
Belastetes Erbe. Schwermetalle, Glasnost und Protest in Kasachstan
RGOW 11-12/2023
Im September 1990 demonstrierten Tausende im ostkasachischen Ust-Kamenogorsk gegen den sowjetischen Ökozid an ihrer Stadt. Ein Industrieunfall hatte ihnen die massive Verseuchung durch Schwermetalle und andere Giftstoffe vor Augen geführt. Die Zeit der Glasnost erlaubte öffentliche Debatten und Umweltaktivismus, an dem sich auch Politiker beteiligten. Eine offizielle Expertenkommission erstellte eine schonungslose und erschreckende Bilanz, doch blieb die Stadt mit ihren Umweltproblemen letztlich allein.
„Mutterland! Hör endlich unseren Schrei der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, einen Schrei des Protestes gegen den ökologischen Völkermord, die Behörden und ihre lokalen Beamten. Ohne dringendes Eingreifen der Regierung der UdSSR und der Kasachischen SSR ist die Bevölkerung unserer Stadt dem Untergang geweiht.“[1]
Die Großstadt Ust-Kamenogorsk (kasachisch: Öskemen) im westlichen Altai-Gebirge liegt am Zusammenfluss der Flüsse Ulba und Irtysch. Mit Vierteln, deren Wohnblöcke riesige, ungepflegte Höfe voller Bäume trennen, hat sie bis heute das Flair einer sozialistischen, grünen Stadt. Und doch gilt Ust-Kamenogorsk seit Jahrzehnten als eine der Städte Kasachstans mit der höchsten Schadstoffbelastung, vor allem mit Blei. 1720 von russischen Militärs auf einer Landzunge zwischen den beiden Flüssen gegründet, erlebte die Stadt seit den 1950er Jahren eine rasante Industrialisierung: Auf einer Fläche so groß wie Stuttgart lebten 1989 325 000 Menschen und verteilten sich 245 Fabriken, 85 davon waren besonders umweltschädlich. Die Hauptstadt des Oblast Ostkasachstan war ein Zentrum der Produktion von Nichteisenmetallen und der Uranwirtschaft für den militärisch-industriellen Komplex.
Ust-Kamenogorsk war eine typische sowjetische Industriestadt und zusammen mit den Nachbarstädten Syrianovsk und Leninogorsk eines der Bergbauzentren Kasachstans. Die Umwelt- und Gesundheitssituation war vergleichbar mit dutzenden anderen Industriestädten auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR. Deren Bewohner waren einer Schadstoffbelastung ausgesetzt, die weit über den Werten in den Hauptstädten der Republiken oder der Union lag.[2]
Die extreme Industrialisierung führte die Stadt in eine Umwelt- und Gesundheitskatastrophe, die sich durch einen schweren Unfall im September 1990 noch verschärfte. Dieser riss die Bevölkerung aus ihrer Starre, und es folgte eine kurze Periode an Umweltprotesten. Doch weder diese Mobilisierung noch die Unterstützung durch die lokalen Behörden oder die Intervention Moskaus konnten die Katastrophe stoppen, die sich auch im unabhängigen Kasachstan fortsetzte.
Erstmalige öffentliche Proteste nach Giftunfall
Am 12. September 1990 ereigneten sich im Metallurgischen Werk Ulba (UMZ) mehrere Explosionen, die über 50 Tonnen Beryllium in die städtische Atmosphäre schleuderten. Das hochgiftige Beryllium kann die schwere Lungenerkrankung Berylliose und Krebs auslösen. In den Stunden nach dem Giftunfall hüllten sich die Fabrikleitung und die regionalen Behörden in Schweigen, während in der beschädigten Werksanlage Rettungsarbeiten durchgeführt wurden. Doch das Geschehene wurde schnell publik: Die Angestellten forderten ihre Familien auf, Kinder sofort aus der Schule abzuholen und sich zuhause zu verbarrikadieren. Die Informationen verbreiteten sich per Telefon unter den Einwohnern, die sich Gasmasken besorgten. Zwei Stunden nach dem Unfall forderte der Zivilschutz die Bürger auf, sich in Innenräumen aufzuhalten und die Fenster geschlossen zu halten. Dann verkündete er die Normalisierung der Lage und beteuerte, dass für die Bevölkerung keine Gefahr mehr bestünde. Die offiziellen Verlautbarungen waren der Situation jedoch völlig unangemessen: Weder legten sie den Unfallort noch die Art der Luftpartikeln offen, die sich in der Stadt verbreitet hatten.
