
Machterhalt um jeden Preis. Putins Mafia-Staat und sein endloser Krieg
RGOW 04/2023
Unter Putin hat sich in Russland ein Mafia-Staat etabliert, der auf Loyalitätskauf und Terrormethoden beruht. Oberstes Ziel der Machtelite ist die Regimestabilität. Die Instrumentalisierung des imperialistischen Diskurses und der Krieg gegen die Ukraine dienen dem Machterhalt. Sollte Putin in der Ukraine geschlagen werden, wird er einen „Krieg gegen den Terror“ gegen die eigene Bevölkerung entfachen. Die Vorbereitungen dazu sind bereits jetzt erkennbar.
Wie lässt sich die seit dem Zweiten Weltkrieg beispiellose Situation, in der sich Europa und die USA angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine befinden, am besten verstehen? Der Nebel des Krieges erschwert die Aufgabe, sich ein Gesamtbild der Situation zu verschaffen. Drei Frontlinien lassen sich jedoch erkennen: Die moralisch und ideologisch begründete emotionale Reaktion der freien Welt führt derzeit einerseits zu Waffenlieferungen an die Ukraine, wo die wichtigste erste Front im Kampf gegen Putin stattfindet, und andererseits zum wirtschaftlichen und politischen Druck auf das russische Regime als zweiter Frontlinie.
Gleich zu Beginn der Großinvasion im Februar 2022 haben aufmerksame Beobachter darauf hingewiesen, dass ein viel größerer Teil der russischen Bevölkerung als bei der Annexion der Krim 2014 Putins Krieg ablehnt. Sie haben auch den überwältigend Anti-Putin-Charakter der jüngsten Emigration betont, auch wenn viele aus Angst vor persönlichem Schaden aus Russland fliehen. Die seit Stalins Zeiten beispiellosen Repressionen haben den Nebel des Krieges jedoch noch verstärkt, so dass es sehr schwierig ist, das zu erkennen und zu fördern, was als dritte Front gegen Putin bezeichnet werden kann, nämlich die interne Front vieler Russinnen und Russen, sei es in Russland oder im Exil.
Ein hundertjähriger Bürgerkrieg
Ein Blick auf das Gesamtbild lässt sich nicht auf die Irrungen und Wirrungen der postsowjetischen Jahrzehnte in Russland reduzieren. Vielmehr haben wir es mit dem Finale eines vielschichtigen und jahrhundertelangen Dramas zu tun, das sich seit dem Zusammenbruch des Russischen Imperiums im Februar 1917 im gesamten osteuropäischen Raum abspielt. Man könnte sogar von einem hundertjährigen Bürgerkrieg sprechen, dessen Wesen darin besteht, dass einerseits die Bevölkerungen des osteuropäischen Raums ein modernes Gesellschaftssystem anstreben,[1] und dass sich dem andererseits diejenigen Kräfte, die traditionalistische, d. h. archaische oder reaktionäre Werte der Vergangenheit verfolgen, widersetzen.
Dabei gilt es jedoch zwei Einschränkungen zu beachten: Erstens sollte die über hundertjährige Dauer dieses Phänomens nicht als kontinuierlicher physischer Kampf verstanden werden. Mit der Gründung der Sowjetunion im Jahr 1922 waren die militärischen Auseinandersetzungen im ehemaligen imperialen Raum zu Ende. Danach gelang es der siegreichen gesellschaftlichen Kraft des Bolschewismus,[2] seine Legitimität auf der Grundlage der modernen Ideologie des internationalen Kommunismus/Sozialismus zu erhalten. Dies half Stalin und seinen Nachfolgern, die gegnerischen, liberal-demokratischen Modernisierungskräfte, die in der Struktur der sowjetischen Gesellschaft noch vorhanden waren, dauerhaft zu kontrollieren.
