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Ambivalenter Ansatz. Ukrainische Wahrnehmungen der Vatikan-Politik

RGOW 07/2022
Anatolii Babynskyi

Die Reaktionen des Papstes und des Vatikans auf den russischen Überfall werden in der Ukraine mit gemischten Gefühlen verfolgt. Einerseits wird die humanitäre Hilfe des Vatikans begrüßt, andererseits wünschen sich viele Ukrainer eine deutliche Benennung des Aggressors durch Papst Franziskus. Angesichts der ambivalenten Reaktionen des Vatikans fühlen sich viele ukrainische Katholiken an die vatikanische Ostpolitik während des Kalten Kriegs erinnert.

Als Papst Franziskus bei einer Audienz am 4. Februar 2015 die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen Armee und den von Russland unterstützten paramilitärischen Kräften im Donbass einen „Bruderkrieg“ nannte, rief dies eine scharfe Reaktion nicht nur der ukrainischen Katholiken der byzantinischen und lateinischen Tradition, sondern auch der ukrainischen Gesellschaft insgesamt hervor. Einige verstanden die Hermeneutik des Papstes, der jeden Krieg als eine Form von Brudermord ansieht, aber innerhalb des ukrainischen Kontextes schwang bei diesen Worten des Papstes auch die Interpretation des Kremls der dortigen Ereignisse mit. Letzterer versuchte den Konflikt im Osten der Ukraine als Bürgerkrieg darzustellen, um von der eigenen Verantwortung für das Blutvergießen abzulenken und die ukrainische Regierung für die Aggression gegen ihre eigenen Bürger verantwortlich zu machen. Am 5. Mai des gleichen Jahres lobte Patriarch Kirill von Moskau den vatikanischen Ansatz und betonte, dass „Papst Franziskus und das Staatssekretariat des Hl. Stuhls eine durchdachte Position gegenüber der Situation in der Ukraine eingenommen haben, indem sie einseitige Beurteilungen vermeiden und zu einem Ende des Bruderkriegs aufrufen.“

Das Treffen von Papst und Patriarch, das ein Jahr später auf Kuba stattfand, und die nach der Begegnung veröffentlichte Erklärung verstärkten die kritische Stimmung in der Ukraine gegenüber dem Vatikan. Die „Havanna-Erklärung“, die weltweit als ein Durchbruch in den ökumenischen Beziehungen wahrgenommen wurde,[1] wurde in der Ukraine negativ bewertet, weil sie es der russischen Propaganda erlaubte, die Situation im Donbass weiterhin als einen „Bürgerkrieg“ darzustellen und dafür die Autorität des Pontifex zu missbrauchen.

Zwiespältige Äußerungen und Gesten
Trotzdem blieb das Vertrauen in Papst Franziskus in der ukrainischen Gesellschaft hoch. Gemäß einer Umfrage des Razumkov Centre von 2020 lag der Papst vor allen anderen religiösen Oberhäuptern innerhalb und außerhalb des Landes: 45 Prozent der ukrainischen Bürger:innen vertrauten ihm. Dem Patriarchen von Moskau vertrauten im Vergleich dazu nur 15 Prozent. Zugleich zeigten Umfragen klar, dass der Rückgang der moralischen Autorität des Patriarchen in der Ukraine mit dem Beginn von Russlands Stellvertreterkrieg gegen die Ukraine seit 2014 korrespondierte. Vor dem Hintergrund, dass sich etwa 70 Prozent der Ukrainer:innen als „orthodox“ erklären, ist diese Statistik sehr aufschlussreich.

Für Ukrainer:innen agiert der Bischof von Rom vor allem als globale moralische Autorität. Das hat nicht nur mit der Person des gegenwärtigen Pontifex zu tun, sondern auch mit seinen Vorgängern, insbesondere mit Papst Johannes Paul II. Dieser war nicht nur einer der Protagonisten beim Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und ein Kritiker des sowjetischen Totalitarismus, sondern er besuchte 2001 die Ukraine auch persönlich und ermutigte die ukrainische Bevölkerung, sich weiterhin den anderen europäischen Nationen anzunähern. Daher erwarteten die Ukrainer:innen am 24. Februar, an dem Tag, an dem die offene russische Invasion in die Ukraine begann, eine eindeutige und unmissverständliche Unterstützung seitens des Hl. Stuhls und eine Verurteilung des Aggressors.