1990 waren die Einwohner allerdings nicht mehr bereit, solchen Versicherungen Glauben zu schenken. Die Enthüllungen über die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, die das Land seit 1986 erschüttert hatten, hatten das Vertrauen in die Behörden untergraben. Angeführt von einer lokalen Umweltinitiative, fanden sich ab dem 27. September tausende Einwohner vor dem Gebäude der regionalen Parteiführung ein und stellten – im sowjetischen Kontext radikal anmutende – Forderungen.[3] Sie drohten den Leitungsebenen der Republik und der Union damit, die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November abzusagen, sowie mit einem Generalstreiks, falls sie kein Gehör fänden.
Die Demonstranten bezeichneten sich als Opfer einer „unhaltbaren und kritischen Umweltbelastung“. Deren Gefährlichkeit zeigte sich im alltäglichen Leben und in den von ihnen gesammelten Statistiken: Auf 100 Kinder eine Totgeburt, Prävalenz bösartiger Tumore, Haut- und Bluterkrankungen sowie eine Sterblichkeit weit über dem kasachischen Durchschnitt. Die Beryllium-Katastrophe machte ihnen die „tödliche Gefahr bewusst, die auf unserem Zuhause lastet“. Es war nun klar, dass die „Bevölkerung von Ust-Kamenogorsk den langfristigen, stetigen Auswirkungen eines aus verschiedenen Komponenten bestehenden toxischen, für den menschlichen Organismus ungeeigneten Milieus ausgesetzt war“. Die Bewohner forderten erstens die Anerkennung des Status als „Umweltkatastrophengebiet“, der bessere Pensionen versprach. Zweitens das Herunterfahren der Produktion auf ein Niveau, das die vorhandene Reinigungs- und Aufbereitungsapparatur bewältigen konnte, und die Verlegung der Fabriken aus dem Stadtgebiet. Drittens forderten sie die Einsetzung von Fachgremien zur unabhängigen Analyse der Katastrophe unter Einbeziehung ausländischer Experten. Grundlegend für die Forderungen war die notwendige Ausweitung der städtischen Autonomie: die Anerkennung der Stadt als autonome, auf den Arbeiterräten (Sowjets) basierende Entscheidungseinheit, die Nachverhandlung der Gewinnaufteilung mit Moskau und das Ende der Allmacht des militärisch-industriellen Komplexes.
Die Demonstration war eine Premiere für Ust-Kamenogorsk. Zwar hatten sich Umweltschützer schon 1990 öffentlich versammelt, aber diese Mahnwachen aus wenigen Dutzend Personen blieben unbemerkt. Glasnost hatte in Ostkasachstan erst nach den Wahlen zum Volksdeputiertenkongress im März 1989 Einzug gehalten. Doch nun keimte eine von den lokalen und regionalen Behörden unabhängige Presse auf: Mitglieder der lokalen kommunistischen Jugendorganisation (Komsomol) gründeten die Zeitschrift Impuls, die in ihren Texten die regionale Leitung persönlich angriff. Der Komsomol, früher treuer Arm der Partei, schloss sich mit der Umweltbewegung zusammen und trug der Regierung die Forderungen der Protestierenden in einem offenen Brief an.[4]
Bezeichnend für den Wandel war außerdem ein Aufsehen erregender Artikel in der Regionalzeitung Rudnyi Altai zwei Wochen nach dem Unglück. Der Artikel mit dem Titel „Ein stilles Tschernobyl“[5] von dem Whistleblower Gennadij Medvedev handelte weder von der Gefahr durch Beryllium noch von der allgegenwärtigen Bleiverschmutzung, sondern von der riesigen Deponie für Plutonium und andere giftige und radioaktive Substanzen mitten im Stadtzentrum. Seit 1949 wurden an diesem leicht zugänglichen Ort, wo Kühe weideten und Spaziergänger flanierten, bis zu 100 000 Tonnen Atommüll aus den ersten sowjetischen Atombomben deponiert. Die neue Dimension der Forderungen und deren Echo zwangen die politische Führung der Stadt zu einer klaren Positionierung. Die Bedeutung des Stadtsowjet im vormals von der Partei dominierten politischen Gleichgewicht wuchs stark gegenüber dem diskreditierten städtischen Parteikomitee. Im Herbst 1990 schien sich in der Industriestadt eine Front aus engagierten Bürgern, Umweltschützern und Politikern gebildet zu haben, die zum ökologischen und sanitären Wandel entschlossen war.
