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Puschkin – ein neuer Lenin? Der ukrainische Abschied von der russischen Kultur

RGOW 01-02/2023
Galyna Spodarets

Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die kulturelle Emanzipation des Landes von Russland in eine neue Phase treten lassen. Eine erste symbolische Abgrenzung geschah mit der staatlich initiierten „Dekommunisierung“ nach 2014. Nun sind es vor allem Bürgerinitiativen, die die Demontage von Puschkin-Denkmälern in der Ukraine verlangen. In der „Depuschkinisierung“ spiegelt sich der ukrainische Wunsch, sich kolonialer Markierungen zu entledigen und selbstständig über die Symbolik des öffentlichen Raums zu bestimmen.

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurden, vorläufigen Schätzungen zufolge, 28 Puschkin-Denkmäler abgebaut – diese Zahl verkündete der ukrainische Minister für Kultur und Informationspolitik Oleksandr Tkachenko bei einem Runden Tisch zum Thema „Ergebnisse der Umsetzung der staatlichen Politik im Bereich der Überwindung der Folgen von Russifizierung und Totalitarismus im Jahr 2022“ Ende Dezember.[1] Die Ukraine ist in ein neues historisches und kulturelles Zeitalter eingetreten – das Thema „Dekolonisierung“ hat die russischen Kulturschaffenden erreicht. 2022 ist zum Jahr eines Paradigmenwechsels geworden: mit dem ukrainischen Abschied von der kolonialen russischen Kultur als zentralem Ergebnis.

Der Krieg führt zum Umdenken in der Erinnerungspolitik, zu sichtbaren Veränderungen im öffentlichen Raum und intensiviert die Suche nach neuen Koordinaten der eigenen kulturellen Identität. Der Krieg avanciert zur historischen Möglichkeit, aus dem Einflussbereich der kolonialen Kultur auszubrechen und neue Akzente zu setzen, um sich der Welt zu erklären. Was brauchen Gesellschaften, um sich zu erklären? – „Ihre Sprache und ihre Erinnerung“[2], so Serhij Zhadan, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 2022. Und woran sie sich erinnert, will die Ukraine nun selbst entscheiden.

Leere und Sprachlosigkeit
Krieg ruft in Kultur und Gesellschaft eine narrative Desorientierung, eine lähmende Sprachlosigkeit hervor. Wie sollen Zerstörung, Gewalt und Tod beschrieben werden? Wie sollen die Ukrainer:innen der Welt von ihrem Schmerz erzählen, wenn sich die Erfahrung bereits im Gedächtnis des Körpers eingeprägt hat? Vor dem Hintergrund einer existenziellen Bedrohung tendiert die Sprache dazu zu eskalieren: Sie ist laut, emotional oder gar hysterisch, voller Verzweiflung oder Wut. Der Verlust der Sprache und die Notwendigkeit, sie neu zu erfinden, sind zum Thema des letzten Jahres geworden.

Serhij Zhadan, der die ukrainische Stimme in Europa, den Chronisten der neuen, im Februar 2022 eingetroffenen Realität verkörpert, rückt das Konzept „Sprache“ ins Zentrum seiner Dankesrede für den Friedenspreis: „Natürlich ändert der Krieg die Sprache, ihre Architektur und ihr Funktionsfeld. Wie der Stiefel eines Eindringlings, eines Fremden beschädigt der Krieg den Ameisenhaufen des Sprechens. […] Plötzlich aber zeigt sich, dass die Möglichkeiten der Sprache begrenzt sind, begrenzt von den neuen Umständen, von einer neuen Landschaft: einer Landschaft, die sich in den Raum des Todes, in den Raum der Katastrophe einschreibt.“[3]