Am ersten Tag des Krieges gab Kardinal Pietro Parolin eine kurze Erklärung ab, in der er die „involvierten Parteien“ aufrief, „jegliches Handeln zu unterlassen, das noch mehr Leid bei den Menschen verursacht, die Koexistenz zwischen den Nationen destabilisiert und das internationale Recht in Misskredit bringt.“ Allerdings benutzte er auch Begriffe aus dem Vokabular der russischen Propaganda, indem er die Geschehnisse als „russische Militäroperation auf ukrainischem Territorium“ bezeichnete.[2] Papst Franziskus seinerseits besuchte am 25. Februar die russische Botschaft in Rom, wo er seine Besorgnis über die Ereignisse in der Ukraine ausdrückte. Zudem rief er das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK), Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk, und den ukrainischen Präsidenten an und versicherte ihnen seine Unterstützung. Beim sonntäglichen Angelus-Gebet sprach er von seiner Solidarität mit den Leidenden. Erst nach der russischen Bombardierung der Geburtsklinik in Mariupol verschärfte sich die Rhetorik des Vatikans: Am 10. März veröffentlichte L'Osservatore Romano, die offizielle Tageszeitung des Vatikans, auf ihrer Titelseite das Bild einer schwangeren Frau, die aus dem zerstörten Gebäude rennt, mit der sarkastischen Bildunterschrift „Operazione militare speciale“. Und am 13. März bezeichnete der Papst die Ereignisse in der Ukraine als „inakzeptable bewaffnete Aggression“ und „Massaker“.

In der Ukraine wurden diese Gesten seitens des Hl. Stuhls jedoch als halbherzig angesehen, weil die vatikanischen Offiziellen und der Papst es vermieden, Russland und seinen Präsidenten beim Namen zu nennen. Stattdessen verurteilten sie nur den Fakt des Krieges und forderten die Parteien auf, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Da für die meisten Ukrainer:innen der Bischof von Rom vor allem eine moralische Autorität ist, hatten sie nicht so sehr diplomatische Bemühungen von ihm erwartet, sondern eher eine direkte Verurteilung des Aggressors und explizite Aufforderungen an Russland, die Besetzung ukrainischer Gebiete zu beenden. Die klassische „Unparteilichkeit“ oder „positive Neutralität“ der vatikanischen Politik bei Konflikten zwischen Ländern erschien ihnen dagegen als Versuch, ihr Mutterland, das sich verteidigen muss, mit Russland gleichzusetzen, das die Ukraine grundlos angegriffen hat.

Der Akt der Weihe von der Ukraine und Russland an das Unbefleckte Herz Mariens wurde von den Ukrainer:innen ebenfalls mit gemischten Gefühlen wahrgenommen. Auch wenn die Initiative von ukrainischen römisch-katholischen Bischöfen ausging (sie hatten solch einen Akt der Weihe der Ukraine am ersten Tag des Krieges getätigt) und im Wesentlichen einen ähnlichen Akt von Papst Pius XII. wiederholte, der 1942 die ganze Welt dem Unbefleckten Herzen Mariens geweiht hatte, traf sie weder unter den ukrainischen Katholiken beider Riten noch innerhalb der ukrainischen Gesellschaft auf echte Begeisterung. In den Augen vieler folgte der Akt der gleichen Logik, die moralische Verantwortung für den Ausbruch des Krieges auf  beiden Seiten zu sehen, und damit die gerechte Natur des ukrainischen Widerstands zu verkennen.

Die meisten Diskussionen in der Ukraine rief jedoch das Szenario der 13. Kreuzwegstation am Karfreitag in Rom hervor, das vorsah, dass eine ukrainische und russische Frau gemeinsam das Kreuz tragen. In den Augen der ukrainischen Gesellschaft verwischte diese Versöhnungsgeste des Vatikans die Unterscheidung zwischen Opfer und Aggressor. Eine echte Versöhnung sei vielmehr erst nach dem Ende des Krieges möglich, wenn ein gerechter Friede geschaffen sei, und der Täter seine Schuld bekannt habe. Die Welle der Empörung nach der Publikation des Textes des Kreuzwegs veranlasste Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk dazu, mit einer Erklärung an den Hl. Stuhl zu appellieren, in der er die Idee als „unpassend“ charakterisierte sowie die Texte und Gesten der 13. Station als „inkohärent und sogar beleidigend“ beschrieb.[3] Im letzten Moment wurde das Szenario geändert, nicht zuletzt, weil die Welt in diesen Tagen mit den grauenvollen Bildern und Videos aus den befreiten Städten nahe Kyjiws überflutet wurde, wo brutale Massaker an Zivilisten seitens der russischen Truppen stattgefunden hatten. Der Papstgesandte, Kardinal Konrad Krajewski, betete daher am Karfreitag den Kreuzweg in Borodjanka.

