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Förderung der Medizin: Kostenlose medizinische Unterstützung im Krieg

Regula Spalinger im Gespräch mit Oleg Ovechko

Die ukrainische Stiftung „Förderung der Medizin“ bietet kostenlose medizinische Hilfe für besonders vulnerable Gruppen – Binnenvertriebene, ältere Menschen und Kinder – in den ländlichen Gebieten der Zentralukraine an. Zwei Gesundheitsbusse mit mobilen ärztlichen Teams unterstützen jährlich etwa 70000 Patienten. Die medizinischen Untersuchungen vor Ort werden in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden, gemeinnützigen Organisationen und medizinischen Einrichtungen durchgeführt. Zusätzlich betreibt die Stiftung in der Region Kyjiw zwei stationäre Einrichtungen.

Die NGO „Förderung der Medizin“ existiert seit bald 30 Jahren. Was hat Sie zur Gründung der Wohltätigkeitsstiftung motiviert?
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab es im damals jungen Staat Ukraine ein starkes Auseinanderklaffen von armen und reichen Bevölkerungsschichten. Ich selbst habe in meiner Jugend Armut erlebt und weiß daher, mit welchen Schwierigkeiten weniger privilegierte Menschen zu kämpfen haben. Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass nicht alles vom Staat geleistet werden kann. Es sollten jedoch auch die ärmeren Bevölkerungsschichten Zugang zu grundlegenden medizinischen und sozialen Diensten haben. Mit der Gründung der Stiftung wollte ich eine Lücke schließen und jenen Patienten helfen, die sich aufgrund ihrer abgelegenen Wohnorte und ihrer Einkommensverhältnisse einen Spitalbesuch nicht leisten können. Unser Projekt von mobilen medizinischen Teams, das wir 2014 ins Leben gerufen haben, richtet sich vor allem an die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten. In den Teams wirken ukrainische Fach- und Hausärzte und Pflegekräfte als Freiwillige mit, d. h. sie leisten diese Arbeit neben ihrer Haupttätigkeit an freien Tagen. Alle verfügen über eine staatliche Lizenz, unter ihnen gibt es auch einzelne Chefärzte und Professoren.

Welche Bevölkerungsgruppen stehen im Fokus der mobilen ärztlichen Teams?
Unsere mobilen ärztlichen Teams bieten kostenlose diagnostische, präventive und beratende medizinische Hilfe für vulnerable Bevölkerungsgruppen in abgelegenen Ortschaften an. Schwerpunktmäßig betreuen wir die zentralukrainischen Regionen von Kyjiw, Tschernihiw, Schytomyr, Tscherkassy, über Partner auch die Regionen Winnyzja und Riwne. In den ländlichen Gebieten dieser Oblaste leben viele einkommensschwache Menschen, darunter sehr viele Binnenvertriebene (IDPs), ältere Menschen und Kinder. Gleichzeitig gibt es dort wegen des Einzugs ins Militär oder der Abwanderung praktisch keine Hausärzte mehr. In Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Sozialpolitik der Ukraine und den lokalen Gemeinden besucht jeweils eines unserer beiden mobilen medizinischen Teams ein Dorf oder eine Kleinstadt. Pro Ort und Tag rechnen wir immer mit 100 bis 250 Patientinnen. Unser Team ist grundsätzlich mit einem Schwerpunkt auf Augenheilkunde zusammengestellt, daher fahren mindestens zwei bis drei Augenärzt:innen mit. Augenheilkunde ist eine unserer Prioritäten, weil viele Augenerkrankungen schleichend und schmerzlos verlaufen: Das Sehvermögen verschlechtert sich allmählich, und viele wenden sich erst dann an einen Arzt, wenn das Problem bereits spürbar ist. Häufig ist es dann jedoch zu spät. Deshalb ist es wichtig, das Sehvermögen regelmäßig überprüfen zu lassen, um Augenerkrankungen wie Glaukom, Katarakt, Netzhauterkrankungen oder erhöhten Augeninnendruck rechtzeitig zu erkennen.

Zusätzlich gehören zum Team ein Hausarzt oder eine Hausärztin, ein Allgemeinmediziner, eine Kinderärztin, ein Chirurg sowie weitere Fachspezialisten für Ultraschalldiagnostik, Dermatologie und Gynäkologie. Bei Bedarf ergänzen wir das Team durch weitere Fachärzte. Ebenfalls dabei sind Pflegekräfte, die Blutuntersuchungen und EKGs durchführen. Normalerweise besuchen wir eine Ortschaft nach einem halben Jahr oder einem Jahr ein zweites Mal. So können wir Krankheitsverläufe verfolgen und durch unsere transparente Arbeitsweise entsteht ein Vertrauensverhältnis zur lokalen Bevölkerung. Für Menschen in schwierigen Lebenssituationen, die in Reichweite der Hauptstadt leben, besteht die Möglichkeit, in eine unserer beiden stationären Einrichtungen in Kyjiw oder im Bezirk Butscha zu kommen. Im Verlauf eines Jahres versorgen wir so insgesamt ca. 70000 Patienten.