Trotz der apokalyptisch anmutenden Situation vermittelt Zhadan die Schrecken des Krieges klar und verständlich, bleibt sachlich und mutmachend. Er schafft es, mit seinen Aufzeichnungen nicht nur Tod und Vernichtung einzufangen, sondern verleiht Hoffnung und macht Widerstand sichtbar. Vor allem zeigt er, dass dieser Widerstand über die Sprache möglich ist. „Wir alle versuchen zu erklären: uns selbst, unsere Wahrheit, die Grenzen unserer Verletzlichkeit und Traumatisierung. Vielleicht ist die Literatur hier im Vorteil. Weil sie alle früheren Sprachkatastrophen und -brüche in sich trägt.“[4]

Die seit fast einem Jahr tägliche Erfahrung eines vernichtenden Krieges bringt die Wahrnehmung, dass die „russische Welt“, zu der auch Kulturschaffende gehören, im wahrsten Sinne des Wortes eine existentielle Bedrohung darstellt. Das führt wiederum zu einer Verschärfung des öffentlichen Diskursfeldes, wo Diskussionen über die Erinnerung, Kultur und den öffentlichen Raum stattfinden.

Erinnerung und Raum
Der Begriff „Erinnerung“ hat in den letzten vier Jahrzehnten eine steile wissenschaftliche Karriere erfahren. Gedächtnisforscher:innen wie Jan Assmann merken an, dass Erinnerung zu einer „Verräumlichung“ tendiert: Konkrete Orte und Räume dienen als Bezugs- und Anknüpfungspunkte für individuelles und kollektives Erinnern. Die Kontinuitäten und Brüche bei der symbolischen Besetzung und Wahrnehmung des öffentlichen Raums können durch Pierre Noras Ansatz der lieux de mémoire, der Erinnerungsorte, nachverfolgt werden.

Denkmäler, Museen, Ausstellungen, Gedenktage und Texte sind Erscheinungsformen des Gedächtnisses und zugleich sichtbare Zeichensetzungen. Sie werden als materielle Form gesellschaftlich produziert, ausgewählt und sind Indikatoren für das kollektive Wertesystem: „In ihrer kulturellen Überlieferung wird eine Gesellschaft sichtbar: für sich und für andere. Welche Vergangenheit sie darin sichtbar werden und in der Wertperspektive ihrer identifikatorischen Aneignung hervortreten lässt, sagt etwas aus über das, was sie ist und worauf sie hinauswill.“[5]

Wer Anfang 2022 durch die ukrainischen Innenstädte schlenderte, dem könnte die Fülle der Denkmäler aus der kolonialen zaristischen und sowjetischen Zeit aufgefallen sein. Die semiotische „Beherrschung“ des öffentlichen Raums hat in der Ukraine sichtbare und langanhaltende Spuren hinterlassen. Bereits vor der Eskalation der Gewalt im Februar 2022 – insbesondere nach der Krim-Annexion von 2014 – ist die „Dekommunisierung“ ein Teil der staatlichen Erinnerungspolitik und somit des ukrainischen Alltags. Tausende von Straßen und Dutzende von Städten wurden umbenannt, Hunderte von Lenin-Denkmälern aus dem öffentlichen Raum entfernt. Doch die bewusst praktizierte politisch-kulturelle Ambivalenz verhinderte die Möglichkeit weiterführender Reformen.[6]

Anfang 2023 sieht die Situation anders aus: die Topographie und der Stadttext haben sich deutlich verändert, und die alten Symbole aus der Kolonialzeit an Aktualität verloren. Der traditionelle ukrainische „Lenin-Denkmal-Sturz“ (leninopad) ist 2022 in die Phase der „Depuschkinisierung“ (depuschkinizacija) übergegangen.

