„Wings of Victory“: Schutzengel für ukrainische Kriegsverletzte
Regula Spalinger im Gespräch mit Viktoria Kramarenko
Die ukrainische NGO „Wings of Victory“ organisiert kostenlose Transporte für schwer verletzte Patienten nach ihrer stationären Erstversorgung und bietet den Kriegsverletzten medizinische, rechtliche und psychologische Beratungen durch Spezialisten. Gegründet wurde die Organisation 2018 von Viktoria Kramarenko, nach deren Vornamen die NGO auch benannt ist. Für die Patienten und ihre Angehörigen organisiert „Wings of Victory“ auch Schulungen für selbständige Pflege zuhause. Dringend benötigt wird momentan vor allem ein weiterer Krankenwagen, der für Notfälle zur Verfügung steht.
Was sind die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Viktoria Kramarenko: Unsere NGO organisiert kostenlose Transporte für schwer verletzte Patienten in stabilem Zustand nach ihrer stationären Erstversorgung. Wir transportieren kriegsverletzte Soldaten und Zivilpersonen, unter ihnen gelähmte oder krebskranke Kinder und ältere Kranke. Im zivilen Bereich ist der Bedarf an Transporten geringer, da für diese Patienten eher genügend Einsatzfahrzeuge zur Verfügung stehen. Doch für Militärangehörige ist die Situation dramatischer. Nach ihrer Entlassung aus dem erstversorgenden Militärspital sind für den Weitertransport zu Rehabilitationszentren viel zu wenig Fahrzeuge vorhanden. Oft ist eine lange Fahrt aus den umkämpften Gebieten im Osten und Südosten des Landes nach Kyjiw oder Lwiw nötig, weil es dort mehr spezialisierte Einrichtungen und qualifizierte Fachärzte gibt. Pro Tag transportieren wir drei bis fünf Personen, wobei zu jeder Fahrt auch eine vorbereitende ärztliche Beratung und Untersuchung gehören. Die Verletzten befinden sich in einem stabilisierten Zustand, daher können die Transporte oft ohne Begleitung durch medizinisches Personal durchgeführt werden. In anderen Fällen werden die Transporte durch Case-Manager von Spitälern oder durch Angehörige begleitet.
Zwei Fachärztinnen und ein weiterer Spezialist für medizinische Rehabilitation beraten in medizinischen Fragen. Dies ist in vielen Fällen notwendig, denn im jetzigen Krieg sind die meisten Verletzungen durch Explosionen von Minen oder Gefechtskörpern verursacht, die schwere Splitterwunden und Begleitverletzungen hervorrufen. Von den Kriegsverletzungen, die ich beobachte, führt etwa jede dritte zu einer Amputation. Diese sind oft mit schlimmen Phantomschmerzen für den Patienten verbunden. Eine lange medizinische Behandlung, zahlreiche Operationen und eine ausgedehnte Rehabilitationsphase sind notwendig. Sowohl für die Betroffenen als auch die Angehörigen bedeutet diese Situation einen enormen psychischem Stress. Daher arbeitet auch eine Psychologin mit uns, die jederzeit online Unterstützung anbietet. Außerdem berät ein Jurist die Patienten in Fragen staatlicher Unterstützungsleistungen.
Können Sie einen Fall beschreiben?
