Zum Hauptinhalt springen

Das Ethos der Ikone in Kriegszeiten

RGOW 11/2022
Lidiya Lozova

Die Verwundungen des Krieges in der Ukraine seit 2014 spiegeln sich auch in der Ikonografie wider. So kommen neuartige Materialien, etwa Deckel von Munitionskisten, neue Sujets und Ausstellungspraxen zum Einsatz. Verschiedene Initiativen sammeln mit dem Verkauf von Ikonen oder ikonenartiger Darstellungen Geld für humanitäre Zwecke oder auch für Kriegsmaterial. So erhalten Ikonen in der Ukraine heute eine neue sozial aktive Funktion.

Ikonenmalerei ist der erkennbarste visuelle Ausdruck der orthodoxen Tradition. Aus Sicht dieser Tradition bezeugt die Ikone die Realität von Gottes Inkarnation und des Bildes Gottes in jedem von uns und zeigt einen verklärten Zustand des Menschen und der Welt – den „Himmel auf Erden“ –, wo Schönheit, Wahrheit und Güte zusammenfallen. In der Betrachtung der Ikone ist der Gläubige eingeladen, sich dieser Welt anzuschließen. Oft wirkt die Ikone so weit vom „echten Leben“ entfernt, dass sie nichts mit der aktuellen konkreten gesellschaftlichen und politischen Realität mit all ihren ethischen Herausforderungen zu tun zu haben scheint. Das orthodoxe Ethos wird dabei oft mit der mystischen apophatischen Tradition assoziiert, die „kataphatische“ Aussagen über aktuelle soziale Themen vermeidet.[1]

Allerdings zeigt heute die Gleichgültigkeit eines großen Teils der globalen orthodoxen Gemeinschaft in Bezug auf die russische Aggression in der Ukraine, dass ein solcher spiritueller „Apophatismus“ sich in „skandalöse Stille“[2] verwandeln und schreckliche Ungerechtigkeit globalen Ausmaßes gelten lassen kann. Am 13. März 2022, am Sonntag der Orthodoxie, der an den historischen Sieg der Bilderverehrung über den Ikonoklasmus im 9. Jahrhundert erinnert, überreichte der russische Patriarch Kirill der Nationalgarde eine Muttergottesikone aus dem Ersten Weltkrieg und segnete damit praktisch die militärische Aggression seines Staats gegen die Ukraine.

Gleichzeitig kratzen gefangene Ukrainer in den besetzten Landesteilen Ikonen auf die Wände russischer Folterkammern,[3] die an diejenigen Stalins erinnern. Vor diesen Ikonen beten sie für die Befreiung vom russischen orthodoxen Feind. So beginnen heute sogar Ikonen – direkt oder indirekt – zu sprechen und werden – freiwillig oder nicht – in die sozio-politische Konfrontation verwickelt. Mit Fokus auf die Ukraine werde ich dazu einige zentrale Beispiele analysieren. Hauptsächlich handelt es sich um experimentelle Ikonen von individuellen Kunstschaffenden oder Bilder mit Ikonenelementen, die sich auf den aktuellen Krieg beziehen und in der ukrainischen Kunst- und Medienszene zirkulieren. Um ihr Ethos dem aktuellen russischen sozio-ethischen Mainstream gegenüberzustellen, werde ich auch eine Ikone aus dem russischen Kontext betrachten.

Zwei Mandylion-Ikonen mit unterschiedlichem Ethos
Der Kyjiwer Ikonenschreiber Oleksandr Klymenko hat 2015 die Ikone „Erlöser nicht von Hand gemacht“ (Mandylion oder Heiliges Gesicht) als Teil des Projekts „Ikonen auf Munitionskisten“ geschaffen, das er und seine Frau Sonia Atlantova seit 2014 verfolgen. Damals besuchte Klymenko ein ukrainisches Bataillon im Donbass und war überrascht, wie sehr die Bretter von Munitionskisten für Kalaschnikow-Patronen aus der Sowjetzeit Ikonenbrettern glichen. Seither hat das Paar viele Ikonen auf solche Bretter gemalt, die nicht nur in Kirchen, sondern auch in Galerien und öffentlichen Räumen in der Ukraine, Europa und Amerika (an rund 100 Orte) ausgestellt wurden. Zunächst bezeugten diese Ikonen den Krieg in der Ostukraine,[4] und seit Februar 2022 bezeugen sie die umfassende russische Invasion.