Depuschkinisierung 2022
Über Alexander Puschkin (1799–1837) und den Status der russischen Kultur in der Ukraine wurde im Jahr 2022 auf unterschiedlichen Ebenen diskutiert – von Bürger:inneninitiativen bis Stadtverwaltungen und Kulturministerien.[7] Am 7. April 2022 wurde in Mukatschevo ein Puschkin-Denkmal demontiert, am 9. April 2022 in Uzhhorod und Ternopil. Seitdem wurden Puschkin-Denkmäler in Kyjiw,[8] Tschernivtsi, Zhytomyr, Zaporizhzhja, Tschernihiv und anderen Städten und Gemeinden abgebaut. Bei der Verabschiedung des Abbaus einer Puschkin-Büste in Krementschuk am 21. November 2022 beschlossen die Abgeordneten des Stadtrats zudem, den „Puschkin-Boulevard“ in „Boulevard der Ukrainischen Renaissance“ umzubenennen.

NGOs aus Odesa appellierten direkt an das Ministerkabinett und das Kulturministerium und forderten eine Demontage der Denkmäler der russischen Schriftsteller Puschkin, Tolstoj und Gorki; diese hätten, so die Erklärung, „Propaganda für die russische imperiale und totalitäre Politik betrieben“, seien „von der imperialen und totalitären Propaganda mythologisiert“ und „werden heute noch von der russischen Propaganda zur Verbreitung ihrer eigenen Narrativen verwendet“[9].

Auch im umkämpften Osten des Landes wird es rund um Puschkin nicht still: Am 30. Dezember 2022 wurde in Kramatorsk in der Region Donezk eine Puschkin-Büste mit der Begründung abgebaut, die Stadtverwaltung wolle „ihre eigenen Helden, ihre eigene Kultur und ihre eigene Geschichte an diesem Platz“. Oleksandr Hontscharenko, der Bürgermeister von Kramatorsk, betonte in seinem Facebook-Profil, dass die Ukraine nicht gegen Denkmäler kämpfe, sondern für ihre eigene Existenz: „Dies ist der Kampf der Ukraine ums Überleben“.[10]

Die Stadtverwaltung von Charkiv, einer der vom Krieg und Bombardierungen am stärksten betroffenen ukrainischen Städte, gab folgende Erklärung ab: Sie verstehe die Gefühle der Charkiver Bürger:innen, die keine russischen Toponyme in ihrer Stadt sehen wollen, und teile deren Wunsch, „das kulturelle und historische Umfeld der Stadt neu zu überdenken“. Es brauchte jedoch eine zehnmonatige Invasion und hunderttausende Opfer der „großen russischen Kultur“, bis der Regionalrat der 30 km von Russland entfernten Stadt am 24. Dezember 2022 die Worte „russisch“ und „Puschkin“ aus dem Namen des Charkiver Theaters entfernte.[11]

Dabei stellt sich die Frage, welche Funktionen die Denkmäler „alter Meister“ aus Russland in einer veränderten Welt, in einer Ukraine, die seit fast einem Jahr vom brutalen Angriffskrieg betroffen ist, erfüllen. Und warum ist ausgerechnet Puschkin vom „Canceln“ so stark betroffen?

„Puschkin – unser ein und alles“[12]
Puschkin hat in Russland Kultstatus. Einerseits ist er für die ästhetische Wende der russischen Literatur verantwortlich. Viele Schriftsteller:innen – von Lev Tolstoj über Vladimir Majakovskij bis hin zu Vladimir Sorokin – entwickelten ihre Literatursprache an Puschkins Werken. Vladimir Nabokovs Held im Roman Die Gabe – ein junger Schriftsteller, das alter ego des Autors – „stärkte die Muskeln seiner Muse“ an Puschkin, „atmete Puschkin ein“, sein „Fassungsvermögen der Lungen“[13] wuchs bei der Lektüre von Puschkin.