Wir arbeiten mit den militärischen Einheiten im Rahmen von Kooperationsvereinbarungen zusammen. So rief uns beispielsweise im Juni 2023 der Chef des Sanitätsdienstes einer Brigade an und bat uns um Hilfe beim Heimtransport eines Verwundeten aus dem Krankenhaus. Diesen Patienten transportierten wir aus einer weit entfernten Stadt nach Kyjiw. Zuvor hatte er beim Fronteinsatz schwere Unterleibsverletzungen erlitten und musste während acht Monaten in verschiedenen Spitälern gepflegt werden. Als ich ihn im Krankenhaus abholte, traf ich einen Mann mit blutentleertem, bleichem Gesicht an. Er litt offensichtlich starke Schmerzen. Während des Transports wurde klar, dass es ein Risiko für das Leben des Soldaten wаr, ihn nach Hause zu bringen und ihn dort unbeaufsichtigt zu lassen. Während wir unterwegs waren, machten die Ärzte unserer NGO einen Termin bei einem Chirurgen in einer Poliklinik aus, aber wegen der langen Warteschlangen hätte dieser erst eine Woche später stattfinden können. Ich sah keine andere Möglichkeit, als den Patienten sofort ins Krankenhaus zu fahren, um ihn dort durch meinen Kollegen, der für die proktologische Abteilung zuständig ist, untersuchen zu lassen. Nach Rücksprache mit der Leiterin des zuständigen ärztlichen Dienstes erhielt ich die Genehmigung und eine Überweisung. So waren wir in anderthalb Stunden bereits auf der Station. Nach der Untersuchung blieb der Soldat 14 Tage im Krankenhaus und ihm wurde eine zweite Operation in sechs Monaten verordnet. Vor kurzem hat mich der damals transportierte Verwundete angerufen. Das halbe Jahr sei vorbei, und er sei nun bereit für die Operation. Diese ist gut verlaufen. Nach zwei Wochen im Krankenhaus wurde der Mann nach Hause entlassen, wo wir ihn betreuten und die Angehörigen über die Pflege des Verwundeten unterrichteten.
Was hat Sie bewogen, das Projekt ins Leben zu rufen?
Einerseits meine langjährige praktische Erfahrung in der Medizin und andererseits mein Wunsch, den Militärangehörigen und ihren Familien zu helfen. Schon vor dem Krieg hatte ich sehr viele Patienten, von denen sich die Medizin abgewandt hatte. In unserer Gesellschaft gibt es Kranke, die sich aus verschiedenen Gründen die nötige Behandlung nicht leisten können. Oft gibt es keine soziale Unterstützung, gegenwärtig fehlt ein ambulanter Pflegedienst für nach Hause entlassene Kranke fast vollständig. Einzig in der Palliativpflege gibt es einen solchen Dienst. Operierte und deren Angehörige werden in vielen Fällen nicht oder nur ungenügend beraten, z. B. wie eine Wunde richtig gereinigt wird, wie man Verbände erneuert oder nicht mobile Patienten richtig lagert. So entstehen zum Teil schlimme Infekte, die lebensgefährlich sind. Diese konkreten Probleme waren der Anstoß zur Gründung des Projekts.
In den letzten Jahren haben Sie als Freiwillige an verschiedenen Frontabschnitten Dienst geleistet. Wie sah ihre Arbeit aus?
Bereits im Sommer 2016 war ich als Sanitäterin innerhalb des Programms des „Ersten Freiwilligen Mobilen Krankenhauses M. Pirogov“ für ein örtliches Ambulatorium tätig. Mobiles Krankenhaus bedeutete in diesem Zusammenhang, dass medizinische Hilfsstationen schnell und mit Hilfe von freiwilligen Ärzten aufgebaut wurden. Die Ärzte wurden dabei an Orten eingesetzt, die weit von großen Krankenhäusern und Bezirkszentren entfernt lagen. Ich wurde in das Dorf Hretschyschkyne im Gebiet Luhansk geschickt, das sich in der sog. grauen Zone befand und nur drei bis fünf Kilometer von der Front entfernt lag. In der Region gab es große Dörfer mit reichen Obstgärten und einer über Generationen gepflegten Tradition des Webhandwerks. Bevor ich aufbrach, bereitete ich in Kyjiw Grundmedikamente, Verbandsstoffe, medizinische Geräte und chirurgische Instrumente vor. In Kisten verpackt, transportierte ich schließlich gegen 300 kg. Hretschyschkyne zählte damals etwa 1 500 Einwohner. Ständig waren Einschläge von Gefechtskörpern zu hören, an einer der Straßen stand eine Kolonne Panzer und wenn sie sich in Bewegung setzte, blieb häufig während Stunden eine Staubwolke in der Luft hängen. Die Kinder, mit denen ich Bekanntschaft schloss, hatten im Kellergeschoss eine Ecke mit ihren Rucksäcken, darin die nötigsten Utensilien. Die Menschen befanden sich in einem ständigen Zustand von Stress und Frustration. Sofort wurde ich mit allen medizinischen Aufgaben der Aufnahme und Untersuchung von Patienten betraut. In der Folge behandelte ich einen Monat lang ca. 400 Menschen.