Die Ikone des Gesichts des Erlösers ist für die Ikonographie prototypisch und das Schlüsselargument für die Ikonenverehrung: Der orthodoxen Tradition zufolge hinterließ Jesu Gesicht auf dem Tuch wundersam einen Abdruck, mit dem er sein Gesicht abwischte, um es dem syrischen Herrscher von Edessa zu geben, der dadurch geheilt wurde; höchstwahrscheinlich geht diese Geschichte auf das Grabtuch von Turin zurück. Zugleich offenbart sie das Paradox der Kombination der traditionellen byzantinischen Erlöser-Ikonographie mit Objekten, die mit Kriegsgewalt zusammenhängen. Das Brett, das für Waffen benutzt worden war, ist nicht hinter sauberen Schichten von Gesso und Olifa-Lack versteckt; das Gesicht, das auf dem Holz erscheint, weist Spuren von Schäden, Risse, Überbleibsel von Metall auf. Es ist auf einen schmucklosen Hintergrund gemalt, ohne Hinweis auf das Tuch, wie bei den ältesten Ikonen dieses Typs. Der Heiligenschein des Kreuzes ist nicht dargestellt, sondern nur mit blauen, mit den Fingern gezogenen Streifen an den drei Seiten des Kopfs angedeutet; darauf sind statt der traditionellen Buchstaben ѺѾН (der Eine, der ist) mit Kohle schwarze Punkte eingebrannt. Das Brett ist mit einem einfachen Ornament von roten Punkten dekoriert, ebenfalls Fingerabdrücke des Künstlers.

Das ist das Gesicht Gottes, der sich nicht in einer großartig dekorierten Kirche offenbart, sondern dort, wo am meisten gelitten wird und wo man ihn braucht – direkt, einfach und wirklich fassbar. Das Holz der Munitionskiste erinnert an das Kreuz, das Instrument zur Ermordung Christi und zugleich das Zeichen seines Siegs über den Tod, das die menschliche Verletzlichkeit nicht aufhebt und sie nicht verschweigt. Das Projekt leugnet nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit der militärischen Verteidigung gegen den Feind und trägt – laut den Autoren – zum Sieg der Ukraine bei; allerdings versteckt es weder das reale Leid (sowohl des Militärs als auch der Zivilisten) im Krieg noch das Bedürfnis nach Heilung. Es scheint den tiefen Frieden zu bieten, den alle suchen, indem es mit den Menschen in ihrem konkreten Hier und Jetzt ist. Das Projekt ist ungewöhnlich, da es die kontemplative östliche Ikone mit direkter sozialer Teilnahme verbindet: es zielt auf die physische Rettung von Menschen, es fördert christliche und gesellschaftliche Solidarität, die konfessionelle Grenzen überwindet. Denn das Geld aus dem Verkauf dieser Ikonen wird einem mobilen Freiwilligenkrankenhaus gespendet, das seit 2014 tausenden verwundeten Ukrainern geholfen hat.[5]