Was sind momentan die größten Herausforderungen Ihrer Arbeit?
Das Schwierigste und gleichzeitig Wichtigste für unsere Arbeit ist es, kompetente Gleichgesinnte zu finden. In unserem Team von aktuell 40 Fachleuten gibt es viele Gläubige aus verschiedenen Konfessionen. So arbeiten bei uns Baptisten gemeinsam mit orthodoxen, katholischen und muslimischen Ärzten. Vor dem russischen Großangriff waren wir zu Spitzenzeiten mit 200 bis 300 freiwilligen Ärzten in der ganzen Ukraine tätig. Im Falle von unvorhergesehenen Situationen, z. B. aufgrund von Umweltkatastrophen wie Bränden oder Überschwemmungen, konnten wir so mehrfach und innerhalb kürzester Zeit mobile Krankenhäuser errichten. Dabei leitete uns stets der Grundgedanke, dass wir Reserven und ergänzende Dienstleistungen zum bestehenden medizinischen System anbieten. Mit Beginn der russische Großinvasion im Februar 2022 hat sich die Zahl der Binnenvertriebenen, von Bedürftigen und weiteren Personen, die auf unsere medizinische Hilfe angewiesen sind, um ein Vielfaches erhöht. Gleichzeitig ist die Anzahl Ärzte, die wir für die Arbeit in der Stiftung gewinnen können, dramatisch zurückgegangen.

Wie sieht ein typischer Tag Ihrer mobilen medizinischen Teams aus?
Die teilnehmenden Ärzte und Pflegekräfte stehen um fünf Uhr morgens auf. Ab halb sechs fahren die ersten Züge der Kyjiwer Metro. Von einer der Endstationen brechen wir mit unserem Bus auf. Gewöhnlich beträgt die Fahrt bis zum Zielort eineinhalb bis drei Stunden. Die medizinischen Untersuchungen und Konsultationen finden dort im geeignetsten lokalen Gebäude statt, etwa einem Gemeindezentrum oder einer Schule. Unsere Arbeit vor Ort dauert in der Regel bis etwa 17 Uhr, bzw. bis wir die letzten Patienten empfangen haben. Die lokale Bevölkerung erfährt über soziale Netzwerke der Gemeinde und zusätzliche lokale Organisationen ein bis zwei Wochen im Voraus von unserem Kommen. Menschen aus benachbarten Dörfern kommen ebenfalls zu den medizinischen Konsultationen.

Was passiert, wenn die Ärzte bei einem Patienten eine schwere Krankheit feststellen?
Für jeden Patienten wird eine medizinische Karte (Patientenakte) angelegt, in der die Untersuchungsergebnisse sowie Empfehlungen zur Überweisung an Fachärzte in Bezirks- oder Regionalkrankenhäusern oder – falls erforderlich – zur stationären Aufnahme festgehalten werden. Die Karte wird dem Patienten ausgehändigt, eine Kopie verbleibt bei uns. Bei wiederholten Besuchen im gleichen Ort überprüft das Team den aktuellen Gesundheitszustand des Patienten, und ob die empfohlene Behandlung durchgeführt wurde, und passt bei Bedarf den weiteren Behandlungsplan an. Falls eine operative augenärztliche Behandlung erforderlich ist, wird diese kostenlos in der stationären Abteilung der Stiftung durchgeführt.

Welche weiteren Krankheiten können in den beiden stationären Einrichtungen Ihrer Stiftung behandelt werden?
Im Kontext von humanitärer Krise und Krieg sollen unsere beiden Zentren bedürftigen Bevölkerungsgruppen den Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung ermöglichen. Die Patienten erhalten dort Beratungen von Fachärzt:innen verschiedener Richtungen, wie Augenheilkunde, Kardiologie, Innere Medizin, Pädiatrie, Endokrinologie, Chirurgie. Auch die Zahnmedizin ist vertreten. Bei uns finden sich alle für ein Kleinspital typischen Abteilungen. Unser medizinisches Personal führt Ultraschalluntersuchungen, EKGs und Basislaboruntersuchungen durch. Neben der Diagnostik bieten wir auch Behandlungen gemäß den ukrainischen medizinischen Leitlinien an. Insgesamt sind in beiden Zentren zwölf Personen tätig. Fünf davon sind festangestellt, und sieben Ärztinnen arbeiten auf Teilzeitbasis oder ehrenamtlich. In Kyjiw und der umliegenden Region sind zusätzlich etwa 40 freiwillige Ärzte aktiv in unsere Arbeit eingebunden. Die beiden Zentren erhalten keine finanzielle Unterstützung vom ukrainischen Staat. Die gesamte Tätigkeit wird durch Spenden, internationale Partner und ehrenamtliches Engagement ermöglicht.

Welche Ziele verfolgt Ihre Organisation für die kommenden Monate?
Mit Blick auf die Hilfe von Forum RGOW kann ich sagen, dass sie uns die Anstellung von neuen Ärzten erlaubt hat, unter ihnen zwei Binnenflüchtlinge. Außerdem planen wir die Eröffnung eines Ausbildungszentrums für Ärzte in unseren Kyjiwer Räumlichkeiten. Das Wichtigste ist jedoch, das bisher Geschaffene als Fundament zu erhalten. Eine genügende Anzahl qualifizierter Mitarbeiter unter den Bedingungen des Krieges zu finden, ist eine unserer größten Herausforderungen.

Sie können das Projekt mit einer Spende auf das Konto des Forums RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Förderung der Medizin“ unterstützen.