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„Es war eine chaotische Zeit, aber auch eine Zeit großer Hoffnungen“

RGOW 12/2021
Regula Zwahlen im Gespräch mit Franziska Rich

Franziska Rich hat Anfang der 1990er Jahre die Entwicklungszusammenarbeit von G2W in Russland aufgebaut. Im Interview berichtet sie von den Anfängen kirchlicher Sozialarbeit, den alltäglichen Herausforderungen und Erfolgen sowie ihrer Wahrnehmung der „wilden“ 1990er Jahre.

Franziska, wie hast Du den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebt?
Ich bin im Frühjahr 1991 zu einem Kongress nach Moskau gefahren und war erschrocken, wie heruntergekommen die Stadt aussah. Kein Vergleich zu meinem Aufenthalt als Austauschstudentin Anfang der 1970er Jahre. Es war eine chaotische Zeit, aber auch eine Zeit großer Hoffnungen. Viele Menschen wirkten desorientiert. Einige verloren bei der riesigen Inflation ihr ganzes Vermögen, während andere die neuen Möglichkeiten sahen und sehr schnell sehr reich wurden. Meine russische Freundin Natalija Vysozkaja befürchtete, dass es ein Blutvergießen gäbe. Ich war anderer Ansicht. Mit Blick auf den Tschetschenienkrieg ab 1994 hatten wir letztlich beide recht.

Du hast seit 1991/92 die Entwicklungszusammenarbeit von G2W in Russland aufgebaut. Wie kam der Kontakt zu den Projektpartnern zustande?
Ich habe Anfang April 1991 als Mitarbeiterin beim Institut G2W angefangen, das sich nach der Übergabe der Institutsleitung von Eugen Voss an Erich Bryner ebenfalls in einer Umbruchsphase befand. Gleich im Mai begleitete ich Pfarrer Voss an den ersten International Andrey Sakharov Memorial Congress zum Thema „Friede, Fortschritt und Menschenrechte“ in Moskau. Noch wichtiger war das Seminar „Christlicher Dienst“ im Oktober 1991 in St. Petersburg, bei dem es um den Aufbau kirchlicher Sozialarbeit in Russland ging. Organisiert worden war es von den russisch-orthodoxen Priestern Lev Bolschakov und Alexander Stepanov sowie von französischen Nonnen des orthodoxen Klosters Bussy-en-Othe. Lev Bolschakov, der ursprünglich Kunsthistoriker und kurz zuvor zum Priester geweiht worden war, stellte an dem Seminar die Frage: Wie kann ich als Priester eine Gemeinde und Sozialarbeit aufbauen, wenn ich weder über verlässliche Hilfskräfte noch über Räumlichkeiten noch über Geld verfüge? Die Gespräche zeigten, dass sich die engagierten Personen als Organisationen organisieren mussten, damit wir sie unterstützen konnten. Das Seminar löste geradezu eine Kettenreaktion aus: Ein Jahr später wurde die Bruderschaft der hl. Anastasija der Kettenlöserin gegründet, einer der führenden Organisationen in der Arbeit mit Straßenkindern, Strafgefangenen und später auch mit Suchtkranken. Zunächst stand die Organisation unter der Leitung von Lev Bolschakov, dann von seinem Freund, Vater Alexander Stepanov. Letzterer wurde später Leiter der Abteilung für Wohltätigkeit in der Metropolie von St. Petersburg. Anwesend war auch Vladislav Nikitin, der später das „Haus der Barmherzigkeit“ für Straßenkinder ins Leben gerufen hat, das bis heute besteht. Und auch Dmitrij Ostrovskij, den man den Begründer der Drogenhilfe in St. Petersburg nennen darf.