Um die Besonderheit des Ethos von Klymenko-Atlantovas „Erlöser“ besser zu verstehen, ist es hilfreich, die ethische Botschaft eines anderen „Erlösers“ zu untersuchen: der Hauptikone der Auferstehungskirche – der Hauptkathedrale – der Streitkräfte Russlands in Moskau, die 2020 zum Gedenken an den 75. Jahrestags des Siegs im „Großen Vaterländischen Krieg“ errichtet wurde. Beim Bau der Kirche wurden militärische Objekte integriert, so sind die Treppen aus einer Legierung gemacht, die geschmolzene Teile von deutschen Panzern aus dem Zweiten Weltkrieg enthält. Auch die Zahlensymbolik der Maße der Architekturelemente wird vom Militär vorgegeben: die Höhe des Glockenturms beträgt beispielsweise 75 Meter, um an den 75. Jahrestag des Sieges zu erinnern. Das Narrativ der Auferstehung fällt hier fast mit dem Narrativ der sowjetisch-russischen Militärgeschichte (inklusive Russlands jüngster Militärinterventionen) zusammen, die als orthodox dargestellt wird. Das Mandylion wurde als Hauptikone dieser Kirche gewählt, weil es im 13. Jahrhundert auf den Fahnen des Feldherrn Alexander Nevskij in einer militärischen Auseinandersetzung dargestellt war. Die Ikone wurde auf Holzplatten des Wagens einer gusseisernen Kanone aus der Zeit des Großen Nordischen Kriegs im frühen 18. Jahrhundert gemalt, der vom Grund des Flusses Neva geborgen worden war; die Platten wurden mit Metallteilen des gleichen Wagens und Holzteilen eines Mosin-Nagant (Mosin-Gewehrs) aus dem Zweiten Weltkrieg befestigt. Die Ikone ist von künstlerischen Metallreliefs umgeben, die die berühmtesten Muttergottes-Ikonen Russlands darstellen, die Szenen bedeutender Ereignisse aus der russischen Staatsgeschichte überblicken.[6]

Im Gegensatz zur Information über militärische Objekte ist der Name des Künstlers nirgends angegeben. Der Blick des Betrachters wird vielmehr von der Großartigkeit und dem reichen Dekor des massiven portablen Bronzeschreins (100kg) angezogen, der komplett auf Kosten von Vladimir Putin hergestellt wurde und dessen Zentrum die Ikone einnimmt. Das Paradox der Verbindung von ikonischen Bildern und Objekten der Gewalt ist hier völlig versteckt: Wenn wir nichts über den Wagen und das Gewehr erfahren hätten, hätten wir nie erraten, dass sie in die Struktur eingebaut sind. Die Ikone selbst verschmilzt farblich mit der sorgfältig gearbeiteten reichen Bronzekonstruktion, die das „notwendige“ Leiden aufzulösen scheint, das der Krieg im Narrativ des sowjetisch-russischen militärischen Triumphalismus mit sich bringt. Die Wunden des Kriegs sollen nicht sichtbar sein.

Militärische Elemente in der Ikonografie
Seit 2014 sind in der Ukraine ikonische Bilder auf Objekten, die mit Gewalt und Krieg verbunden sind, ein künstlerischer und gesellschaftlicher Trend geworden. Anders als der „Erlöser“ aus der Kathedrale der russischen Streitkräfte betonen die meisten von ihnen die Wichtigkeit der menschlichen Person, Würde, Rechte und Freiheiten, Verletzlichkeit, Mitgefühl, Solidarität in der Gesellschaft und stellen sich gegen Gewalt. 2014 beherbergte das Michaelskloster in Kyjiw den ersten internationalen Ikonenschreib-Workshop „Eleos“[7], der gemeinsam von der Stiftung „Eleos-Ukaine“ in Kyjiw (angegliedert an die Abteilung für Sozialen Dienst der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU)) und der polnischen Ikonenschreibwerkstatt St. Lazarus in Opole organisiert worden war. An der Ausstellung wurden Ikonen neben militärischen Objekten aus dem Kriegsgebiet gezeigt. Um „eine tödliche Waffe in eine Waffe des Gebets zu verwandeln“, malte der polnische Ikonenschreiber Michal Ploski das Mandylion-Bild auf Pflastersteine,[8] die als Waffen oder zur Errichtung von Barrikaden während der Revolution der Würde auf dem Majdan in Kyjiw 2014 benutzt worden waren. Der Leiter von Open-Air-Ikonen-Veranstaltungen, der katholische polnische Ikonenschreiber Hubert Kampa, schreibt nun expressive Ikonen auf Bretter von Munitionskisten aus Mariupol und verkauft sie, um Geld zur Hilfe der Ukraine zu sammeln.[9]