Zweitens sollte der Begriff „Bürgerkrieg“ nicht zu wörtlich genommen werden. Einen Kampf von „Bruder-gegen-Bruder“, bei dem sich Menschen mit ähnlichem soziokulturellem Hintergrund und ähnlichen Alltagspraktiken gegenseitig umbringen, gab es nur während des ersten Aktes, von 1918 bis 1922. In geringerem Maße tauchte er in den Jahren 1942 bis 1956 wieder auf: vom von Deutschland unterstützten Widerstand gegen die Sowjetherrschaft bis zum Ende des Partisanenkriegs der „Waldbrüder“ in Litauen. In einem weiteren Sinne lässt sich der lange Bürgerkrieg in Russland als eine grundsätzliche Konfrontation zwischen einer an der Moderne orientierten Zivilgesellschaft, unabhängig von ihrem Reifegrad, und der Vlast’ (dt. Macht)[3] verstehen, d. h. eines Machtsystems, das auf den Interessen seines archaischen Kerns, korrupter Bürokratie und Mechanismen der Massenindoktrination beruht.[4]
Putins Mafia-Staat
Das post-imperiale gesellschaftliche Streben nach modernen Freiheiten und Rechten, nach größerer sozialer Gerechtigkeit und Beteiligung wurde durch den erwähnten Traditionalismus massiv behindert. Den gesellschaftlichen Kräften, die für traditionalistische Werte eintraten, gelang es fast jeden Vorteil zu nutzen, indem sie asymmetrisch agierten. Bereits Stalins personalisierte Herrschaft wurde asymmetrisch durch eine spezifische Gangsterethik gestärkt, die durch die modernistische Legitimität des internationalen Kommunismus, ein Versprechen an mehrere Zielgruppen weltweit, gefördert, wenn auch eingeschränkt wurde. Demgegenüber lässt sich Putins seit 2004 gefestigtes Machtsystem als eine ideologisch uneingeschränkte mafiöse Herrschaft beschreiben. Ihre einzige Legitimationsquelle ist die Unterstützung durch die interne Öffentlichkeit, solange es die Ressourcen der Herrschenden erlauben, deren Loyalität zu kaufen und zu manipulieren. Deshalb ist im Falle Putins die Charakterisierung seiner Herrschaft als „mafiös“ im Vergleich zu Stalins Herrschaft zutreffender: Im Gegensatz zu Stalins Herrschaft, die im Sinne von Hannah Arendt in der Einsamkeit wurzelte, bedeutet Putins Herrschaft ein unermüdliches Engagement nicht nur für seinen persönlichen, sondern für den höchsten Wert seiner Gruppe – den Wert der „Regimestabilität“, d. h. seiner Unersetzlichkeit. Das ist der höchste, aber nur einer von vielen Werten dieser Gruppe, zu denen auch eine spezifische Freundschaftsethik gehört, die auf einer „künstlichen Verwandtschaft“ beruht – zusammengehalten durch den Wunsch, weiterhin „zu lügen und zu stehlen“ und unbegrenzt in exzessivem Luxus zu leben, also die eigene Machtposition mit charakteristisch traditionalistischen Mitteln zu erhalten.[5]
Sozialstudien zu den Beziehungen zwischen Staat und Mafia am Beispiel Siziliens oder Mexikos haben Staat und Mafia als grundlegend unterschiedliche Akteure dargestellt. Dagegen offenbart die Verschmelzung von organisiertem Verbrechen und korrupter Staatsjustiz im postsowjetischen Russland das neue Phänomen eines „Mafia-Staates“.[6] Die Vlast’ muss dazu den Staat vereinnahmen („state capture“), der Kern des Regierungssystems auf mafiösen Werten und der Fähigkeit basieren, sich mit terroristischen Mitteln verschiedener Art auszustatten sowie Informationen zu manipulieren.[7] Ironischerweise hilft kaum etwas besser beim Verständnis der Grundlagen von Putins Macht als die Worte von Roman Rudenko, einem der vielen unbestraften Handlanger Stalins, der 1945 als Hauptankläger der UdSSR bei den Nürnberger Prozessen mitwirkte: „Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ist die Justiz mit Verbrechern konfrontiert, die sich eines ganzen Staates bemächtigt und diesen Staat zum Instrument ihrer ungeheuerlichen Verbrechen gemacht haben.“[8] Nach Hitler geschieht dies unter Putin zum zweiten Mal in der Geschichte der großen Weltmächte und zum ersten Mal aus rein mafiösen und nicht ideologischen Gründen.[9]