Nach welchen Kriterien wurden Projekte aufgegleist?
Ausgangspunkt waren meine persönlichen Kontakte sowie diejenigen von G2W. Im Herbst 1991 unternahm ich eine große Rundreise bis in den Ural, bei der ich mich mit Schriftstellern, Vertretern der damaligen christlich-demokratischen Bewegung sowie Personen aus verschiedenen Kirchen (Orthodoxe, Altgläubige, Katholiken) traf. Ziel der Reise war es, sich ein gewisses Gesamtbild zu verschaffen und zu erfahren, wie wir helfen können. Dabei schälten sich zwei zentrale Aufgaben heraus: Erstens brauchten wir für unsere Arbeit eine juristische Basis in Russland. Dazu gründeten wir 1992 das G2W-Informationszentrum in Moskau, das als internationale Organisation beim föderalen Justizministerium registriert war, von dem ich auch die Arbeitserlaubnis als Generaldirektorin erhielt. Dabei half mir die Juristin Natalija Vysozkaja, die kurz zuvor den Verein „Glaube, Hoffnung, Liebe“ für die Hilfe für Strafgefangene gegründet hatte, was zu einer engen Zusammenarbeit führte.

Zweitens ging es inhaltlich um den Ansatz der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Ich war der Ansicht, dass wir primär soziale Projekte unterstützen sollten, weil die soziale Not sehr groß war. Einige G2W-Mitarbeitende meinten allerdings, wir sollten den Dienst am Wort, also über Literatur die Bildungsarbeit in den Kirchen fördern. Letztlich war das Ergebnis, dass wir in beiden Bereichen aktiv waren. Zu verschiedenen Ausbildungsstätten der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) pflegten wir sehr gute Kontakte, etwa zum Priesterseminar von Smolensk, das wir längere Zeit unterstützten.

Im Gebiet von Kostroma realisierten wir zudem ein landwirtschaftliches Vorzeigeprojekt mit einer Käserei, das auch der Eparchie gewisse Einkünfte bescheren sollte. Von solchen kirchlichen Projekten mit einer (land-)wirtschaftlichen Komponente nahmen wir jedoch bald Abstand, weil sie sich als korruptionsanfällig erwiesen. In diesem Zusammenhang hatte ich auch einen Disput mit dem damaligen Metropoliten von Smolensk, dem heutigen Patriarch Kirill (Gundjajev), der meinte, dass die Kirche Geld verdienen müsse, um den kirchlichen Wiederaufbau finanzieren zu können.

Was waren die alltäglichen Herausforderungen in der Projektarbeit in den 1990er Jahren?
Zu Beginn mangelte es vor allem an der Technik. Ein Großteil der anfänglichen Infrastruktur brachte ich aus der Schweiz mit. Zeitweilig bin ich mit 80kg nach Russland geflogen. Mit der Gründung des G2W-Informationszentrums in Moskau hatten Natalija Vysozkaja und ich Mitarbeitende: pensionierte Richterinnen und Staatsanwälte sowie ehemalige Strafentlassene und Freiwillige. Um alle zu versorgen, hatten wir eine Haushälterin, die uns täglich eine Suppe kochte. Die Mitarbeitenden waren sehr froh darüber, da sie immer wieder unter finanziellen Engpässen litten.

Viele Partnerorganisationen verstehen sich als kirchennah. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit der Russischen Orthodoxen Kirche?
Unterschiedlich. In der orthodoxen Kirche läuft ohne das Einverständnis des Bischofs nichts. Bei der Zusammenarbeit konnte man also zuerst den jeweiligen Bischof anfragen oder aber sich direkt an den Gemeindepfarrer wenden, der sich danach um den Segen des Bischofs für ein Projekt bemühte. Obwohl ich gute Kontakte zu einigen Bischöfen hatte, wählte ich meistens den letzteren Weg. Für den sozialen Dienst stellte sich oft das Problem, dass der Bischof faktisch der Eigentümer seiner Eparchie ist. Das heißt, dass er z. B. finanzielle Mittel von einem Tag auf den anderen anders einsetzen kann. Deshalb registrierten sich viele „kirchennahe“ soziale Initiativen als juristisch eigenständige Organisationen oder Bruderschaften, um größere Unabhängigkeit und Rechtssicherheit bei ihrem Handeln zu haben.