Andererseits ist Puschkin ein ideologisches Aushängeschild. Im russischen Kulturraum wurden immer wieder Versuche unternommen, Geistesgrößen der Vergangenheit (und Gegenwart) zu Ikonen zu stilisieren, zu Propheten, zu Kämpfern an der ideologischen Front. Spätestens seit Fedor Dostojewskijs Rede über Puschkin im Jahr 1880 wurde letzterer zum öffentlichen Erinnerungsort und Symbol der vermeintlichen russischen kulturellen Überlegenheit.[14] Der Prozess seiner zentralstaatlichen Aneignung verlief sowohl in zaristischer als auch sowjetischer Zeit in hochgradig inszenierten Formen: Puschkin-Straßen, Puschkin-Häuser, Puschkin-Plätze, Puschkin-Boulevards, Puschkin-Büsten, Puschkin-Schulen, Puschkin-Universitäten, Puschkin-Bibliotheken, Puschkin-Theater, Puschkin-Museen, Puschkin-Parks, Puschkin-Preise, Puschkin-Gesellschaften, Puschkin-Lesungen, Puschkin-Konferenzen, Puschkin-Metrostationen, Puschkin-Fernsehserien – die Liste ist unerschöpflich. Was wird durch so eine (Stadt-)Topografie kommuniziert? Bei all der Liebe zur Kultur: Ist es nicht too much Puschkin für die Ukraine? Ist für Shakespeare, Balzac und Brentano hier noch Platz?

Öffentliche Räume sind komplexe Symbolsysteme. Mit Denkmälern und Straßennamen lässt sich ein gewisses Monopol auf die Vergangenheit, auf die Geschichte, auf die Rechte an einem Territorium behaupten. Zu den kolonialen Zeiten wurden ukrainische Inhalte überschrieben und mit möglichst einheitlichen imperiozentrischen Botschaften gekennzeichnet. Puschkin tauchte im symbolischen Raum der Ukraine allerorts auf, nicht weil er ein führender Dichter der Welt ist, sondern wegen des kolonialen Status des Landes. In meinem Abschlusszeugnis aus Odesa von 2004 steht „Puschkin-Schule“; Schriftsteller wie Puschkin und Tolstoj wurden aber bereits Anfang der 2000er Jahre im Fach „Ausländische Literatur“ gelesen, d. h. der Kontext veränderte sich, die Markierung blieb.

„Des Volkes Pfad zu ihm“
Im Gedicht Exegi monumentum (1836) erklärt Puschkin sein Werk selbst zum Erinnerungsort: „Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes, / Des Volkes Pfad zu ihm wird nie verwachsen sein“.[15] „Des Volkes Pfad“ zu Puschkin unterliegt heute einer fundamentalen Dynamik der Um-Interpretation: Das Erbe der russischen Kultur wird neu überdacht. In Russland finden Kundgebungen zur Unterstützung der auf die Ukraine vorrückenden russischen Armee unter Puschkins Fahnen statt.[16] Was in Puschkins Denken und Schreiben trägt den Keim für die Gewalt und den Zynismus in sich, die wir heute erleben?

Puschkin als Schriftsteller ist ambivalent. Auch der Puschkin zu Zeiten Alexanders I. (1801–1825) und der zu Zeiten von Nikolaus I. (1825–1855) ist nicht der gleiche. Wegen liberaler Gedichte wie der Ode an die Freiheit (1817) wurde der junge Dichter vom St. Petersburg in das vierjährige „südliche Exil“ verbannt. Das Exil lag von 1820 bis 1824 u. a. in der heutigen Ukraine, wo Puschkin angeblich über 120 Ortschaften in den Gouvernements Kyjiw, Cherson, Tschernihiv, Katerynoslav, Volyn, Poltava und anderen besuchte. 1825 nahm er am Aufstand der Dekabristen gegen das totalitäre Zarensystem nicht teil und fand schließlich mit dem Poem Poltava (1829), das Russlands Aufstieg zur imperialen Macht thematisiert, Anschluss an den Petersburger Zarenhof. Im Vorwort zur ersten Ausgabe von Poltava wird Ivan Mazepa (1639–1709), Hetman der Zaporoger Kosaken und des frühmodernen ukrainischen Staates, so eingeordnet: […] Peters Verräter vor seinem Sieg, Karls Verräter nach seiner Niederlage: sein Andenken, von der Kirche mit dem Anathema belegt, kann dem Fluch der Menschheit nicht entgehen“.[17] Puschkins Auffassung widerspricht der ukrainischen Sicht auf Mazepa, der während des Großen Nordischen Kriegs (1700–1721) dem russischen Zaren Peter I. den Rücken gekehrt hatte und auf die Seite des Schwedenkönigs Karl XII. gewechselt war. In der Ukraine wird Mazepa als Nationalheld und Kämpfer für die Unabhängigkeit geehrt, sein Porträt ziert den ukrainischen 10-Hryvnia-Schein.

