Aufbruchstimmung. Polens Rechte verliert die Macht
RGOW 01/2024
Die Parlamentswahl vom 15. Oktober 2023 hat der langjährigen Regierungszeit der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in Polen ein Ende gesetzt. Der Regierungswechsel verdankt sich einer rekordhohen Wahlbeteiligung, allerdings bleibt die PiS die stärkste Partei. Die neue Regierungskoalition steht vor enormen Aufgaben, wenn sie die von ihren Vorgängern ausgehöhlte Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen will. Der PiS-nahe Staatspräsident versucht die Arbeit der neuen Regierung zu obstruieren.
Die Parlamentswahl am 15. Oktober 2023 zählt zu den wichtigsten Ereignissen der polnischen Zeitgeschichte seit 1989. Die Mehrheit der Wähler hat für einen rechtsstaatlichen und politischen Neuanfang gestimmt. Aber viele der anstehenden Aufgaben lassen sich nicht von heute auf morgen erledigen. Der polnische Historiker Andrzej Friszke, dem wir eine Reihe wichtiger Forschungsarbeiten zur Geschichte der demokratischen Opposition im Kommunismus verdanken, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Polen gegenwärtig erneut eine Zäsur wie im Jahr 1989 erlebe.[1] So wie damals, betonte er, gehe es auch heute darum, das demokratische System neu zu begründen. Dies sei die entscheidende Aufgabe der neuen Regierung und überhaupt der polnischen Gesellschaft. An vielen Beispielen machte Friszke deutlich, dass nach dem Machtantritt der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński im Jahr 2015 Phänomene wie Nationalismus, Autoritarismus und Populismus stark an Bedeutung gewonnen haben.
Anleihen bei Roman Dmowski und Carl Schmitt
In der Tat zeigte sich der Nationalismus der PiS bei der Hervorhebung der Polen als „auserwähltes Volk“, im Umgang mit dem deutschen Nachbarn und auch in der Art und Weise, wie polnisches Recht vor EU-Recht gesetzt wurde. Autoritäres Handeln wurde deutlich bei der Schwächung der freiheitlichen Demokratie und des Rechtsstaates durch die Stärkung der Exekutive auf Kosten der Legislative und Judikative sowie bei der Bekämpfung aller Initiativen der Zivilgesellschaft. Schließlich bediente sich Kaczyńskis Partei der gleichen populistischen Instrumente wie die Rechte in anderen europäischen Ländern.[2] Dazu zählt insbesondere die Vorstellung von der Existenz eines moralisch reinen, homogenen Volkes, dem unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen, die bekämpft und aus allen staatlichen und öffentlichen Institutionen entfernt werden müssen. Für die polnischen Nationalkonservativen ist der Katholizismus Staatsreligion. Sind sie an der Macht, betrachten sie den Staat als ihr Eigentum, dessen Ressourcen sie schamlos für ihre parteipolitischen Interessen nutzen. Unter ihrem Einfluss gerieten die öffentlich-rechtlichen Medien zu einem Instrument ihrer Regierungspropaganda. Geschichtspolitik betrieben sie als affirmative Heldenverehrung, nicht als verantwortungsbewusste Analyse und produktive Diskussion über die historischen Errungenschaften und auch Schwächen bzw. Fehler des eigenen Volkes. Die Regierungspolitik der PiS war zudem extrem frauenfeindlich.[3]
Historiker wie Andrzej Friszke und Publizisten haben schon vor Jahren auf gewisse Analogien zwischen dem ideologisch-politischen Handeln der PiS und dem der Kommunisten hingewiesen, die bis 1989 die Macht in Polen ausübten. Das gilt vor allem für den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński bzw. die von ihm gesteuerte Parteizentrale, die wie das Politbüro in kommunistischen Zeiten wesentliche Regierungsentscheidungen vorgab. In dieses Bild passt die Schaffung einer Nomenklatur aus Parteifunktionären, die als solche an wesentlichen Schaltstellen des Staates platziert wurden. Doch die PiS steht auch in der Tradition von Roman Dmowski, einem nationalistischen Politiker der Zwischenkriegszeit. Und Jarosław Kaczyński hat sich auch mehrfach öffentlich zur Doktrin des Dezisionismus des deutsch-nationalen Politikwissenschaftlers Carl Schmitt bekannt.[4]