Enorme Schadstoffbelastung
Die Protestierenden forderten Aufklärung über die Umwelt- und Gesundheitssituation und lehnten die herkömmliche ökologische Expertise seitens der Umweltabteilungen der schadstoffverursachenden Unternehmen und des Komitees für Hydrometeorologie (Glavgidromet), zu dessen Aufgaben auch das Umweltmonitoring gehörte, vehement ab. In ihrer Erklärung prangerten sie die Verquickung von Industrie, Wissenschaft und Politik an und forderten eine unabhängige Expertise.
Das 1989 in Moskau neu geschaffene Umweltministerium Goskompriroda schlug vor, ein Privatunternehmen mit der Bestandsaufnahme der Umweltsituation zu beauftragen. Die schadstoffemittierenden Betriebe sollten die Finanzierung übernehmen. Auf Drängen des Komitees für Hydrometeorologie, das seine Befugnisse behalten wollte, lehnte die Regierung diesen Vorschlag jedoch ab. Moskau ging den in der UdSSR üblichen Weg und setzte eine vom Obersten Sowjet beaufsichtigte Expertenkommission ein, die innerhalb eines Jahrs ein Gesamtbild der Gesundheits- und Umweltsituation in Ust-Kamenogorsk erarbeiten sollte.[6] Ihr parlamentarischer Ursprung sollte die Unabhängigkeit der Kommission signalisieren; wenigstens war sie nicht wie anhin in den Händen der Industrieministerien. Der profilierte Biochemiker Anatolij Nazarov, der Ko-Direktor der Tschernobyl-Kommission des Präsidiums des Obersten Sowjet gewesen war, übernahm die Leitung der Kommission für Ust-Kamenogorsk. Sie bestand aus dutzenden Spezialisten, gegliedert in ein ökologisches, ein medizinisches und ein juristisches Team. Dieses letzte Auflodern der sowjetischen „Großforschung“ erstellte „etwa 15 000 chemische Analysen von Schwermetallen und giftigen organischen Substanzen im Wasser, in der Luft, in Böden und Nahrungsmitteln sowie etwa 17 000 chemische, toxikologische, immunologische und zytologische Analysen von Blut und Körperflüssigkeiten von Erwachsenen und Kindern“. Mehrere tausend Einwohner wurden eingehenderen Untersuchungen unterzogen.
Am 25. Dezember 1991, während die UdSSR im Verschwinden begriffen war, übergab die Kommission dem Vorsitzenden des Stadtsowjets Nikolaj Nosikov ihren Abschlussbericht. Der Befund war erschreckend und unumstößlich: „Die Gesundheit der kindlichen und erwachsenen Bevölkerung verschlechtert sich unaufhaltsam und hat die kritischen und gefährlichen Grenzwerte für zahlreiche Indikatoren entweder erreicht oder überschritten. In der Stadt […] herrscht eine Umweltkatastrophe.“ Das Blei-Zink-Kombinat, das Titan-Magnesium-Kombinat und das UMZ zählten zu den größten Umweltverschmutzern. Die Bewohner nahmen mit der Nahrung das 2,5- bis 11,5-fache der maximal zulässigen Bleidosis (FAO-Standard) auf. Auch über das Trinkwasser absorbierten sie fast die Maximaldosis, zusätzlich zu einer nicht näher definierten Bleimenge, die in Form von Staub in den Organismus gelangte, wobei jeder Einwohner einer Tonne Luftschadstoffemissionen pro Jahr ausgesetzt war. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass der Gesundheitszustand der Bevölkerung dem der Liquidatoren in Tschernobyl entsprach. Zudem listete die Kommission beängstigende Beobachtungen auf: Die Flüsse Ulba und Irtysch wurden durch jährlich 150 Mio. Kubikmeter an Flüssigschadstoffen verseucht. Satellitenbilder deckten elf bis dahin unbekannte, geheime Stellen auf, an denen Giftstoffe ins Wasser geleitet wurden. Selbst im Fall eines vollständigen Emissionsstopps würde die Regeneration des Grundwassers 200 Jahre benötigen. Unabhängig von Witterung und Jahreszeit lag eine Glocke aus giftigen Luftpartikeln und Gasen über der Stadt.