Die Gedanken von Bálint Magyar zu Ungarn als Mafia-Staat der EU geben Aufschluss über die modernen Mechanismen der Staatsvereinnahmung.[10] Ein noch umfassenderer Fall postkommunistischer Staatsmafia-Verschmelzung unter Nutzung der Ressourcen des ehemaligen KGB offenbart sich mit Putins Entfesselung des Kriegs gegen die Ukraine. Die Definition von Bálint Magyar und Bálint Madlovics wird so noch konkreter: „Ein mafiöser Staat ist ein Staat, der von einer adoptierten politischen Familie regiert wird, die die politische Macht in einem demokratischen Umfeld patrimonialisiert und auf räuberische Weise ausnutzt, wobei sie sich routinemäßig über formale Gesetze hinwegsetzt und den Staat als kriminelle Organisation betreibt. Mit anderen Worten, der Mafia-Staat ist eine Kombination aus einem Clan-Staat, einem neopatrimonialen/neosultanistischen Staat, einem Raubtierstaat und einem kriminellen Staat.“[11]
Auf der anderen Seite dieser Wertekluft gibt es eine ganze Reihe Akteure, die von gut organisierten wie im Fall der Bewegung von Navalnyj oder der Stiftung Memorial bis hin zu weitgehend nicht organisierten reichen, wie es bei Mitgliedern der russischen Diaspora sehr häufig der Fall ist. Was diejenigen betrifft, die in Russland bleiben, so sind sich die Analysten einig, dass die Mehrheit eine Strategie der Bewältigung und des Schweigens gewählt hat. Dies konnte geschehen, weil die eher lose Antikorruptions- und Antikriegsmoral der meisten mutmaßlich verdächtigen Russen unterdrückt wurde, indem der Regierungsterror gegen die Bevölkerung mit Kriegsmitteln legitimierte wurde.
Drei Hauptgründe für Putins Krieg
Was sich gegenwärtig in der Ukraine abspielt, ist Teil eines sehr langen und komplexen soziokulturellen Konflikts. Deshalb sollte man nicht in die Falle tappen, in die der bekannte Historiker Timothy Snyder getappt ist, indem er davon ausgeht, dass der Krieg in der Ukraine „imperialistisch“ oder „kolonial“ ist, und nicht nur ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Mafia-Herrschaft durch Terror, der nun über die Grenzen Russlands hinaus ausgeübt wird. Es ist dieser Instrumentalismus, der den Krieg erklärt, und keineswegs die vermeintliche Inspiration durch russische faschistische Philosophen der Vergangenheit (Ivan Iljin) oder der Gegenwart (Alexander Dugin). Die Genealogie von Putins Interessengruppe, die einen perfekten Mafia-Staat geschaffen hat, zeigt deutlich genug, dass sie sich schon früh darüber im Klaren war, was sie zum Machterhalt braucht, indem sie das Prinzip „anything goes“ verfolgte und zynisch die Elemente des bereits bestehenden und keineswegs dominanten imperialistischen Diskurses manipulierte und verstärkte.
Der ukrainische Faktor, ohne den die Instrumentalisierung des imperialistischen Diskurses für Putin nicht möglich wäre, ist gewiss ein wichtiger Teil des Gesamtbildes. Aber in einem viel praktischeren Sinne war die wirkliche Bedrohung für Putin die langsame, aber stetige Erholung der Ukraine von den postsowjetischen Turbulenzen. Die pro-demokratische Entscheidung der Ukraine gegen Korruption und mafiöse Strukturen, ihre Aussichten, Russland wirtschaftlich zu überflügeln, sowie ihre wachsende Fähigkeit, sich militärisch gegen den mafiösen Nachbarn zu verteidigen, sind einer der drei Hauptgründe für Putins Krieg.