Höchste Wahlbeteiligung seit 1989
Es war gerade die Art und Weise der Machtausübung der PiS, die eine Mehrheit der polnischen Wähler am 15. Oktober dazu veranlasste, für einen Neuanfang zu stimmen. Besonders bei den großen Demonstrationen im Vorfeld der Wahl kam dieser Wunsch deutlich zum Ausdruck. Die vorherrschende Stimmung unter den Demonstranten war bestimmt durch Freundlichkeit, Optimismus und Solidarität, also ganz im Gegensatz zur Politik des Hasses, der Konfrontation und der gesellschaftlichen Spaltung, wie sie von den Nationalkonservativen in den acht Jahren zuvor betrieben worden war. Der Soziologe Michał Kotnarowski von der Polnischen Akademie der Wissenschaften sagte in einem Zeitungsinterview: „Durch die Wahl im Oktober wurde die Mehrheit der Gesellschaft aktiviert, die damit zum Ausdruck bringen wollte, dass die Polen anders sind als jene, die vorher regierten und von sich behaupteten, dass nur sie die Nation repräsentieren würden. Bei unseren Untersuchungen haben wir festgestellt, dass das Interesse an Politik steigt […]. Seit einigen Jahren engagieren sich die Polen stärker auf verschiedenen politischen Feldern wie etwa Protestdemonstrationen, dem Unterzeichnen von Petitionen, dem Boykott bestimmter Produkte […]. Die beiden großen Demonstrationen, die von der Opposition organisiert wurden, vermittelten das Gefühl, dass jetzt genau der Moment gekommen ist, in dem viel von den Menschen selbst abhängt.“[5]
Deutlich wurde dies insbesondere an der Wahlbeteiligung am 15. Oktober, die für den Sejm bei 74,38 Prozent und für den Senat bei 74,31 Prozent lag und damit den höchsten Wert seit dem Systemwechsel im Jahr 1989 erreichte.[6] In den Städten mit mehr als 250 000 Einwohnern lag die Wahlbeteiligung zum Teil über 80 Prozent, während sie in Gemeinden mit weniger als 10 000 Einwohnern in der Regel weniger als 70 Prozent betrug. Seit 2018 hatte es bei den aufeinanderfolgenden Wahlen – zur Selbstverwaltung, zum Europäischen Parlament, zu Sejm und Senat sowie bei der Präsidentenwahl – jeweils neue Rekorde bei der Wahlbeteiligung gegeben, die aber noch nicht den Wert der jüngsten Wahl erreichten. Bei der Abstimmung am 15. Oktober gingen mehr junge Menschen zu den Wahlurnen als je zuvor. Auch der Anteil der Frauen, die diesmal ihre Stimme abgaben, stieg auf den höchsten Wert seit 1989.
Werfen wir einen Blick auf das Ergebnis der einzelnen Parteien: Bei der Wahl zum Sejm landete die nationalkonservative Partei PiS mit 35,39 Prozent (194 Mandate) erneut auf dem ersten Platz, verfehlte aber deutlich ihr Ergebnis von 2019, als sie auf 43,59 Prozent gekommen war. Zweite Kraft wurde die Bürgerkoalition/Koalicja Obywatelska (KO) mit 30,70 Prozent (157 Mandate). Bei diesem Bündnis handelt es sich um einen Zusammenschluss von vier Parteien: die Bürgerplattform/Platforma Obywatelska (PO) mit ihrem Vorsitzenden Donald Tusk, Die Moderne/Nowoczesna sowie die Initiative Polen/Inicjatywa Polska und Die Grünen/Zieloni. Das Bündnis bewegt sich weitgehend in der politischen Mitte mit – je nach Partei – Ausschlägen nach links oder rechts. Auf den dritten Platz kam das Zweierbündnis Dritter Weg/Trzecia Droga um den Vorsitzenden der Polnischen Volkspartei/Polskie Stronnictwo Ludowe (PSL, gemeinhin Bauernpartei), Władysław Kosiniak-Kamysz, und den Journalisten Szymon Hołownia von Polen 2050/Polska 2050 mit 14,40 Prozent (65 Mandate). Die PSL ist hauptsächlich in der bäuerlichen Bevölkerung verankert, während Polen 2050 bislang vor allem bemüht war, sich als „dritte Kraft“ jenseits des Konflikts zwischen PiS und PO zu profilieren. Schwächer als erwartet, zumindest nach den Umfragen, schnitt die Neue Linke/Nowa Lewica mit 8,61 Prozent (26 Mandate) ab, die damit gegenüber der vorherigen Wahl ein Minus von fast 4 Prozent verzeichnete. Die rechtsradikal durchwirkte Konföderation Freiheit und Unabhängigkeit/Konfederacja Wolność i Niepodległość kam auf 7,16 Prozent (18 Mandate).