Wie war es zu einer derart untragbaren Situation gekommen? Die Kommission führte dafür sehr allgemeine Ursachen an: Die wenig durchdachte Ansiedlung umweltgefährdender Industriebetriebe habe zu einer unzumutbaren Konzentration giftiger Fabriken geführt. Die sie regulierende Umweltgesetzgebung sei rein deklaratorisch, unpräzise und es fehlten die für ihre Umsetzung notwendigen Verwaltungs- und wirtschaftlichen Mechanismen. Nach Interpretation der Demonstranten lag die Schuld bei der politischen und industriellen Führung. „Man hat uns jahrelang ökologisch gesehen im Dunkeln gelassen, wir hatten uns damit abgefunden.“[7] Der Beryllium-Unfall hätte sie aus ihrem „Winterschlaf“ geweckt und deutlich gemacht, dass sie bereits inmitten der Katastrophe lebten.
Scheitern der ökologischen Reformprozesse
Die schonungslose Bilanz der Kommission des Obersten Sowjet schien den Demonstranten Recht zu geben. Doch diese schlug lediglich vor, die Bevölkerung entfernt von den Fabriken umzusiedeln und sie für ihr Leiden zu entschädigen, indem man sie ebenfalls zu Nutznießern des Sozialschutzgesetzes für die Tschernobyl-Opfer machte. Der Aufruf der Kommission, 1992 jegliche Einleitung von verseuchtem Wasser in die Flüsse zu unterbrechen, hatte genauso deklaratorischen Charakter wie die von ihr im Gutachten kritisierten Gesetze. Sie schlug keine Mechanismen oder Verfahren vor, die die Industrie gezwungen hätten, ihre Emissionen zu reduzieren oder ihre Fabriken zu verlegen. Dabei hatten die Einwohner zuvor gefordert, die Produktion auf das Niveau der realen Filterkapazitäten in den Fabriken zu senken, um so Druck auf die Industrieleitung aufzubauen und sie zur Installation von effizienten Anlagen zur Emissionsbegrenzung zu zwingen. Die Kommission empfahl jedoch nur die vorübergehende Schließung einiger besonders umweltbelastender Werke.
Zwischen dem Schreckensbild der ökologischen Misere und den unzulänglichen vorgeschlagenen Maßnahmen klaffte eine riesige Lücke. Die Expertise war offenkundig ein Mittel, die Demonstranten zu beschwichtigen, und den Industrieministerien Zeit zu verschaffen. Dazu kam die zwiespältige Position der Experten: Die Bewohner erwarteten, dass sie Maßnahmen zur radikalen Verbesserung der Umweltsituation formulierten, doch nach dem Willen der Regierung in Moskau sollte Ust-Kamenogorsk weiterhin ein Knotenpunkt der Produktion von Nichteisenmetallen und der Uranwirtschaft bleiben. Dementsprechend bestand die Kommission aus Wissenschaftlern, die vom Segen der industriellen Entwicklung überzeugt waren. Umweltschützer oder ausländische Experten waren nicht vertreten.
Einer der Moskauer Experten, Pavel Florenskij, erklärte der Lokalpresse: „Es ist einfach zu sagen: ‚Schließen wir die Ventile, dann ist Schluss mit den Emissionen!‘ Wir werden sie auf keinen Fall schließen!“ Er schlug stattdessen vor, die Bildung der Stadtbevölkerung als „Hauptmotor der ökologischen Entwicklung“ zu fördern.[8] Die latente Unterstützung der Experten für die industrielle Entwicklung auf Kosten der Gesundheit der Einwohner ärgerte Nosikov, den Vorsitzenden des Stadtsowjets, der nach Moskau und Alma-Ata schrieb: „Wir beobachten mit großer Beunruhigung, dass das Tun und die Vorschläge der Gesandten des Obersten Sowjet der UdSSR […] von überholten Herangehensweisen an die Umweltprobleme und ihre Lösungen zeugen. Die Einwohner […] brauchen keine wissenschaftliche Rechtfertigung der Umweltkatastrophe, sondern entschiedene, unkonventionelle Maßnahmen zu ihrer Bewältigung.“[9]
Die Außerordentliche Staatliche Kommission für Notsituationen (GKTchS), ein 1989 geschaffenes Regierungsorgan, das die Reaktion der Behörden auf Natur- und technologische Katastrophen koordinieren sollte, erarbeitete eine originelle Lösung für das Problem der Umweltsanierung. Sie schlug vor, ausländische Investoren einzuladen, über Joint Ventures mit den Industriebetrieben Anlagen zur Behandlung von Giftabfällen zu eröffnen. Die GKTchS schlug sogar vor, ausländischen Firmen die Ausbeutung der Bodenschätze zu gestatten und die Umweltsanierung aus ihren Gewinnen zu finanzieren.[10] Aber die Industrieministerien, die die schwerwiegenden Probleme leugneten und die Leiden der Bevölkerung der „angespannten sozialen und psychologischen Situation“ in der Stadt anlasteten, lehnten ab. Der Vorschlag der GKTchS, die neuen, im Zuge des Übergangs zur Marktwirtschaft verfügbaren ökonomischen Instrumente zu nutzen, wurde daher begraben.
