Einseitiger Einheitswunsch – Putins neuste Geschichtslektion
RGOW 9/2021
Mit Bezug auf eine tausendjährige gemeinsame Geschichte beschwört Vladimir Putin in seiner jüngsten geschichtspolitischen Intervention die Einheit zwischen Russland und der Ukraine. Seine einseitige Argumentation entstammt direkt der nationalistischen Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts.
Er hat es schon wieder getan. Nur wenige Monate, nachdem Vladimir Putin in einem Aufsatz seine Sicht auf den Zweiten Weltkrieg dargelegt hat,[1] ist im Juli ein weiterer historischer Artikel unter dem Namen des Präsidenten erschienen. Dieses Mal belehrt Putin seine Leserschaft „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Publiziert wurde der Artikel auf der Website der Präsidialadministration auf Russisch, Englisch und – dies kann wohl nur als besonders dreistes Trolling verstanden werden – auch auf Ukrainisch.[2] Wer ihn wirklich geschrieben hat, darüber lässt sich nur spekulieren. Interessant ist der Text aber als Ausformulierung einer außenpolitischen Doktrin der Putin-Regierung und als Beispiel für die eindrückliche Beharrungskraft geschichtspolitischer Diskurse.
Russland und die Ukraine, erläutert Putin, seien Teile „desselben historischen und spirituellen Raums“, die aktuelle Zwietracht bloß die Schuld ukrainischer Fanatiker und ausländischer Mächte. Es folgt eine wenig überraschende Aufzählung historischer Stationen, welche die Verbundenheit zwischen Russland und der Ukraine über mehr als tausend Jahre demonstrieren sollen: Kiew als Hauptstadt der mittelalterlichen Rus’ und „Mutter der Russischen Städte“; der gemeinsame orthodoxe Glaube als verbindendes Element in Zeiten politischer Spaltung; die „Wiedervereinigung“ im Vertrag von Perejaslav, der 1654 die ukrainischen Kosaken unter Bohdan Chmelnytskyj dem russischen Zaren unterstellte; die Integration der kosakischen Elite in den russländischen Adel; die fortschrittliche Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion; schließlich gar das Beispiel Chruschtschovs und Breschnevs, deren Karrieren sie aus der Ukraine in den Kreml führten.
Leerstellen und einseitige Interpretationen
Nun kann man sehr wohl die Leerstellen in Putins Geschichtslektion kritisieren, wie es viele ukrainische, russische und westliche Historiker*innen bereits getan haben. Man kann etwa darauf hinweisen, dass die Ukraine neben der Geschichte, die sie mit Russland teilt, auch eine andere Geschichte hat. So gehörte etwa die Region Galizien, heute im Nordwesten der Ukraine, ab dem 14. Jahrhundert zum Großfürstentum Litauen, danach zur polnisch-litauischen Adelsrepublik, war von 1772 bis zum Ersten Weltkrieg österreichisch und fiel nach dem Krieg wieder an die neu gegründete Polnische Republik. Die 45 Jahre der Sowjetherrschaft waren somit für eine Stadt wie Lemberg (Lviv) ein eher kurzes Intermezzo in einer Geschichte, die ansonsten von engen Beziehungen zum katholischen Zentraleuropa geprägt wurde.