Die sozio-ethische Position der Ikone offenbart sich nicht nur durch die Materialien und die Ausstellungs- und Verbreitungspraxis, sondern auch in der Ikonografie selbst. Zu Beginn der russischen Invasion schuf die Werkstatt „Himmel auf Erden“ (Mykolajv-Kyjiw) die Ikone „Die Geißelung Christi“. Verwurzelt in den ukrainischen „Passionsikonen“, stellt sie Vladimir Putin und Patriarch Kirill als Folterer von Christus dar.[10] Später schrieb die Werkstatt auch „Die Klage von Jesus Christus für die Ukraine“[11], auf der das Gesicht Christi (in der westlichen Ikonografie „Tuch der Veronika“ mit einer Dornenkrone) über Szenen russischer Verbrechen in ukrainischen Städten erscheint.

Die russische Belagerung Mariupols veranlasste einige ukrainische Kunstschaffende, Variationen der „Mariupol“-Gottesgebärerin zu schaffen. Zu den am offensten „politischen“ zählt die „Mariupol-Muttergottes“ in gelb und blau von Snizhana Kapitanska aus Kyjiw in der Ikonografie der „Jungfrau der Sieben Pfeile“, deren Herz von russischen Raketen mit dem Buchstaben Z statt von Pfeilen durchbohrt wird.[12] Eine Reflexion der traditionellen Ikonografie ist das Bild „Schutz der Gottesgebärerin“ von Maksym Palenko aus der Region Dnipropetrovsk.[13] Hier wird der Körper der Gottesmutter aus Azovstal-Metallstrukturen gebildet; mit ihrem Maphorion, wie in der Ikonografie der Madonna Misericordia, beschützt sie die Azov-Soldaten vor Bomben, die als traditionelle dekorative Blumen dargestellt sind und diese ersetzen. Die expressive rot-schwarze Gottesmutter in der zarten Ikonographie der Eleusa von Ivanka Krypiakevych-Dymyd aus Lviv mit der Inschrift Mista nema Ammore zostalos (Die Stadt ist weg, aber das Meer [von Azov] bleibt) statt des traditionellen „Muttergottes“, besticht durch die Tiefe des Mitgefühls und die Hoffnung.[14]

Inspiriert von ikonografischen Themen, erscheinen Kriegsbilder, Schmerz, Wut, Würde, Solidarität und Freiheit in den Arbeiten junger Kunstschaffender aus Lviv, die an der Abteilung für sakrale Kunst der Kunstakademie von Lviv studieren. Zu ihnen zählt beispielsweise Danylo Movchan, der anstatt von Ikonen nun unheimliche Aquarelle schafft, von denen viele auf traditionelle ikonografische Sujets verweisen.[15] Oder Ulyana Krekhovets, die eine Art Chronik des Kriegs im Stil von Ikonen malt, und Ulyana Nyshchuk, die den Stil ukrainischer volkstümlicher Ikonen kreativ interpretiert.[16]

Experimentelle Ikonen
Die Kriegszeit schafft auch die Bedingungen für alternative sozio-ethische Kontexte von Ikonen. Im August und September 2022 beherbergte die Sophienkathedrale in Kyjiw die Ausstellung „Gesichter der Freiheit“, die der Kriegserfahrung in der Ukraine und der Suche nach spiritueller Heilung von der Grausamkeit der russischen Besatzer gewidmet war.[17] Der Titel bezog sich auf eine Ausstellung von 2015 über die Revolution der Würde 2013/14. Dabei waren zeitgenössische Ikonen zu sehen, die von traditionell bis radikal experimentell gingen und Schmerz bis hin zu militanten Gefühlen ausdrückten.[18] Bereits diese Pluralität zeigt, dass die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks Teil des ukrainischen Ethos ist. Während der Erlös aus dem Verkauf von Klymenkos und Atlantovas Ikonen an ein Militärkrankenhaus geht, begann der Kurator dieser Ausstellung, der Ikonenschreiber und Sakralkünstler Dmytro Hordytsia aus Kyjiw, seine „Ikonen für Munition“-Kampagne im September 2022.[19] Er lädt Menschen ein, seine Ikonen – meist sehr dramatisch in Form und Farbe – zu kaufen, um Geld für die Ausrüstung ukrainischer Scharfschützen zu sammeln; das ist Teil einer gesellschaftlichen Fundraising-Kampagne, die der Kyjiwer orthodoxe Theologe Yuriy Chornomorets lanciert hat. Offensichtlich besteht in diesem Fall die theologische Gefahr, die Ikone auf eine Kriegswaffe zu „reduzieren“, obwohl es auch ein Versuch ist, die Zivilgesellschaft durch Ikonografie zu solidarisieren.

