nach Deutschland oder Schweden weiterreisen möchten. Außerdem bieten wir Rechtsberatung, Unterstützung bei Behördengängen und Polnisch-Sprachkurse an, da nur sehr wenige Flüchtlinge Polnisch können. Ungefähr 26 Prozent verstehen Polnisch, ca. 90 Prozent verstehen Russisch und Englisch etwa 50 Prozent. Besonders wichtig sind auch Integrationsworkshops und psychologische Betreuung, da viele Flüchtlinge an Kriegstraumata leiden. Eine Herausforderung ist dabei Psycholog:innen zu finden, die auch Ukrainisch sprechen. Allerdings sind seit 2014, seit Beginn des Krieges im Donbass, bis 2021 bereits über eine Million Ukrainer:innen wegen der unsicheren Zukunft nach Polen migriert. In unserer Straße hier in Warschau, wo das Lutherische Zentrum liegt, gibt es sogar einen ukrainischen Schwerpunkt mit der griechisch-katholischen Gemeinde, mit der wir in Kontakt stehen.
Wie sieht es mit den ukrainischen Flüchtlingskindern aus?
Die Kinder waren im Krieg und auf der Flucht sehr großem Stress ausgesetzt, so dass die Diakonie Polen insbesondere Integrationsmaßnahmen für die Kinder unterstützt. Kinder und deren Betreuerinnen aus einem Kinderheim aus Kiew sind in Słupsk, in der Nähe von Danzig untergekommen. Da sie auf der Flucht aus der Ukraine teilweise zu Fuss unterwegs waren, haben sie natürlich nicht viele Sachen mitgenommen. Sie sind buchstäblich mit dem angekommen, was sie anhatten, und das war Winterkleidung. Der Gemeindepfarrer aus Słupsk hat sich mit der Bitte an uns gewandt, den Kindern und ihren Betreuerinnen einen Gutschein von 400 Złoty (ca. 84 Euro) zu schenken, damit sie sich Kleidung und Dinge des täglichen Bedarfs kaufen können. Es ist nicht nur wichtig, dass wir den Flüchtlingen Sachen spenden, sondern dass sie auch selbst einkaufen können. Dies ist ein Zeichen des Respekts und Wertschätzung, dass sie selbst auswählen können, was sie brauchen und ihnen gefällt.
Eine besondere Herausforderung ist die schulische Betreuung der Kinder: Anfang April besuchten ca. 166 000 Schüler:innen, die vor dem Krieg aus der Ukraine nach Polen geflohen sind, polnische Schulen. Das sind etwa 22 Prozent der Kinder im schulpflichtigen Alter. Für 12 000 ukrainische Kinder braucht es noch einen Platz in der Schule. Das Problem ist, dass wir zu wenig Lehrer:innen und Klassen haben. Zum Teil findet der Unterricht auch online mit Lehrer:innen aus der Ukraine statt.
Welche weiteren Herausforderungen sehen sie?
Neben der Unterstützung der Flüchtlinge aus der Ukraine möchte ich noch auf eine weitere Sache hinweisen, die mir besonders am Herzen liegt und nicht in Vergessenheit geraten sollte. Seit Mitte 2021 gibt es eine Migrationskrise an der polnisch-belarusischen Grenze. Flüchtlinge und Migranten aus Asien und Afrika versuchen, über Belarus in die Europäische Union zu gelangen. Die polnischen Behörden haben radikale Maßnahmen ergriffen, um dem entgegenzuwirken (Ausnahmezustand im Grenzgebiet, zwangsweise Rückführung von Flüchtlingen und Migranten nach Belarus, Beschränkung des Zugangs von Journalist:innen und NGO zum Grenzgebiet). Die Flüchtlinge gerieten in eine Falle, weil die belarusischen Behörden sie an der Rückkehr hinderten. Wochen- und monatelang kampierten und wanderten sie in den Wäldern an der Grenze, viele von ihnen am Rande der physischen und psychischen Erschöpfung, einige starben daran. Einige der Flüchtlinge und Migranten wurden vom Grenzschutz in bewachte Zentren für Ausländer untergebracht. Die dortigen Bedingungen (z. B. Überbelegung, fehlende Privatsphäre, schwieriger Zugang zu medizinischer Versorgung) sind allerdings sehr schwierig. Diese Krise dauert an, denn der Grenzschutz registriert weiterhin Versuche, die polnisch-belarusische Grenze illegal zu überqueren. Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist dies jedoch kaum mehr Thema in der öffentlichen Debatte. Wir von Diakonie Polen unterstützen Flüchtlingsfamilien aus Afghanistan und Syrien und sind auch diesbezüglich für jede Unterstützung dankbar.
Sie können die Flüchtlingshilfe der Diakonie Polen mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Ukraine“ unterstützen.
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