Auch die einseitige Interpretation einzelner Ereignisse im Text lässt sich leicht zerpflücken. Alle Episoden russisch-ukrainischer Gemeinsamkeit stellt Putin als natürliche Entwicklungen dar, alle historischen Konflikte als Resultat äußerer Einmischung ohne Unterstützung aus der Bevölkerung. Die ukrainische Nationalbewegung im 19. Jahrhundert war laut Text kaum mehr als eine polnische Intrige; die Formierung einer nationalistischen Regierung 1917 ohne deutsche Unterstützung undenkbar. Die heutige Ukraine ist für Putin „vollständig das Produkt der Sowjetzeit“, durch die Bolschewiki dem russischen Staat entrissen. Putin bezieht sich damit auf die Gründung einer eigenen Ukrainischen Sowjetrepublik innerhalb der UdSSR, die tatsächlich das ukrainische Territorium erstmals dauerhaft konsolidierte. Jedoch ist es ziemlich irreführend, die Handlungen der Moskauer Sowjetregierung als „Raub“ an Russland darzustellen. Gleichzeitig bezeichnet Putin die Ukraine als aggressives „Anti-Russland“, das auf den Ideen „polnisch-österreichischer Ideologen“ aus dem 19. Jahrhundert beruhe und sich nur aufgrund westlicher Umtriebe von Russland entfremdet habe. Selbstverständlich sehen dies die meisten Historiker*innen in der heutigen Ukraine anders und betonen stattdessen die wiederkehrenden Bestrebungen des ukrainischen Volkes nach Selbständigkeit, sei es während der Kosakenkriege im 17. Jahrhundert, in den verschiedenen Staatsbildungsversuchen der Revolutionsjahre (s. RGOW 4–5/2017, S. 13–15) oder in jüngster Vergangenheit (s. RGOW 4–5/2019).
Auch das Gegenteil ist nicht wahrer
Doch wenn man so argumentiert, fängt man bereits an, sich auf die Weltsicht des Putin-Artikels einzulassen. Denn wer beweisen will, dass die Russ*innen und Ukrainer*innen zwei verschiedene „Völker“ sind, denkt genau wie Putin (oder sein Ghostwriter) in historisch unbrauchbaren nationalistischen Kategorien. Dass Nationen keine historisch permanenten Kollektive sind, sondern bewusst imaginiert und konstruiert werden, ist bereits seit Jahrzehnten wissenschaftlicher Konsens.[3] Die neuere Nationalismusforschung geht noch einen Schritt weiter und verwirft schon die Annahme, Nationen seien real existierende und objektiv beschreibbare Gruppen. In der jüngsten Literatur wird die Nation eher als Denkkategorie denn als handelndes Kollektiv gesehen. Man sollte sich also nicht fragen, wann eine Nation „entstand“ und ob sie heute „existiert“, sondern wer ihre Existenz wann postulierte, und ob die Vorstellung dieser Nation politische Wirkmacht entfaltet.[4]
In diesem Sinne wäre es genauso unhistorisch, wenn man gegen Putin zu beweisen versuchte, dass die Ukrainer*innen sich historisch als ein eigenständiges Volk formiert hätten. Es ist in diesem Fall gar nicht möglich, der russischen oder der ukrainischen Seite ultimativ Recht zu geben. Nationalist*innen beider Seiten versuchen, das vorhandene historische Material durch einseitige Interpretation für ihr eigenes Nationsbildungsprojekt nutzbar zu machen. Dagegen zeigt die historische Forschung, dass sich ein Großteil der slawischen Bevölkerung in der Ukraine bis ins 20. Jahrhundert hinein am ehesten mit ganz anderen Kollektiven identifiziert haben dürfte: etwa mit religiösen Gemeinschaften, mit imperialen Staaten, aber wohl am meisten mit der unmittelbar erlebten Dorfgemeinschaft. Erst im 20. Jahrhundert definierten sich unter dem Einfluss von Staat und Massenkultur große Teile der Bevölkerung zunehmend national, wobei sich viele als Ukrainer*innen, manche (gerade in den industriellen Zentren) aber auch als Russ*innen zu sehen begannen.
All dies spricht natürlich nicht gegen die unabhängige Staatlichkeit der heutigen Ukraine. Denn auch in Russland erfolgte die (Selbst-)Nationalisierung der Massen erst spät und selbst für die vermeintliche Musternation Frankreich konnte längst nachgewiesen werden, dass sich außerhalb der städtischen Eliten noch im späten 19. Jahrhundert nur wenige als Franzosen und Französinnen identifizierten.[5] Hingegen zeigen die politischen Ereignisse und die Wahlergebnisse der letzten zehn Jahre ohne jeden Zweifel, dass ein Großteil der ukrainischen Bevölkerung die Unabhängigkeit des Landes befürwortet und auf keinen Fall eine Vereinigung mit Putins „Russischer Welt“ wünscht. Vor diesem Hintergrund ist es so bizarr wie verständlich, dass Putins Regierung im Kampf um die Deutungshoheit auch 2021 noch auf historische Argumente zurückgreift, wie sie in der Blütezeit der nationalistischen Geschichtsschreibung üblich waren.