Puschkin als Erinnerungsort ist widersprüchlich. In der Ukraine heißt es, er sei ein konsequenter Monarchist und Zarenverehrer, habe die ukrainische Staatlichkeit abgelehnt und stehe als glühender Verfechter des russischen Imperialismus für die „Einheit“ Russlands, der Ukraine und all den „slawischen Völkern“. In dieser Lesart darf das Gedicht Den Verleumdern Russlands (1831) nicht fehlen, wo die imperiale Vision durch die Wassermetaphorik besonders deutlich zum Ausdruck kommt: Ob „die slawischen Flüsse sich im russischen Meer einen“[18] werden?

Die Bestrebungen, die Literaturklassiker als Verräter einer nationalen Idee abzustempeln, sind nicht neu. Einer der ersten Angriffe auf ein Puschkin-Denkmal in der Ukraine fand 1904 in Charkiv statt. Mykola Michnovskyj, einer der Gründer der Bewegung für die ukrainische Unabhängigkeit vom Russländischen Imperium, versuchte das Denkmal zu sprengen. Dieses sollte laut Michnovskyj durch ein Schewtschenko-Denkmal ersetzt werden, einen anderen „quasi-heiligen“ Nationaldichter, diesmal auf der ukrainischen Seite, den Jurij Andruchowytsch ironisch-postmodern als „unser ein und alles“[19] bezeichnet.

Die beiden Nationaldichter – Puschkin und Schewtschenko – tauchen auch bei Iosif Brodskij im Schmähgedicht Auf die Unabhängigkeit der Ukraine[20] (1991) auf: Der russische Dissident und Nobelpreisträger von 1987 bedient sich eines „großrussischen“ Stereotyps, indem er den „provinziellen“ ukrainischen Taras Schewtschenko dem „europäischen“ russischen Aleksandr Puschkin meta-poetisch gegenüberstellt. Die Verunglimpfung gipfelt in Brodskijs Verneinung jeder Art von kulturell-politischer Eigenständigkeit der Ukraine. Die „Todsünde“ der Ukrainer:innen bestehe für ihn, so die Interpretation Michail Ryklins, „in ihrer Abkehr von der großen russischen Kultur“.[21]

„Die große russische Kultur“, „die große russische Sprache“, „das große russische Volk“ und nicht zuletzt „die große russische Literatur“ – sind das nicht etwa Symptome eines imperialen Virus, gegen das selbst die Geistesgrößen keine Immunität aufzuweisen scheinen? Haben etwa Puschkin, Dostojewskij und Brodskij die Saat des Imperialismus, Militarismus und Chauvinismus gelegt, die in der heutigen „russischen Welt“ Wurzeln geschlagen hat? Wir müssen uns wohl eingestehen: „Die große russische Kultur“ hat in ihrer zentralen Funktion, als moralischer Imperativ für die Gesellschaft zu dienen, versagt.[22]

Adieu, russländisches Imperium
„Adieu, russländisches Imperium“ – das ist wohl die Kernbotschaft, die sich an dem Puschkin-Denkmal-Abbau-Flashmob ablesen lässt. Die kolonialen Markierungen haben ausgedient – in der gesamten Ukraine werden Puschkin-Denkmäler als Reaktion auf die großangelegte russische Militärinvasion von der Straße in Museen gebracht. Das ist ein spannender Vorgang, bei dem kurz zu verweilen lohnenswert ist: Die Puschkin-Denkmäler werden nicht zerstört, sondern sehr plastisch zum Inventar eines der Orte des kulturellen Gedächtnisses.