Im Frühling 2022 löste die Ikonografie des Memes „Heilige Javelina“, die im Mai 2022 als Wandmalerei auf einem Wohnhochhaus in Kyjiw auftauchte,[20] in der Ukraine eine ethische Kontroverse aus. Das Meme wurde vom Journalisten Christian Borys erfunden, der die „Madonna der Kalaschnikow“ von Chris Shaw kreativ neu interpretierte. Sie stellt eine stilisierte Muttergottes dar, die statt Christus-Emmanuel ein Javelin-Panzerabwehrsystem in ihren Händen hält; ihre dunkelgrüne Kleidung gleicht einer Militäruniform. Anfangs stellte das Wandbild sie mit einem roten Heiligenschein dar, aber wegen des Protests des Allukrainischen Rats der Kirchen und religiösen Organisationen wurde er später zu blau und gelb umgewandelt, um symbolisch die Ukraine darzustellen statt die Gottesgebärerin. Doch trotz des militanten Charakters des Bildes brachte das originale Meme von Christian Borys, aufgedruckt auf verschiedene Accessoires, in den ersten Kriegstagen mehr als eine Mio. Dollar für humanitäre Bedürfnisse in der Ukraine ein.[21]

Experimentelle Ikonen mit militärischen Anspielungen haben in der Ukraine keine eigene Kirche, aber in diesem Zusammenhang muss die Hl. Georg-Kirche der Nationalgarde in Charkiv erwähnt werden, die nach der Fertigstellung der Innenausstattung die Hauptkirche des Militärs in der Ukraine (von der OKU) werden könnte.[22] Wie im Fall der Hauptkathedrale der Streitkräfte in Moskau wurden bei ihrer Konstruktion Kriegsobjekte verwendet. So wurden Teile von Minen und Granaten, mit denen prorussische Kämpfer ukrainische Positionen zu beschießen pflegen, dem Aluminium beigegeben, aus dem das Kreuz auf der Kuppel gegossen wurde. Allerdings wurde diese „Armeekirche“, die bedeutend kleiner als diejenige in Moskau ist, als antiimperiales und sogar Antikriegsprojekt konzipiert. Die beim Bau verwendeten Kriegsobjekte symbolisieren nicht Sieg, sondern den Wunsch, „das Böse und die Aggression zu einem friedenserhaltenden, andächtigen Bild einzuschmelzen“. Laut dem künstlerischen Leiter des Kirchenprojekts, Oleksiy Chekal, wird das Hauptbild des Hl. Georg in der Ikone und im Projektlogo nicht als militant aggressiv, sondern als ruhig ausbalanciert interpretiert, als derjenige, der „gegen die imperialistische Weltsicht“ [frühchristliche Ikonen stellten den Drachen in der Form des Kaisers Diokletian dar] und gegen „die Haltung gegenüber anderen Menschen als Sklaven“ kämpft. Hier ist der Hl. Georg derjenige, der „sein Leben um seiner Würde willen geben konnte“. Das ikonografische Programm (die Innenausstattung wurde aufgrund des Kriegs unterbrochen) wird generell mit „Opfer, Mut, der Fähigkeit, sich gegen den Tod für die Menschen zu stellen […], um ein anderes Narrativ in Bezug auf Friedenserhaltung und den Schutz des Staates zu finden“, verbunden.