Altgediente Argumente
Die historischen Beispiele in Putins Artikel sind alles andere als neu. Die meisten davon entstammen aus Debatten, die im Russländischen Reich schon im 19. Jahrhundert geführt wurden. Damals begannen ukrainische Intellektuelle, die sog. Ukrainophilen, das Kulturerbe ihrer Region in einem nationalen Sinn zu deuten und das Bild einer eigenständigen ukrainischen Nation zu entwerfen, die sich unabhängig von den (Groß-)Russen entwickelt habe. Konservative Unterstützer des imperialen Staats – einige von ihnen selbst aus der Ukraine gebürtig – vertraten dagegen die These einer „dreieinigen russischen Nation“. Diese setze sich zwar aus drei Zweigen zusammen, die durchaus einige kulturelle Eigenheiten bewahrt hätten: den Großrussen, den Weißrussen und den Kleinrussen (der damals gängige Begriff für die slawische Bevölkerung der Ukraine, der auch bei Putin wieder auftaucht). Doch ihre Gemeinsamkeiten seien stärker als die Unterschiede und eine ostslawische Staatlichkeit sei nur im Verband denkbar.[6] Die Idee der dreieinigen Nation kann man als letztlich erfolglosen Versuch verstehen, die zunehmend populäre Rhetorik des Nationalismus auf die Bedürfnisse eines imperialen Staats zuzuschneiden.
Vor und während des Ersten Weltkriegs entwickelte sich in der Ukraine eine erbitterte Konkurrenz zwischen ukrainischen und russischen Nationalisten, wobei letztere vor allem in Kiew mehrfach Wahlerfolge feierten. Mitglieder des Kiewer russisch-nationalen Milieus verfassten in dieser Zeit hunderte von Artikeln und Broschüren, um die unausweichliche Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland nachzuweisen. Diese hundert Jahre alten Pamphlete dürften dem Autor (bzw. der Autorin) des Putin-Artikels zumindest indirekt bekannt gewesen sein, denn der Argumentationsverlauf unterscheidet sich kaum. So findet sich beispielsweise im Putin-Artikel auch der damals beliebte und durchaus richtige, aber politisch völlig irrelevante Hinweis, das Wort „Ukraine“ habe ursprünglich allgemein eine Grenzregion, keine spezifische Nationalität bezeichnet. Der gebürtige Kiewer und russische Nationalist Vasilij Schulgin schrieb etwa 1918: „‚Ukrainer‘ […] bezeichnete immer die Bevölkerung, die im Grenzland lebte.“[7] Und im Putin-Artikel von 2021 heißt es: „Das Wort ‚Ukrainer‘ bezeichnete laut Archivquellen ursprünglich die Leute im Grenzdienst, welche die Verteidigung der äußeren Grenzen sicherstellten.“
Auch die Weiterentwicklung des russischen Ukrainediskurses in der Sowjetzeit spiegelt sich im Artikel wider. Anders als das Zarenreich klassifizierte der Sowjetstaat seine Bevölkerung nach Nationalitäten und sorgte so dafür, dass jedes Individuum sich offiziell einer Nationalität zugehörig fühlen musste. Auch die Ukrainer wurden als eines der konstituierenden Völker der UdSSR anerkannt; die ukrainische Sprache, zuvor gegängelt, wurde nun vom Staat gefördert und in den Schulen unterrichtet.[8] Freilich ging dies nicht mit politischer Autonomie für die ukrainische Sowjetrepublik einher; entsprechende Versuche unterdrückte die Moskauer Führung hart. Ab der Stalinzeit kristallisierte sich dann die Vorstellung zweier zwar verschiedener, aber doch für immer verbundener „Brudervölker“ heraus, symbolisiert durch den schon erwähnten Vertrag von Perejaslav, dessen dreihundertstes Jubiläum 1954 mit viel Pomp gefeiert wurde. Diese Rhetorik klingt auch im Putin-Artikel an, wenn behauptet wird, Russland habe alles getan, um den „Brudermord“ im jüngsten Ukraine-Konflikt abzuwenden.