Die jeweilige Gegenwart entscheidet darüber, was und wie etwas erinnert wird. Die Gegenwart ist zutiefst traumatisierend. Der Alltag der Menschen in der Ukraine ist von Flucht und Vernichtung, Bombardierungen und Schmerz geprägt. Durch diese Erfahrung befreit sich die ukrainische Gesellschaft von der russischen Optik mit einer nie dagewesenen Geschwindigkeit. Letztlich geht es auf dem Denkmal-Schlachtfeld weniger um Puschkin, sondern darum, der russischen Kultur den dominanten Status zu nehmen.

Die spezifische ukrainische Wahrnehmung der von Moskau herbeigeführten Eskalation des Krieges besteht darin, dass es sich um einen Angriff auf die eigene – physische, politische wie kulturelle – Existenz der Ukraine handelt. Und die Erfahrung zeigt: Das gemeinsame Kulturerbe wird von Russland in der Außenpolitik als Argument missbraucht, als Instrument zur Integration in den russischen Einflussbereich, schließlich als Einladung zum Einmarsch.

Statt eines Ausblicks
Der öffentliche Raum der Ukraine wird zum symbolischen Schlachtfeld der Emanzipation. Denkmäler lassen sich abbauen, Straßennamen lassen sich mit einem Bürgerentscheid ändern. Die Invasion beschleunigte de facto den Dekolonisierungsprozess des öffentlichen Raums, der nach der Annexion der Krim in Gang gesetzt wurde. Die zentrale Frage, die sich angesichts dieses Vorgangs in der Ukraine heute stellt, lautet nicht „Mit Puschkin oder ohne Puschkin?“, sondern vielmehr: „Was tritt an die Stelle Puschkins?“ Im Kampf um das Gesicht der Städte werden zugleich Fragen nach dem Umgang mit der eigenen Geschichte gestellt und die jahrzehntelang betriebenen widersprüchlichen Identitätspolitiken hinterfragt. Bis zu welchem Grad soll aber die Deimperialisierung durchgeführt werden? Gibt es verbindliche Kriterien? Welche Zukunft hat die russischsprachige ukrainische Kultur? Bei allen nachvollziehbaren Emotionen sollten die rationalen Dinge nicht vergessen werden: Denn die entscheidende Voraussetzung für die Dekolonisierung ist nicht der Abriss eines Denkmals, sondern die Schaffung unabhängiger Gerichte und die Durchführung weiterführender struktureller Reformen. 

Anmerkungen:
[1])    https://mkip.gov.ua/news/8380.html

[2])    https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/alle-preistraeger-seit-1950/2020-2029/serhij-zhadan?s=09&cHash=1a4241180408c22e11fffe95e1e4b099

[3])    https://www.laender-analysen.de/ukraine-analysen/274/dankesrede-von-serhij-zhadan-zur-verleihung-des-friedenspreises-2022/

[4])    Ebd.

[5])    Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1988, S. 16.

[6])    Vgl. Portnov, Andrij: „Dekommunisierung“. Die neuen Geschichtsgesetze der Ukraine. In: RGOW 43, 8 (2015), S. 17–19.