Diese Gegend und ihre Menschen werden mir ein Leben lang in teurer Erinnerung bleiben. Die Patienten erzählten von ihren Familien, einige Angehörige dienten in der Armee, andere waren bereits im Krieg gefallen. Zudem gab es zahlreiche Einwohner, die in andere Landesteile fliehen mussten. Nach diesem ersten Arbeitseinsatz brachte ich wiederholt humanitäre Güter in den Donbass. Bis 2019 reiste ich jährlich mit weiteren Ärzten in die Frontgebiete, um der Zivilbevölkerung und den Militärangehörigen zu helfen. Seit dem russischen Großangriff vom 24. Februar 2022 befindet sich Hretschyschkyne unter russischer Besetzung. Trotz zahlreicher Versuche konnte ich meine Bekannten seitdem nicht mehr telefonisch erreichen.
Sie haben auch in Irpin und Butscha an der Front Sanitätsdient geleistet.
Ja, seit Beginn der russischen Großinvasion konnten wir dank des Einsatzes der Sanitätsbrigaden viele Menschenleben retten. Unser Sanitätsteam war mit weiteren Freiwilligen im Einsatz, als die Territorien nördlich der Hauptstadt Kyjiw noch von russischen Truppen besetzt waren. Eine möglichst täglich eingehaltene Feuerpause gab den Zivilisten die Gelegenheit, sich über einen Rettungskorridor nach Kyjiw in Sicherheit zu bringen. Ab 14 Uhr wurde dieser Korridor gewöhnlich geschlossen, und zwischen 13 und 14 Uhr wurden auch wir aufgefordert, den Ort zu verlassen. Denn während der Gefechte gab es nirgendwo Schutz. Die russische Seite beschoss die Stadt mit schwerem Granatfeuer, Menschen kamen massenhaft ums Leben, und Kirchen, Schulen, Geschäfte und Wohnhäuser wurden zerstört. Sogar Freiwilligenfahrzeuge mit der Aufschrift „Kinder“ wurden beschossen, es war schrecklich.
Eines Tages war zwar der Fluchtkorridor geöffnet, doch der Beschuss setzte früher als gewöhnlich ein. Gemeinsam mit einem Arzt aus Lwiw war ich vor Ort. Alles bebte, und es gab ständig Explosionen von Gefechtskörpern, die Menschen auf der Brücke waren verwirrt und verängstigt. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Arzt in Richtung der zerstörten Brücke über den Fluss Irpin rannte. Unserem Fahrer rief ich „hinterher“ zu. Denn ich wusste, dass unser Arztkollege entweder etwas Entscheidendes gesehen hatte oder ihm etwas mitgeteilt worden war. Als wir uns der zerbombten Fahrbahn näherten, sah ich eine Frau und einen Mann auf der zerstörten Brücke. Die Frau saß mit ihrem Sohn mitten auf der Fahrbahn, rundherum wurde geschossen. Es stellte sich heraus, dass die Frau an Asthma litt. Wie der Sohn später berichtete, waren sie über neun Stunden zu Fuß auf der Flucht gewesen. Durch den Stress und vor Müdigkeit hatte seine Mutter einen Asthmaanfall erlitten. Unter dem Gefechtslärm begannen wir die Frau notfallmäßig zu behandeln. Wir gaben ihr als Erstes ein rasch wirksames Mittel gegen den Asthmaanfall. Mit vereinigten Kräften und unter heftigem Feuer gelang es uns, die Frau weg von der exponierten Straße zu bringen und unter der Brücke Schutz zu finden. Die Explosionen ließen die Betonstrukturen der Brücke erbeben. Wir hatten keine Zeit, der Zustand der Patientin verschlechterte sich, also setzten wir sie auf einen rasch herbeigeholten Evakuierungsstuhl und begannen, die Frau auf den wackeligen Brettern eines improvisierten Stegs unter der Brücke wegzutragen. Schließlich erreichten wir unseren Krankenwagen und fuhren mit höchster Geschwindigkeit los. An einem Checkpoint übergaben wir die beiden einem weiteren Rettungswagen, damit die Frau so rasch als möglich in ein Krankenhaus gebracht werden konnte. Das ist ein Beispiel von vielen Situationen, in denen dir plötzlich bewusst wird, wie du dich selbst in Gefahr befindest, während du Leben rettest. Unsere Brigade packte jeweils 20 bis 30 geflüchtete Menschen in einen Krankenwagen. Alle wussten, dass wir uns um die schwierigsten Patienten kümmerten, vor allem um Kinder und Gebrechliche, und die Leute stiegen oft mit ihren Haustieren, Hunden und Katzen, in das Fahrzeug. Wir schafften bis zu 50 Fahrten pro Tag, was nur dank der Disziplin und der Erfahrung unseres kleinen Teams möglich war.