Drohung oder Nebelpetarde?
Es bleibt die Frage nach der Motivation für die Publikation dieser einseitigen Geschichtslektion, und dies zu einem Zeitpunkt, da der Ukraine-Konflikt außerhalb des Landes längst aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Um eine Intervention in einer akademischen Debatte geht es selbstverständlich nicht. In den ukrainischen Medien herrscht die Interpretation vor, es handle sich um eine weitere Episode von Putins hybridem Krieg gegen die Ukraine, mit dem Ziel, die russischen Aggressionen der letzten Jahre durch Einheitsrhetorik zu verschleiern.[9] Der liberale russische Journalist Konstantin Eggert interpretiert den Artikel gar als „Freibrief, den Putin sich selbst ausgestellt hat“, um die unabhängige Ukraine weiter zu bekämpfen, möglicherweise gar als Warnung vor einer erneuten Invasion.[10]
Angesichts der jüngsten russischen Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze sind diese Befürchtungen nicht unbegründet. Es ist allerdings auch denkbar, dass es sich bei Putins Ukraine-Text um eine der vielen Nebelpetarden handelt, für die seine Propaganda-Abteilung bekannt ist. Möglicherweise war ihr Hauptzweck, bei der ukrainischen Regierung und ihren westlichen Alliierten möglichst viel Verwirrung und Unruhe zu stiften und daneben bei der nationalistischen Klientel im eigenen Land zu punkten – während Putin selbst sich um wichtigere Geschäfte wie die neue Gaspipeline „Nord Stream 2“ kümmert.
Die offizielle Ukraine reagierte zumindest nach außen unaufgeregt auf die Provokation. Präsident Zelenskyj kommentierte die Veröffentlichung des Texts ironisch: „Russlands Präsident fängt schon an, auf Ukrainisch zu schreiben. Wir machen also alles richtig. Ich bin bloß etwas neidisch, dass der Präsident einer Großmacht sich erlauben kann, Zeit für eine so detaillierte Arbeit aufzuwenden.“[11]
Anmerkungen:
[1]) https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ueberfall-auf-die-sowjetunion-1941-europa-russland-geschichte-wladimir-putin/komplettansicht.
[2]) http://en.kremlin.ru/events/president/news/66181 (Englische Version).
[3]) Exemplarisch: Anderson, Benedict: Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Nationalism. London 1983.
[4]) Brubaker, Rogers: Ethnicity without Groups. Cambridge, MA 2004.
[5]) Weber, Eugene: Peasants into Frenchmen. Stanford 1976.
[6]) Miller, Alexei: The Ukrainian Question: The Russian Empire and Nationalism in the Nineteenth Century. Budapest 2003; Hillis, Faith: Children of Rus’: Right-Bank Ukraine and the Invention of a Russian Nation. Ithaca 2013.
[7]) Šul’gin, V. V.: «Belye mysli»: publicistika 1917–1920 gg. Moskau 2020, S. 395.
[8]) Martin, Terry: The Affirmative Action Empire: Nations and Nationalism in the Soviet Union, 1923–1939. Ithaca 2001.
[9]) https://www.radiosvoboda.org/a/putin-stattia-odyn-narod/31354996.html.
[10]) https://www.dekoder.org/de/article/putin-ukraine-aufsatz.
[11]) https://www.radiosvoboda.org/a/putin-stattia-odyn-narod/31354996.html.
Fabian Baumann, Dr. des., SNF-Stipendiat und Postdoktorand an der University of Chicago.
Bild: Ansprache von Präsident Volodymyr Zelenskyj am 24. August 2021 zur 30-Jahr-Feier der Unabhängigkeit der Ukraine. (Foto: president.gov.ua)