[7])    Vgl. das Interview mit dem ukrainischen Kulturminister Oleksandr Tkachenko, https://www.14dd5266c70789bdc806364df4586335-gdprlock/watch?v=6OUjdaj7HV8&t=1s

[8])    Im Kyjiwer Stadtrat wurde am 16. April 2022 ein Gesetzesentwurf zur Demontage von 60 mit Russland assoziierten Denkmälern vorgelegt (darunter eine Puschkin-Büste und ein Puschkin-Denkmal). Alle Kulturgüter aus der sowjetischen oder russischen Zeit, die laut Stadtratsabgeordneten demontiert und in das Museum des Totalitarismus gebracht werden sollten, wurden auf einer interaktiven Karte von Kyjiw verzeichnet. https://www.1d5920f4b44b27a802bd77c4f0536f5a-gdprlock/maps/d/u/0/viewer?fbclid=IwAR0mwKBvYfxFiYTmwaMX8_PBsQSkS7OQ-n2rZMRvTm0TksdyosH4V262ExQ&mid=1AZJq8QK9owJmIsq2eb8x2BM21OWYpNRY&ll=50.46375233678476%2C30.52058035&z=12

[9])    https://suspilne.media/269012-demontuvati-pamatniki-puskinu-tolstomu-ta-gorkomu-v-odesi-gromadski-organizacii-zvernulisa-do-uradu/?fbclid=IwAR3N8rWv9KeI6dKw-tvbCCEOu-8bAsk3qPbWTchQl83ykRD7tl438WKrXQk

[10])   https://www.2343ec78a04c6ea9d80806345d31fd78-gdprlock/alexander.vasilyevich.goncharenko/posts/pfbid0EQS2dTsxPQy6jjcUKCnQ1pBL9qMkxpeGTAe5rHhyiNGVHM1basJKx4kNMQesz8Pbl

[11])   https://nv.ua/ukr/ukraine/events/harkivskiy-akademichniy-rosiyskiy-dramatichniy-teatr-imeni-pushkina-pereymenuvali-novini-ukrajini-50293144.html. Charkiv, die „erste Hauptstadt“ der Ukraine, plant die Umbenennung von rund 400 weiteren mit Russland assoziierten Ortsnamen.

[12])   Das Zitat aus dem Jahr 1859 stammt vom russischen Dichter und Literaturkritiker Apollon Grigorjev.

[13])   Nabokov, Vladimir: Die Gabe. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 169.

[14])   Vgl. http://az.lib.ru/d/dostoewskij_f_m/text_0340.shtml

[15])   Das Gedicht reiht sich ein in die Tradition eines dichterischen „Denkmals“ und ist in der Literaturgeschichte von Horaz (Ode Exegi monumentum aere perennius, ca. 13 v. Chr.) über Gavriil Derzhavin (Denkmal, 1796) bis hin zu Vladimir Majakovskij (Jubiläumsgedicht, 1924) und Iosif Brodskij (Ein Denkmal schuf ich mir, ein anderes, 1962) bekannt. Das Lexem „Denkmal“ stammt vom Verb „gedenken“, die Autoren schreiben also Gedichts-Selbstbildnisse.

[16])   https://kprf.ru/dep/gosduma/activities/211211.html

[17])   http://ocls.kyivlibs.org.ua/pushkin/pushkin_pss/pushkin/01text/02poems/03edit/0827.htm

[18])   https://www.culture.ru/poems/4966/klevetnikam-rossii

[19])   Andruchowytsch, Juri: Shevchenko is OK. In: Ders.: Das letzte Territorium. Essays. Frankfurt/M. 2003, S. 97–114, hier S. 103.

[20])   https://www.14dd5266c70789bdc806364df4586335-gdprlock/watch?v=grFRNnPePJw

[21])   https://www.nzz.ch/feuilleton/genie-und-narr-joseph-brodskys-schmaehgedicht-auf-die-ukraine-ld.754628

[22])   https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-81-prozent-der-russen-befuerwortet-angriffskrieg-a-f32a54dd-463c-4c0c-b390-e69bd0d233fe; https://www.levada.ru/2022/03/31/konflikt-s-ukrainoj/

Galyna Spodarets, Dr. phil., Slavistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultur und Literatur Mittel- und Osteuropas der Universität Potsdam.

Bild: Im Stadtzentrum von Dnipro wird das Puschkin-Denkmal am 16. Dezember 2022 abgebaut (Foto: Keystone).

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