Der Ukraine-Faktor ist jedoch nur zweitrangig im Vergleich zu dem innenpolitischen Problem der von Putin wahrgenommenen Verwundbarkeit seiner Macht: Wenn er seine soziale Position verlöre, wäre er unakzeptablen Risiken ausgesetzt, nachdem er zahlreiche Verbrechen vor allem gegen sein eigenes Volk begangen hat. Man sollte von dem Axiom ausgehen, dass im Falle des russischen Mafia-Staates alle externen Handlungen und Probleme von den internen ungelösten Problemen abgeleitet sind. Dies betrifft auch die unvollständige Legitimität der Regierung, die sich durch die Präsidentschaftswahlen 2024 in eine vollständige Illegitimität verwandeln kann. Allem Anschein nach fürchtet dies Putin sehr, vor allem nach dem Legitimitätsverlust von Alexander Lukaschenka in Belarus im Jahr 2020.
Wenn man nun davon ausgeht, dass Putin diesen Krieg entfacht hat, um interne Probleme zu lösen, warum hat er ihn dann im Februar 2022 begonnen? Die Antwort muss im Bereich der wahrgenommenen persönlichen Sicherheitsgarantien liegen. Er brauchte eine Amtszeit, um das Fundament seiner mafiösen Herrschaft zu festigen, aber es kostete ihn viel mehr Zeit, zahlreiche Sicherheitspuffer und mehrere Schutzschichten zu schaffen, um sicherzustellen, dass keine legale konkurrierende politische Kraft die „Regimestabilität“ beeinträchtigen kann, aber auch kein Palastputsch mehr möglich ist. Die hierzu notwendige Arbeit wurde in zwei Dimensionen geleistet: der technologischen mit dem wohl teuersten Personenschutzsystem der Menschheitsgeschichte und Zehntausenden von Mitarbeitern, die ausschließlich für diesen Zweck arbeiten, sowie der menschlichen, mit der jahrzehntelangen Negativauslese derjenigen, die es niemals wagen würden, gegen den capo di tutti capi vorzugehen, auch wenn seine Handlungen praktisch jedes Elitemitglied unglücklich machen. Mit diesen Faktoren lässt sich erklären, warum die Aggression gegen die Ukraine Ende Februar 2022 begann: Erstens und primär, die interne russische Situation, zweitens die zunehmende praktische und nicht ideologische Rolle des ukrainischen Faktors und drittens die wahrgenommene persönliche Sicherheitszulänglichkeit.
Drei Szenarien
Nachdem der Krieg begonnen hat, kann er für Putin mit seiner spezifischen Mafia-Ethik entweder nur siegreich oder endlos sein, weil letzteres seine fortwährende Kontrolle über die Situation im eigenen Land gewährleistet. Aus Putins Sicht gibt es nur drei mögliche Szenarien. Sein Szenario A war nach allgemeiner Auffassung ein Blitzkrieg, der jedoch innerhalb eines Monats nach der Invasion scheiterte. Daher kam Plan B zur Anwendung, ein langwieriger Krieg, der sich aus der militärisch-politischen Situation ergibt, falls die Ukraine ihren Siegeswillen nicht verliert und gleichzeitig die notwendigen Ressourcen aufbaut, um dem Aggressor Widerstand zu leisten und ihn zurückzuschlagen. Das bedeutet, dass auch Plan B für Putin nicht der finale sein kann.
Was bleibt, ist Plan C, der in vollem Umfang in Gang gesetzt wird, wenn das Scheitern des langwierigen Krieges für die russische Elite und den Großteil der Bevölkerung offensichtlich wird. Dieser Plan sieht – vorausgesetzt, die freie Welt unterstützt die Ukraine konsequent – einen vollständigen oder nahezu vollständigen Rückzug von Putins Truppen vor. Dieser Plan kann nur innerhalb Russlands selbst umgesetzt werden, d. h. durch aufwändige massive Aktionen gegen einen wachsenden Teil der russischen Bevölkerung, der eine zunehmende Gefahr für Putins „Regimestabilität“ und seine persönliche Sicherheit darstellt. Dies würde bedeuten, zum letzten Kapitel des hundertjährigen Bürgerkriegs überzugehen, dessen letzter Akt am 24. Februar 2022 begann. Wir wissen zwar noch nicht, ob, wann und wie Plan B scheitern wird, aber wenn Plan C zur Ausführung gelangen sollte, lässt sich seine operative Philosophie bereits mehr oder weniger vorhersagen, die unter dem Vorwand einer „Antiterroroperation“ umgesetzt werden wird.