Die Gründung eines Streikkomitees im September 1990 kaschierte zudem nur notdürftig eine tiefe Spaltung der Arbeiterschaft. Die geheimen Produktionsstätten für Beryllium und radioaktive Stoffe für die Armee und die Raumfahrt (insbesondere die Werke „Keramika“ und UMZ) waren direkt den Moskauer Ministerien innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes unterstellt und konnten ihren Angestellten privilegierte Arbeitsbedingungen bieten. Die „normalen“ Fabriken hingegen waren nicht in der Lage, ihre Arbeiter vor den gravierenden Einbußen der Wendezeit in den 1990er Jahren zu schützen. Viele Bewohner waren daher erbittert über die privilegierte Position der Arbeiter in den geheimen Fabriken. Etwa hundert Arbeiter einer Werkzeugmaschinenfabrik protestierten in einem offenen Brief: „Die Direktion der UMZ, die bis vor kurzem von der Geheimhaltung profitierte, war froh, dass sie sich nur Moskau gegenüber zu verantworten hatte. Die lokalen Kontrollen waren ihr egal. Sie genoss Privilegien für sich und ihre Angestellten […]. Für die restliche Stadt war [die Fabrik] eine furchtbare Gefahr!“[11] Umgekehrt neigten die Arbeiter in den geheimen Fabriken zu der Annahme, dass sie mit den neuesten und saubersten Anlagen und Prozessen arbeiteten, während die Blei-Zink- und Titan-Magnesium-Kombinate mit ihren alten Öfen und filterlosen Schornsteinen sichtbar die Luft verpesteten. Dieser Zwiespalt untergrub die Einheit der Arbeiter gegen die industrielle und regionale Leitung.
Ein letzter Erklärungsansatz für das Scheitern der ökologischen Reformprozesse in der Stadt ergibt sich aus ihrer schwierigen Position während des Zusammenbruchs der UdSSR. Ust-Kamenogorsk und Ostkasachstan waren mit über 80 Prozent nicht-kasachischer Bevölkerung stark russifiziert. Wie in anderen Regionen in der Nordhälfte Kasachstans waren die Kasachen als Titularvolk klar in der Minderheit. 1990 bis 1991 lavierten die Volksdeputierten und die Abgeordneten des Stadtsowjets zwischen Moskau und Alma-Ata, wobei sie sich die strategischen natürlichen Ressourcen der Region zunutze machten. Erbost von der geplanten Reform der Sprachpolitik (Einführung von Kasachisch als einzige Amtssprache) und der Souveränitätserklärung Kasachstans, mit der die Kasachen zu den alleinigen Entscheidungsträgern über den Austritt aus der UdSSR wurden, drohte eine große Gruppe russisch-sowjetischer Abgeordneter Alma-Ata, in Übereinstimmung mit einem kurz zuvor verabschiedeten Gesetz, mit der Gründung eines russischen „Nationalbezirks“. Dieser wäre zur Abspaltung von Kasachstan befugt gewesen, sollte das Land den Austritt aus der UdSSR beschließen. Die Demonstranten von 1990 schimpften zwar auf die Moskauer Ministerien, die zuließen, dass ihre Fabriken die Stadt vergifteten. Doch diese Fabriken verbanden die Stadt auch mit Russland und der UdSSR, was einem Großteil der Bevölkerung wichtig war. Sie standen für die Integration in die UdSSR im Gegensatz zur Abhängigkeit von der als wirtschaftliche und kulturelle Bedrohung wahrgenommenen kasachischen Hauptstadt.
Mit Umweltproblemen allein gelassen
Selbst die dürftigen, von Moskau empfohlenen Maßnahmen wurden nicht umgesetzt. Ust-Kamenogorsk erhielt den von der Kommission befürworteten Status als Umweltkatastrophengebiet nicht. Die Ministerien entschädigten die Bewohner nicht und siedelten sie nicht um. Die Fabriken, die trotz der veränderten Eigentumsverhältnisse weiter für den russischen militärisch-industriellen Komplex produzierten, wurden erst recht nicht verlegt oder geschlossen. Die Atommülldeponie wurde nicht stillgelegt, sondern im Gegenteil noch ausgeweitet. Die tödliche Gefahr eines erneuten, schweren Unfalls lastete nach wie vor auf der Stadt, deren Bewohner weiter jeden Tag unzumutbaren Mengen an giftigen Schadstoffen ausgesetzt waren.