Bei den genannten Beispielen sind die ethischen und sozialen Botschaften der Ikone oder die mit ihr verbundenen Praktiken offensichtlich. Das bedeutet aber nicht, dass im ukrainischen Kontext Ikonen, die nicht den aktuellen Krieg reflektieren, „gleichgültig“ sind. Viele Menschen in der ganzen Ukraine beten um Gottes Hilfe und einen gerechten Frieden auch vor qualitativ minderwertigen Papierreproduktionen, die keine ethische Haltung zu den laufenden Ereignissen zeigen. Die Gläubige greifen dabei auf traditionelle Bilder der Passion Christi, der Fürbitte der Gottesgebärerin und anderen in spezifischen Situationen zurück; diese Bilder trösten, verstehen, fühlen mit, schützen. Diese Ikonen bieten sich weiterhin ohne jegliches Urteil über irgendjemanden an, ohne die Menschheit in Freunde und Feinde zu teilen, ohne zu bewerten und zu unterdrücken. „Irrelevant“ gegenüber dem Krieg, können sie therapeutisch wirken, indem sie eine Person aus ihren Gedanken, Emotionen oder gar direkten Kriegserfahrungen in die eschatologische Realität reißen, was Kraft zum Leben gibt. Aber kreative Versuche, die gegenwärtige sozio-politische Situation mit Hilfe von Ikonen zu beeinflussen, sind wichtig, weil sie eine Brücke zwischen dem Transzendenten und Immanenten, den „mystischen“ und „politischen“ Manifestationen des christlichen Glaubens bieten.

Überschneidungen mit „Für das Leben der Welt“
Das soziale Ethos ukrainischer Ikonen und Praktiken, die den russischen Krieg gegen die Ukraine kreativ reflektieren, ist nicht exklusiv ukrainisch. Es stimmt mit dem Sozialethos, das kürzlich in dem Dokument „Für das Leben der Welt. Auf dem Weg zu einem Sozialethos der Orthodoxen Kirche“ (2020)[23] des Ökumenischen Patriarchats formuliert wurde, überein. Ohne alle Parallelen zwischen der modernen ukrainischen Ikone und diesem Ethos aufzeigen zu können, möchte ich betonen, dass das Dokument vorschlägt, die Interaktion der Kirche und der Gesellschaft auf einer Basis zu entwickeln, „um die unendliche, jedem Menschen innewohnende Würde zu ehren“ (§12), und nicht auf der gesellschaftlichen Einführung abstrakter „christlicher Werte“, die den Kern der „Grundlagen der Sozialkonzeption“ der Russischen Orthodoxen Kirche[24] bilden (und die Russland benutzt, um seinen militärischen Terror zu fördern).

Das Ziel von „Für das Leben der Welt“ ist nicht, die Kirche vor der modernen Welt zu beschützen, sondern sie einzuladen, bescheiden und mutig am Schicksal der Welt und der Verwandlung durch konkrete Solidarität mit den verletzlichsten Menschen über konfessionelle Barrieren hinaus Anteil zu nehmen. Der Teil über „Krieg, Frieden und Gewalt“ in der Mitte des Dokuments verurteilt explizit alle Gewalt, obwohl er ein Recht auf Selbstverteidigung anerkennt; der Text anerkennt die menschliche Verletzlichkeit und damit das Bedürfnis nach Heilung aller involvierten Menschen (militärisch und zivil) nach einem Krieg. Es ist bemerkenswert, dass Oleksiy Chekal, der nicht nur das Kunstprogramm der Kirche der Nationalgarde in Charkiv schuf, sondern auch das Emblem der OKU, auch an der ukrainischen Rezeption dieses Dokuments 2020–2021 mitwirkte, obwohl die meisten der erwähnten ukrainischen Kunstschaffenden das Dokument nicht kennen. Die Tatsache, dass sich die Horizonte der zeitgenössischen ukrainischen Ikonen in der Zeit des Krieges und von „Für das Leben der Welt“ überschneiden, verweist auf eine Verbindung zwischen dem ukrainischen und ökumenischen orthodoxen Sozialethos, die in der ästhetischen Dimension beobachtet werden kann.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Anmerkungen:
[1])    Torrance, Alexis: The Category of ‘Ethical Apophaticism’ in Modern Orthodox Theology. In: International Journal of Systematic Theology 23, 1 (2021), S. 41–56.