So wird Putin zur letzten Phase seines Krieges übergehen müssen – dem Krieg gegen seinen Hauptfeind, der sich weder in der Ukraine noch in den USA befindet, sondern in Russland: gegen die russischen Bürgerinnen und Bürger, die politische Partizipation, eine Rechtsordnung und Gerechtigkeit fordern und Putins langjähriges Bemühen untergraben, sein politisches und in seinen Augen auch physisches Ende hinauszuzögern.
Derzeit steckt Plan C noch in den Kinderschuhen, doch es gibt Anzeichen dafür, dass sich der für seine Umsetzung erforderliche sozio-politische Kontext vor unseren Augen herausbildet. Es ist ein Kontext, der Putins Regime auf den massiven Einsatz entsprechender Kriegsführungsmethoden vorbereitet. Sie werden immer deutlicher und vervielfachen sich, wenn wir sehen, wie Putin den FSB auffordert, „diesen ganzen Abschaum“ zu bekämpfen, d. h. Feinde im Inneren, neue Verhaftungen und immer weniger formale Vorwände für Repressionen gegen jeden, der als Beispiel zur Einschüchterung der Bevölkerung dienen kann. Die Oberhand gewinnt dabei die Methode des „Bezugs auf einen äußeren Feind“, d. h. die immer häufiger beschworene angebliche Russophobie des Westens, der einzelne Russen dazu bewege, als vom Westen angeheuerte Saboteure zu agieren. Wer nicht daran glaubt, dass Putin und seine Mafia bereit sind, die letzten Verteidigungslinien innerhalb Russlands durch das Schüren eines internen „Kriegs gegen den Terror“ einzunehmen, der sollte sich daran erinnern, dass wir auch nicht an einen massiven Angriff auf die Ukraine geglaubt haben, weil es eine Verlust-Strategie ist.
Die dritte Front und die russische Bevölkerung
Aus der Perspektive eines langen Bürgerkriegs ist aber auch Putins Plan C zum Scheitern verurteilt, da er und sein Regime die Kräfte der Vergangenheit repräsentieren. Es ist jedoch äußerst besorgniserregend, dass Putin seinem eigenen Volk noch viel mehr zusätzlichen Schaden zufügen kann. Er hat in der Ukraine die Fähigkeit bewiesen, massive Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen. Dies stellt auch eine Warnung an die russische Bevölkerung dar, was er ihr antun kann, sollte sie es wagen, sich ihm zu widersetzen.
Angesichts aller organisatorischen Aspekte von Putins Macht, seiner verschiedenen Ressourcen und Sicherheitsbarrieren ist die Umsetzung von Plan C gegenwärtig wahrscheinlicher als ein Palastputsch. Der von der Mafia eroberte Staat genießt immer noch die Vorteile einer asymmetrischen, traditionalistischen Reaktion auf die Anforderungen der modernen Gesellschaft. Putin ist noch nicht in die Enge getrieben, so dass er sich noch nicht entscheiden muss, ob er sich entweder selbst umbringt, umgeben von vielen Landsleuten als Geiseln, oder ob er ein minimal akzeptables Überleben zu den Bedingungen eines Siegers aushandeln soll. Mit Blick auf die Ressourcenallokation wird immer offensichtlicher, dass Putin mehr in Plan C investiert als in den immer noch in Kraft befindlichen Plan B. Die Kosten des letzteren steigen, aber im Vergleich zum ersteren nur mit Verzögerung.