Die Demonstranten von 1990 hatten die Kluft zwischen den hohen Preisen, die die in der Stadt verarbeiteten Metalle erzielten, und der desaströsen Umweltsituation nicht mehr ertragen: Die hohen Unternehmensgewinne flossen nach Moskau und Ust-Kamenogorsk blieb mit seinen Umweltproblemen allein. Auch nach der Unabhängigkeit Kasachstans 1991 änderte sich die Situation nur insofern, als die Gewinne nun nach Almaty und Astana statt nach Moskau flossen. Doch die Stadt hat immer noch nicht die Mittel, um die dramatischen Gesundheitsprobleme zu bewältigen oder den Magnaten der Nichteisenmetalle die Stirn zu bieten. Das flüchtige Aufbäumen 1990 blieb eine einmalige Episode in der Stadtgeschichte und auf einer Linie mit den Umweltprotesten in anderen Teilen der UdSSR. Die Demokratisierung zwischen 1989 und 1991, die aus dem Zusammenbruch der UdSSR resultierende Unabhängigkeit und die Marktwirtschaft lieferten, wie das Beispiel Ust-Kamenogorsk zeigt, keine Lösungen für die Umwelt- und Gesundheitskrise.
Anmerkungen:
[1]) „Beschluss der ökologischen Versammlung der Einwohner der Stadt Ust-Kamenogorsk vom 27. 09. 1990“, Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), Bestand R-5446, Findbuch 163, Akte 1357, S. 34–37.
[2]) Die Hauptstädte der Sowjetrepubliken und Leningrad gehörten zwar zu den größten Emittenten der Union, die Schadstoffbelastung lag dort im Mittel aber nur bei 0,07 Tonnen jährlich pro Einwohner. Die Bevölkerung der Städte mit der höchsten Umweltbelastung und weniger als 500 000 Einwohnern war dagegen jährlich einer Tonne pro Einwohner, also dem 14-fachen an Schadstoffen ausgesetzt. Berechnung basierend auf Boldyrew, W.: Naselenie SSSR po dannym vsesojuznoj perepisi naselenija 1989 g., Moskau 1990, S. 21–26 und Feshbach, Murray; Friendly, Alfred: Ecocide in the USSR: Health and Nature Under Siege. New York 1992, S. 289–292.
[3]) „Beschluss der ökologischen Versammlung“ (Anm. 1).
[4]) „Offener Brief des Stadtkomsomols an den Präsidenten der UdSSR“, 19. 10. 1990, GARF R-5446, 163, 1357, S. 9–10.
[5]) Kasachstanskaja Pravda, 22. 09. 1990, S. 2.
[6]) „Expertengutachten zur sozialwirtschaftlichen Untersuchung der Stadt Ust-Kamenogorsk“, Staatsarchiv des Gebiets Ostkasachstan, Fond R-1387, Findbuch 2, Akte 42, S. 5–11.
[7]) „Beschluss der ökologischen Versammlung“ (Anm. 1).
[8]) Pavel Florenskij im Interview für die regionale Zeitung Guberniia, N° 23, Juli 1991.
[9]) Nosikov an Michail Gorbatschow, Nursultan Nasarbajev, etc. 25. 10. 1990. GARF R-5446, 163, 1357, S. 33.
[10]) Bericht von Tsygankov „Zur Umweltsituation in der Region Ostkasachstan“, GARF Fundus R-5446, Inventar 163, Dossier 1357, Blätter 11–13 (1. 10. 1990).
[11]) Impul’s, 28. 10. 1990, S. 3.
Übersetzung aus dem Französischen: Simone Gruhl.
Forschung und Übersetzung finanziert von der französischen Nationalen Forschungsagentur (ANR-20-FRAL-0004-01)
Marc Elie, Dr., CNRS, Centre d’études russes, caucasiennes, est-européennes et centrasiatiques, Aubervilliers.
Bild: Himmel über Ust-Kamenogorsk (2011), einem der Bergbauzentren Kasachstans mit hoher Schadstoffbelastung. (Foto: alexandergroshev (Wikimedia Commons))