[2])    https://www.praytellblog.com/index.php/2022/10/07/orthodoxys-kryptonite-scandalous-silence/?fbclid=IwAR0RdQmCFpwgsXcyjNE7Nace_irhAICiDoHWx0Zds2oVN6xw5OcPzmZs_J8

[3])    https://risu.ua/en/in-the-kharkiv-region-icons-scratched-on-the-prison-wall-found-in-the-dungeons-of-the-invaders_n132861

[4])    https://duh-i-litera.com/bookstore/ikoni-na-jaschikax-z-pid-nabov-vid-2-ge

[5])    https://www.medbat.org.ua/en/buy-icon-save-a-life/

[6]https://en.wikipedia.org/wiki/Main_Cathedral_of_the_Russian_Armed_Forces#/media/File:Main_icon_of_the_Armed_Forces_of_the_Russian_Federation_Savior_Not_Made_by_Hands.png

[7])    http://www.workshopeleos.eu/index.php/ua/plenery/ii-2015

[8])    http://www.workshopeleos.eu/images/1_plener_wystawa/wernisaz/DSC05125.JPG

[9])    https://polanddaily24.com/4708-polish-artist-turns-ammunition-chests-from-mariupol-into-icons

[10])   https://ikona.ua/gallery/bichuvannya-hrista/

[11])   https://ikona.ua/gallery/ikona-plach-hrista-za-ukrayinu/

[12])   https://www.2343ec78a04c6ea9d80806345d31fd78-gdprlock/photo/?fbid=535107598616059&set=pb.100063504701039.-2207520000

[13])   https://credo.pro/2022/05/320438

[14])   https://www.2343ec78a04c6ea9d80806345d31fd78-gdprlock/photo.php?fbid=1845934725600427&set=pb.100005517523045.-2207520000.&type=3

[15])   https://novapolshcha.pl/article/motoroshni-akvareli-viini/

[16])   https://iconart-gallery.com/uk/artists/ulyana-nyshchuk/

[17])   https://antikvar.ua/lyky-svobody-vystavka-sakralnogo-mystetstva-ukrayinskyh-hudozhnykiv-do-dnya-nezalezhnosti/

[18])   https://www.2343ec78a04c6ea9d80806345d31fd78-gdprlock/mizhvukhamyfb/posts/pfbid042eHcBt6UMsVT7jhVgr4P1UroQVHZgLE1Sam8mQZ4m7uwRNtuDGDAFfmtbdCAUHgl

[19])   https://www.2343ec78a04c6ea9d80806345d31fd78-gdprlock/dmytrohorditsa/posts/pfbid02PN1dLixhhWjCApNa8RP74gQkHEfgomBn37RfHxuqNCiwqrDksfi4zTPZuEVvkAoxl

[20])   https://life.pravda.com.ua/culture/2022/05/21/248751/

[21])   https://www.bbc.com/news/world-us-canada-60700906

[22])   https://2day.kh.ua/ru/kharkow/dukhovnyy-forpost-ukrainy-v-kharkove-vozvodyat-khram-dlya-voennykh-iz-metalla-i-stekla

[23])   Hallensleben, Barbara (Hg.): Für das Leben der Welt: Auf dem Weg zu einem Sozialethos der Orthodoxen Kirche. Münster 2020. Vgl. auch RGOW 48, 11 (2020): Im Dialog mit der modernen Gesellschaft. Eine neue orthodoxe Sozialethik.

[24])   http://www.patriarchia.ru/db/text/419128.html

Lidiya Lozova, Dr., Post-Doc an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie.

Bild: Die Ikone „Erlöser nicht von Hand gemacht“ (2015) von Oleksandr Klymenko ist Teil des Projekts „Ikonen auf Munitionskisten“ (Foto: Oleksandr Klymenko).

Drucken