Angesichts der Desorganisation der russischen Zivilgesellschaft im Vergleich zur gut organisierten und gut ausgerüsteten russischen Mafia-Herrschaft in ihrer hochgradig personalisierten Hypostase des Putinismus ist es schwierig, auf der Grundlage von Stimmungen und Prädispositionen der Russinnen und Russen innerhalb und außerhalb des Landes über deren Potenzial und Optionen, das Geschehen zu beeinflussen, zu sprechen. Der Prozess einer organisierten Strukturierung der Anti-Putin-Kräfte in der Diaspora steht erst am Anfang. Vieles wird von der Situation auf dem Schlachtfeld in der Ukraine abhängen, aber die Ressourcen der dritten Front gegen Putin, die von Russen selbst, vor allem im Ausland, getragen wird, sind durch den Auftrieb der jüngsten politisch motivierten Emigration gewachsen. Es handelt sich dabei um die siebte, am stärksten politisierte Emigrationswelle in der russischen Geschichte, während die Emigranten der sechsten Welle im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts neue persönliche Möglichkeiten suchten.[12]
Die Politisierung der russischen Bevölkerung ist ein langer Prozess, der durch die nicht ganz legale Rückkehr Putins als Präsident im Jahr 2012 und durch das Vordringen einer echten, effektiven Opposition unter der Führung professioneller, d. h. polittechnologisch versierter und öffentlichkeitsorientierter Politiker wie Alexej Nawalnyj, Jevgenij Roizman oder Ilja Jaschin ausgelöst wurde. Es könnte sich als eine Illusion erweisen, dass Putins Aggression gegen die Ukraine diesem Prozess ein Ende gesetzt hat. Je weiter die Ereignisse voranschreiten, desto deutlicher werden die Aussichten der dritten Front im tobenden Krieg, der höchstwahrscheinlich mit dem politischen Ende seines Initiators enden wird, zumindest aus sozialwissenschaftlicher Sicht.
Anmerkungen:
[1]) Vgl. Welzel, Christian: Freedom Rising: Human Empowerment and the Quest for Emancipation. Cambridge 2013.
[2]) Die erste Analyse des Bolschewismus als reaktionäre Kraft schrieb Heyking, Baron: The Root Causes of Bolshevism. In: Journal of Comparative Legislation and International Law 10, 4 (1928), S. 248–258.
[3]) Erofeev, Sergei: Opposing Vlast: The Kasparov–Volkov Debate and New Critical Perspectives on Russia. In: Ab Imperio 2 (2022), S. 257–266.
[4]) Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=QNJixEX6mRs
[5]) Putin entwickelte diese Freundschaftsnetzwerke mit der sog. „See-Datscha-Kooperative“ (Kooperativ Ozero). „Nicht lügen, nicht stehlen“ entwickelte sich daher auch zum zentralen Slogan der Bewegung von Alexej Navalnyj.
[6]) Vgl. Stephenson, Svetlana: Gangs of Russia: From the Streets to the Corridors of Power. Ithaca 2015; Galeotti, Mark: The Vory: Russia’s Super-Mafia. Yale 2018.
[7]) Guriev, Sergei; Treisman, Daniel: Spin Dictators. The Changing Face of Tyranny in the 21st Century. Princeton 2022.
[8]) https://avalon.law.yale.edu/imt/02-08-46.asp
[9]) https://www.idelreal.org/a/32046202.html; https://www.idelreal.org/a/32162592.html
[10]) https://www.project-syndicate.org/commentary/orban-hungary-mafia-state-by-balint-magyar-2017-06
[11]) Magyar, Bálint; Madlovics, Bálint: The Anatomy of Post-Communist Regimes. A Conceptual Framework. Budapest 2020, S. 106.
[12]) Erofeev, Sergei: Aufruhr und Frust: Die Mobilisierung der russischen Diaspora. In: RGOW 49, 10 (2021), S. 20–21.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen und Stefan Kube.
Sergei Erofeev, PhD, Professor für Soziologie an der Rutgers University in den USA.
Bild: Bereits 2011 wurde Russland unter Putin als Mafia-Staat bezeichnet (Foto: Shutterstock.com /Sodel Vladyslav).