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Buchbesprechungen

RGOW 11-12/2023
Regula M. Zwahlen

Zwei Buchbesprechungen zu
Nicholas Denysenko: The Church’s Unholy War; 
Evert van der Zweerde: Russian Political Philosophy


Nicholas Denysenko
The Church’s Unholy War
Russia’s Invasion of Ukraine and Orthodoxy
Eugene, OR: Cascade Books 2023, 160 S.
ISBN: 978-1-6667-4815-4. € 27.99; CHF 37.90.

Im „unheiligen Krieg“ Russlands gegen die Ukraine spielen die Kirchen eine gewichtige Rolle. Die Verleihung der Autokephalie an die Orthodoxe Kirche der Ukraine durch den ökumenischen Patriarchen Bartholomaios Anfang 2019 sieht Nicholas Denysenko nicht als Kriegsursache, aber als ein bedeutendes Ereignis in einer langen, spannungsreichen Geschichte zwischen Russen und Ukrainern (S. 135). In der Weigerung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), der ukrainischen Orthodoxie die Autokephalie zu verleihen, sieht Denysenko einen politischen Akt, der wesentlich die Weigerung des gegenwärtigen russischen Regimes widerspiegelt, die nationale Souveränität der Ukraine anzuerkennen (S. 13).

Das Buch liest sich als Fortsetzung des 2018 vorgelegten Buchs „The Orthodox Church in Ukraine. A Century of Separation“ (vgl. RGOW 4–5/2019, S. 47) desselben Autors, in dem er bereits die Komplexität der ukrainisch-russischen Kirchengeschichte im 20. Jahrhundert dargelegt hatte. Die dramatischen Entwicklungen seit 2018 bis zum Angriffskrieg und danach werden im aktuellen Buch nicht chronologisch, sondern thematisch dargestellt. Das erste Kapitel rekapituliert die imperiale Periode, als die ukrainischen, im Austausch mit westlichen Kirchen und Sakralkunst geprägten kirchlichen Traditionen zurückgedrängt wurden. Die im 19. Jahrhundert forcierte Verschmelzung der „Kyjiwer Rus“ mit dem russischen Imperium stieß auf konstanten Widerstand, was 1921 in der Gründung der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche zum Ausdruck kam. Kapitel 2–4 stellen die Verflechtung der politischen und kirchlichen Entwicklungen von 1991 bis 2020 dar, die russischen „soft power“-Konzepte in der Ukraine – einschließlich des Zulassens „milder Ukrainisierung“ innerhalb der „Russischen Welt“ –, die Schlüsselrolle der „Revolution der Würde“ (2013/14) und den Entscheidungsprozess des Ökumenischen Patriarchats.

Im fünften Kapitel werden exemplarische Fälle von Diskriminierungsversuchen ukrainischer Anliegen durch russisch-orthodoxe Akteure seit den ersten Unabhängigkeitsbestrebungen von 1918 bis zu Patriarch Kirills Kriegspredigten als „hate speech“ analysiert. Kapitel 6 erörtert die Reaktionen der russischen und ukrainischen Kirchen auf den Krieg und vor allem die Position der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die im Mai 2022 ihre Unabhängigkeit von Moskau deklariert hat. Das letzte Kapitel ist dem gesamtorthodoxen Kontext gewidmet, wo Denysenko eine „Krise der Gleichgültigkeit“ diagnostiziert und Lösungsansätze formuliert, wie Versöhnung unter neuen Bedingungen aussehen könnte.

Regula Zwahlen

Evert van der Zweerde
Russian Political Philosophy. Anarchy, Authority, Autocracy
Edinburgh: Edinburgh University Press 2022, 289 S.
ISBN 978-1474460378. € 104.49; CHF 135.–.

Die Gesamtschau über politische Philosophie in Russland zeigt anschaulich, dass „Philosophie nicht ‚politische Philosophie‘ sein muss, um politisch zu sein“ (S. 21). Der Autor, Spezialist für russische und sowjetische Philosophie, stellt die vielfältigen Elemente, die russisches politisches Denken bis heute bestimmen, in elf Kapiteln dar. Dabei liegt der Fokus klar auf der Kontinuitätslinie „Russisches Zarenreich – Sowjetunion – Russländische Föderation“, die ohne postkolonialen Blick auf andere postimperiale Staaten vorausgesetzt wird. Politische Fragen zum Zusammenleben im multikonfessionellen Vielvölkerstaat, denen sich beispielsweise der ukrainische Historiker Mychajlo Drahomanov (1841–1895) gewidmet hatte, finden im Buch keine Erwähnung.

Natürlich zwingt der explizit einführende Charakter des Buches zur selektiven Darstellung. Die klassischen Themen politischer Philosophie in Russland – diverse Formen sozialistischen, anarchistischen, marxistisch-leninstischen, eurasischen, liberalen und christlichen politischen Denkens – werden in ihrer gegenseitigen Relation wie auch zu ihren westlichen Inspirationsquellen und im jeweiligen politischen Kontext einem fachfremden Zielpublikum präsentiert. So wird gezeigt, dass die notorische Gegenüberstellung von „Westlern und Slavophilen“ keinem „Links-Rechts-Schema“ entspricht, sondern Denkweisen auszeichnet, die in unterschiedlicher, aber progressiver Weise auf Aspekte der Modernisierung reagierten (S. 27–28).

Zu begrüßen ist der Einbezug mehrerer Philosophinnen wie Alexandra Kollontai, Maria Skobtsova oder Raya Dunayevskaya wie auch von Philosophen im Exil, deren russische Herkunft keine zentrale Rolle spielte: Isaiah Berlin, Ayn Rand und Alexandre Kojève. Die Schlusskapitel widmen sich dissidenten Positionen (Alekandr Zinov’ev, Aleksandr Solzhenitsyn, Andrei Sakharov), der Suche nach der „russischen Idee“ sowie postsowjetischen Denkern wie Sergej Horjuy, Vladimir Bibichin oder Artemy Magun. Der Ideologe Alexander Dugin wird nicht unkritisch präsentiert, dennoch erstaunt das ihm eingeräumte Gewicht wie auch die Darstellung von Putins „‚neuem‘ und selbstbewussten Russland“ als stabilen modernen Staat, der seine „traditionellen Werte“ verteidige und relativ große Freiheiten gewähre (S. 184–185). Nur ein kurzes Nachwort nimmt auf den im Publikationsjahr begonnen Krieg Russlands gegen die Ukraine Bezug und hofft, dass „zwei Generationen von Russen, die gelernt haben kritisch und unabhängig zu denken“ (S. 211) auf das kritische Potential der politischen Philosophie in Russland zurückgreifen werden.

Regula Zwahlen

Bild: Shutterstock.com

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