Tradition der vatikanischen Ostpolitik
Während diese Diskussionen vor allem die operativen Reaktionen des Vatikans auf die Ereignisse in der Ukraine betrafen, gab es auch eine parallele Debatte über die longue durée der Politik des Vatikans gegenüber Osteuropa insgesamt. Für ukrainische Katholiken hat der Begriff der vatikanischen „Ostpolitik“ vor allem negative Konnotationen, da deren Höhepunkt in die Zeit zurückreicht, als die UGKK nur im Untergrund in der Ukraine existieren konnte. Ihre weltweit verstreuten Gemeinden kämpften um die Gründung eines ukrainischen Patriarchats, das die gesamte Diaspora in eine einzige Struktur vereinigt und es so der Kirche ermöglicht hätte, dem Desintegrationsprozess entgegenzuwirken. Die vatikanische Ostpolitik jener Zeit war jedoch, einen modus non moriendi für die katholischen Gemeinschaften zu finden, die noch legal unter der kommunistischen Herrschaft existieren konnten, und einen ökumenischen Dialog mit dem Moskauer Patriarchat zu etablieren. Die sowjetischen Offiziellen waren bereit, über einige Zugeständnisse für die römisch-katholischen Gemeinschaften zu diskutieren, aber von der Möglichkeit eines Wiederauflebens der katholischen Ostkirchen wollten sie nichts wissen. Aus Sicht der ukrainischen Katholiken war die Ostpolitik eine Politik des Verrats, um unsichere Ziele zu erreichen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verloren viele Elemente der vatikanischen Ostpolitik an Bedeutung, doch der ökumenische Dialog mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zählt weiterhin zu Roms Prioritäten. Ostpolitik ist jedoch keine Einbahnstraße, da das Moskauer Patriarchat auch seine eigenen Ziele im Dialog mit dem Vatikan verfolgt. Eines davon ist die Anerkennung des gesamten postsowjetischen Raums als exklusives Territorium der ROK. Im Zusammenhang mit der russischen Aggression ertönt daher in der Ukraine die Frage nach den Prioritäten des Vatikans in Osteuropa mit neuer Kraft. In den Augen vieler ukrainischer Katholiken beider Riten wirkt der Versuch Roms, freundschaftlichen Kontakt zum Moskauer Patriarchat aufrechtzuerhalten oder ein neues Treffen mit Patriarch Kirill zu planen, der die bewaffnete Aggression gegen den Nachbarstaat gesegnet hat, wie ein Wiedererwachen der schlimmsten Aspekte der alten Ostpolitik. Die Erfolge der früheren Ostpolitik waren relativ bescheiden. Ohne ein Reset der Beziehungen mit dem Moskauer Patriarchat, die auf rein ökumenischen Zielen gründen, werden ihre gegenwärtigen Erfolge noch geringer ausfallen.

In einem weiteren Zusammenhang erwartet die ukrainische Gesellschaft den Beginn ökumenischer Kontakte zwischen dem Vatikan und der Orthodoxen Kirche der Ukraine, der der Ökumenische Patriarch 2019 die Autokephalie verliehen hat, und zu der sich heute ein Großteil der orthodoxen Bevölkerung des Landes bekennt. Laut vielen Beobachtern kann die Einbeziehung der orthodoxen Kirche, die ihr Zentrum in Kyjiw hat und lang Zeit im Schatten Moskaus stand, in die ökumenische Bewegung dem orthodox-katholischen Dialog neuen Schwung verleihen.

Heute sagen Ukrainer:innen, dass es nie wieder so eine Ukraine und so ein Russland wie vor dem 24. Februar geben wird. Und dies ist vollkommen korrekt. Aber es scheint, dass auch die kirchlichen Angelegenheiten in Osteuropa niemals die gleichen wie vor der russischen Invasion sein werden – ganz gleich, wie der Krieg endet.

Anmerkungen:
[1])    Oeldemann, Johannes: Brüderliche Begegnung. Zum „Ökumene-Gipfel“ auf Kuba. In: RGOW 44, 3 (2016), S. 4–5.

[2])    https://www.catholicnewsagency.com/news/250470/vatican-laments-tragic-invasion-of-ukraine-by-russia.

[3])    https://risu.ua/en/an-untimely-idea-ukrainian-catholic-leader-concerned-by-format-of-popes-good-friday-via-crucis_n128293.

Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kube.

Anatolii Babynskyi, PhD, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchengeschichte der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv.

Bild: www.president.gov.ua

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