Wie hast Du den kirchlichen Aufbruch in den 1990er Jahren erlebt?
In Russland wie auch in anderen osteuropäischen Ländern war die Kirche die einzige Organisation, die in den Augen der Bevölkerung durch die Sowjetzeit nicht kompromittiert war. Deshalb suchten die Menschen – ob nun gläubig oder nicht – die Hilfe der Kirche als Hort in der Brandung. Die Kirchen wurden überschwemmt von begeisterten Neugläubigen und zufälligen Hilfesuchenden. Es herrschten ziemlich chaotische Zustände, und es bestand ein großer Bedarf, das Niveau der Neugläubigen zu heben. Daher wurden zahlreiche neue geistliche Schulen gegründet, so in Kostroma oder Smolensk, die wir mit Lehrmaterial und mit der Einrichtung von Kleindruckereien unterstützten. Es gab nämlich nur Lehrbücher aus der vorrevolutionären Zeit, aber die waren nur in Einzelexemplaren vorhanden und mussten nachgedruckt werden können.

Viele Menschen waren bald nicht nur von der Kirche, sondern auch von den Institutionen der fragilen Demokratie enttäuscht. Sie boten keine Lösung der Probleme im erhofften Ausmaß. Eigentlich waren alle mit der Situation überfordert. Und letztlich wurde spürbar, dass weder der neue Staat noch die Kirche die Würde des Einzelnen besonders hochachtet.

Du hast bereits die Organisation „Glaube, Hoffnung, Liebe“ erwähnt, die sich in der Strafgefangenenhilfe engagierte. Warum war diese besonders wichtig?
Natalija Vysozkaja war bereits zu sowjetischer Zeit als Strafverteidigerin tätig. Als sie 1990/91 zum Glauben fand, wandte sie sich an Erzpriester Fjodor Sokolov, einen sehr bekannten Geistlichen in Moskau, und fragte ihn, was sie tun soll, da sie nicht so weiterleben könne wie bisher. Sokolov antwortete ihr, dass sie etwas finden müsse, was ihrer Qualifikation entspreche. Daraufhin beschloss sie, zu Unrecht Verurteilten oder Strafgefangenen mit anfechtbaren Urteilen als Strafverteidigerin zu helfen. Dazu gründete sie die Organisation „Glaube, Hoffnung, Liebe“ (GHL), und ein Jahr später lernten wir uns kennen.

In den Anfängen stand die juristische Hilfe für Gefangene im Mittelpunkt. Außerdem korrespondierte die Organisation mit den Gefangenen über christliche und ethische Themen. Es waren Unmengen von Briefen aus Straflagern, die jeden Tag ankamen. Bis 2002 zählte GHL 17 500 Anfragen nach juristischer Unterstützung. Aufgrund gewisser Gesetzesneuerungen änderte GHL 1996 die Strategie: Nicht auf Anfragen warten, sondern auf von Gesetzesänderungen betroffene Menschen in Strafkolonien zugehen, die eine Chance auf Urteilsrevisionen hatten. So wurden beispielsweise Morde aus Notwehr neu beurteilt. In Absprache mit den russischen Strafvollzugsbehörden, die dies genehmigen mussten, fuhren die Mitarbeitenden von GHL in die Straflager und studierten dort die Akten von Gefangenen und reichten Einsprache ein, wenn dazu Anlass bestand. Innerhalb von zwölf Jahren stellte die Organisation 2 740 Revisionsgesuche. Davon wurden 674 bewilligt, Haftstrafen um 538 Jahre gekürzt und ein Todesurteil aufgehoben. GHL hat zudem wesentlich zur Einführung des bis heute geltenden Moratoriums für die Todesstrafe ab 1998 in Russland beigetragen. Das war eine bedeutende Menschenrechtsarbeit.

Im Laufe der 1990er Jahre begleitete das Institut G2W ca. 40 soziale und Bildungsprojekte in Russland (29), Belarus, der Ukraine, Armenien, Estland, Moldova und Georgien.

Unsere gegenwärtigen Projekte können Sie mit einer Spende auf das Konto des Instituts G2W (IBAN CH22 0900 0000 8001 51780) unterstützen: https://rgow.eu/projekte/aktuelle-projekte

Bild: Natalija Vysozkaja und ein Mitarbeiter beim Studium von Gerichtsakten in Straflagern im Gebiet von Kirov 1996. (Foto: Fonds GHL)

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