
Im Fadenkreuz des Kremls: Die Menschenrechtsorganisation Memorial
RGOW 12/2021
Russlands älteste und bedeutendste Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich seit über 30 Jahren der Aufarbeitung der sowjetischen Repressionen und dem Gedenken an deren Opfer widmet, ist unter starken Druck gekommen. Im November haben die russländische Generalstaatsanwaltschaft die Auflösung des Dachverbands Memorial International und die Moskauer Staatsanwaltschaft die Schließung des Moskauer Menschenrechtszentrums Memorial beantragt.
Es war zwar kein Blitz aus heiterem Himmel, der bei Memorial am 11. November in Moskau einschlug, aber in dieser Form doch unerwartet. Das Oberste Gericht der Russländischen Föderation (OG) setzte Memorial International davon in Kenntnis, dass die Generalstaatsanwaltschaft die Auflösung der Organisation beantragt habe, und dass am 25. November darüber vor dem OG verhandelt werde. Kurz danach erhielt auch das Menschenrechtszentrum Memorial die Nachricht, dass die Moskauer Staatsanwaltschaft seine Schließung fordert. Zuständig ist hier zunächst das Moskauer Stadtgericht. Eine Vorverhandlung wurde für den 23., eine zweite am 29. November anberaumt. Bei Memorial International dürfte das Verfahren kürzer ausfallen, da für eine internationale Organisation gleich das Oberste Gericht zuständig ist und bei einer Revision nur noch das Präsidium dieses Gerichts angerufen werden kann.
In beiden Fällen wurden die Verhandlungen auf Mitte Dezember vertagt, was darauf schließen lässt, dass die Auflösung zumindest nicht in einem Handstreich geschehen wird und vielleicht noch nicht alle Würfel gefallen sind. Der Menschenrechtsrat beim Präsidenten wird am 10. Dezember das traditionelle Jahrestreffen mit Präsident Putin durchführen, und es ist zu erwarten, dass dort kritische Fragen zum Verbot von Memorial gestellt werden.
Groteske Anklagepunkte
Gegen beide Verbände werden Verstöße gegen das „Agentengesetz“ ins Feld geführt, ein Gesetz, dessen Aufhebung Memorial von Anfang an kategorisch gefordert hat. Nach diesem 2012 in Kraft getretenen Gesetz gelten nicht-kommerzielle Organisationen, die finanzielle Förderung aus dem Ausland erhalten und politisch tätig sind, als „ausländische Agenten“. Dieser Begriff wird in Russland mit Spionagetätigkeit konnotiert und weckt Assoziationen an die Säuberungen der 1930er Jahre. Die betroffenen Vereine unterliegen einer verschärften Rechenschaftspflicht und müssen all ihre Publikationen mit einem entsprechenden Vermerk versehen. Welche Veröffentlichungen genau dieser Kennzeichnungspflicht unterliegen, wurde indes nie genau geklärt (s. RGOW 4–5/2015, S. 44–45).
Bis 2019 kam es gegenüber Memorial zwar zu zahlreichen Schikanen, Überprüfungen, medial orchestrierten Attacken auf Veranstaltungen, übelsten Propaganda-Fernsehsendungen, aber wegen der fehlenden Markierungen gab es keine Beanstandungen. 2019 änderte sich das schlagartig. Aufgrund von Anzeigen des FSB in Inguschetien wurden Memorial International und in geringerem Ausmaß auch das Menschenrechtszentrum mit Strafbescheiden überzogen und zu horrenden Geldstrafen verurteilt – für jede nicht gekennzeichnete Internet-Seite oder Mitteilung bei Facebook, Twitter usw. wurden sowohl die Organisation als auch die Vorsitzenden in Ordnungsverfahren zur Rechenschaft gezogen. Der vorläufig letzte Vorfall in dieser Reihe fand im Herbst 2020 statt und betraf Bücher, die auch nach dem „Agentengesetz“ nicht hätten gekennzeichnet werden müssen, weil sie vor 2016 – bevor Memorial International als Agent verzeichnet wurde – erschienen waren.
Sämtliche geforderten Markierungen wurden angebracht und alle Geldstrafen entrichtet, die Mittel kamen durch erfolgreiches Crowdfunding zusammen. Es handelt sich also rechtlich um Ordnungswidrigkeiten, die bereits geahndet und behoben wurden und inzwischen fast alle verjährt sind. Genau diese Fälle werden gegen die beiden Memorial-Verbände als Beleg dafür angeführt, dass sie vorsätzlich nicht nur gegen russische Gesetze verstoßen, sondern darüber hinaus gegen internationale Menschenrechtspakte, darunter die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Begründet wird dies damit, dass Memorial das Recht auf Information verletze und dem Lesepublikum vorenthalte, dass eine Mitteilung von einem „ausländischen Agenten“ stamme.
Dem Menschenrechtszentrum wird darüber hinaus die Unterstützung von Extremismus und Terrorismus zur Last gelegt, da sich in der seit 2008 geführten Liste politischer Gefangener auch Mitglieder von Organisationen finden, die in Russland als „extremistisch“ oder „terroristisch“ verboten sind. Das betrifft vor allem die Zeugen Jehovas und Hizb ut-Tahrir. Das Menschenrechtszentrum weist zwar ausdrücklich darauf hin, dass es die Ansichten der in den Listen aufgeführten Personen nicht teilt, aber das wird tunlichst ignoriert. Die Klage gegen das Menschenrechtszentrum stützt sich in diesem Punkt auf ein „psycholinguistisches“ Gutachten vom 3. Dezember 2020. Dieses wurde innerhalb nur eines Tages von zwei Autoren des Zentrums für soziokulturelle Expertisen erstellt, die für ihre Urteile im Sinne ihrer staatlichen Auftraggeber bekannt sind (z. B. im Fall Pussy Riot).
Neue Perspektiven
Warum der Schlag gegen Memorial gerade jetzt geführt wird, ist weitgehend Spekulation. Angesichts der in diesem Jahr wieder aufgeflammten Proteste nach der Inhaftierung Alexej Navalnyjs ist es der Regierung ohne Zweifel daran gelegen, alle Reste und Keime solcher Bewegungen zu ersticken. Die Vernichtung der größten und in ganz Russland verzweigten Menschenrechtsorganisation wäre ein unmissverständliches Signal an kleinere Gruppen mit ähnlicher Zielsetzung, dass ihnen in Russland Strafverfolgung droht und es für sie dort keine Perspektive gibt.
Diese Rechnung dürfte aber nicht aufgehen. Hier kommt Memorial seine dezentrale Entstehungsgeschichte mit der landesweiten Bildung unterschiedlichster Initiativen Ende der 1980er Jahre zugute. Sie alle verband das gemeinsame Ziel, der Opfer politischer Verfolgungen in der Sowjetunion zu gedenken, diese Geschichte zu erforschen und darüber aufzuklären sowie eine Wiederholung auszuschließen, also sich für die Einhaltung der Menschenrechte einzusetzen. Die regionalen Verbände, die damals und später entstanden, werden bestehen bleiben, und die im Ausland ohnehin. Memorial-Aktivisten werden sich weiter engagieren, alternative Strukturen und Organisationsformen entwickeln – gestützt auf die unverkennbare breite Solidarität, die sich in den letzten Wochen eindrücklich gezeigt hat, gerade auch in Russland selbst.
Vera Ammer, Dr., Mitglied von MEMORIAL Deutschland und im Vorstand von MEMORIAL International (memorial.de).