Welche Unterstützung benötigt Ihre Organisation zurzeit am meisten?
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine verursacht unermessliches Leid und Zerstörung. Eine weitere Folge des Kriegs sind das gesunkene Lebensniveau und die gestiegenen Preise, was zu verbreiteter Armut führt. Vor dem Hintergrund all dieser Herausforderungen ist finanzielle Förderung die größte Hilfe, damit wir weiter unseren Dienst an den Mitmenschen tun können. Aktuell bereitet uns vor allem unser drittes Ambulanzfahrzeug Sorgen, das über zehn Jahre im Frontgebiet des Donbass im Einsatz war und nun im Raum Kyjiw zum Einsatz kommt. Trotz aller Pflege mussten wir den Wagen bereits mehrere Male reparieren. Da wir jedoch immer ein Ersatzfahrzeug für Notfälle benötigen, sind wir auf der Suche nach einem gebrauchten Krankenwagen, der in gutem technischem Zustand ist.
Welche Ziele hat sich Ihre NGO für 2024 gesetzt?
Die vielen Anrufe auf unserer Hotline zeigen, wie sehr unsere Dienstleistungen gebraucht werden. In den letzten acht Monaten haben wir 725 Personen beraten und 479 Verwundeten- und Krankentransporte durchgeführt. 246 Patienten erhielten eine medizinische Online-Beratung. Wir haben zwei Handprothesen und eine Beinprothese kostenlos zur Verfügung gestellt. Durch diese Maßnahmen konnten wir den Betroffenen zur richtigen medizinischen Behandlung verhelfen. Anfang 2024 haben wir zudem ein Rehabilitationsprogramm für Militärangehörige mit Amputationen im besten Schwimmbad von Kyjiw gestartet, das von qualifizierten Schwimm- und Reha-Trainern geleitet wird.
Uns erreichen auch zahlreiche Anfragen aus weiter entfernten ländlichen Gebieten, die wir bis jetzt kaum abdecken können. In diesen abgelegeneren Regionen wird unser Projekt noch dringender benötigt als im zentralen Teil der Ukraine. Daher möchten wir künftig weitere lokale Einsatzgruppen ausbilden. Wir können diesen unsere Erfahrung, das Fachwissen sowie eine Starthilfe vermitteln. Wir planen, dass diese Einheiten ihre gemeinnützige Arbeit unter dem gemeinsamen Label „Aibolit“ weitgehend selbständig aufbauen können. Eine Basis dafür gibt es in manchen Gemeinden schon, denn vielerorts wird das örtliche Ambulanzfahrzeug nur ungenügend genutzt. Wir sehen unsere Aufgabe darin, zunächst in einigen Regionen die Ausbildung und Anleitung engagierter lokaler Gruppen in die Hand zu nehmen.
Sie können die Arbeit der NGO „Wings of Victory“ mit einer Spende auf das Konto von Forum RGOW (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) mit dem Vermerk „Krankentransporte Ukraine“ unterstützen.
Bild: Viktoria Kramarenko rettet eine Katze im zerstörten Irpin (Foto: Wings of Victory).