Prozentual gesehen ist die neue Sitzverteilung im Senat, der zweiten Parlamentskammer, ähnlich, wobei allerdings die Konföderation vor der Neuen Linken rangiert. Schon in den letzten Wochen vor der Wahl hatte es sich angedeutet, dass KO, Dritter Weg und Neue Linke auf eine gemeinsame Regierungskoalition unter Führung von Donald Tusk hinsteuerten. In der ersten Sitzung des Sejm am 13. November wurde dann Szymon Hołownia von Polen 2050 zum Marschall (Präsident) dieser ersten Kammer gewählt. Dass sich die drei Parteienbündnisse bereits vor der Wahl auf Donald Tusk als künftigen Ministerpräsidenten geeinigt hatten, entsprach nicht nur der Tatsache, dass dessen Bürgerplattform die stärkste oppositionelle Kraft war, sondern war auch eine Anerkennung der unermüdlichen Arbeit, die Tusk im Wahlkampf geleistet hatte.
Die Wähler der PiS nicht vergessen
Doch trotz des politischen Machtwechsels ist die PiS nach wie vor die stärkste Kraft in Sejm und Senat. Die Partei verfügt jeweils über mehr als ein Drittel der Mandate. Damit stellt sich die Frage nach den Ursachen dieses relativen Erfolgs. Soziologische Untersuchungen haben wiederholt ergeben, dass mindestens 20 Prozent der polnischen Wähler Sympathien für ein autoritäres politisches System hegen und von einem „starken Mann“ an der Spitze des Staates träumen, der hart durchgreift und „sagt, wo es lang geht“. Diese Wähler pflegen auch eine intensive Bindung an nationale Traditionen bzw. althergebrachte Elemente der polnischen Kultur und sehen den Katholizismus als eine Art Staatsreligion. Sie plagt eine große Angst davor, dass all dies unter dem Einfluss der Globalisierung und des „Eindringens“ westlicher Lebensweisen und anderer sexueller Orientierungen mehr oder weniger verloren gehen könnte. Hinzu kommt, dass die polnische Gesellschaft insgesamt relativ wenig Erfahrung mit der Anwesenheit außereuropäischer Migranten, insbesondere mit anderer Hautfarbe, hat.
Außerdem haben die finanziellen Zuwendungen wie das erhöhte Kindergeld und die teilweise Steuerbefreiung für Rentner die Wählerschaft der PiS über das Kernpotential hinaus anschwellen lassen. So haben bei den Parlamentswahlen der Jahre 2019 und 2023 sogar ältere Wähler, die zuvor traditionell für die postkommunistische Linke des SLD (Bund der Demokratischen Linken) votiert hatten, diesmal der PiS ihre Stimme gegeben. Gerade Rentner und einkommensschwache Familien empfinden diese Zuwendungen nicht nur als einen Beitrag zur Anhebung ihres Lebensniveaus, sondern auch als Anerkennung für ihre Arbeitsleistung, die sie in ihrem Leben erbringen oder erbracht haben – eine Anerkennung, die sie bislang besonders bei der Bürgerplattform vermisst haben.
Schließlich spielte der starke Populismus der PiS eine Rolle, die es liebt, das „wahre Volk“ gegen die „unmoralischen, korrupten Eliten“ auszuspielen, vergleichbar dem Auftreten rechtspopulistischer Parteien im Westen. Dagegen fällt die schroffe antideutsche Propaganda der PiS, die inzwischen Züge einer politischen Paranoia annimmt, nur noch bei älteren Menschen vorrangig im Osten Polens auf fruchtbaren Boden, insbesondere bei denjenigen, die noch selbst die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs erlebt haben oder diese zumindest aufgrund der Erzählungen ihrer Eltern in ihrem Bewusstsein wachhalten.
Auf jeden Fall waren Jarosław Kaczyński und seine Mitstreiter von der PiS intensiv damit beschäftigt, all die Ängste und Vorurteile, die in der polnischen Gesellschaft zu finden sind, auch die mangelnde Verarbeitung bestimmter historischer Ereignisse und die geringen Kenntnisse über die tatsächlichen Verhältnisse in anderen Ländern politisch auszuschlachten. So wird es in den nächsten Jahren auch darauf ankommen, derlei Defizite verantwortungsbewusst öffentlich zu diskutieren, ohne die PiS-Wähler pauschal zu verurteilen. Das bedeutet aber nicht, zu verschweigen, dass sie auch eine gewisse Verantwortung für den enormen politischen Schaden tragen, den die PiS-Regierungen in den letzten acht Jahren angerichtet haben.[7] Wenn es um eine sorgfältige Analyse der verschiedenen Schattierungen des Bewusstseins der polnischen Gesellschaft geht, dann hat gerade der Philosoph und Kultursoziologe Andrzej Leder, der als Professor an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau tätig ist, wichtige Arbeiten veröffentlicht.[8]
In den knapp zwei Monaten zwischen der Parlamentswahl am 15. Oktober und der Bestätigung der neuen Regierung unter Donald Tusk am 12. Dezember inszenierte Kaczyńskis PiS ein unwürdiges, ja undemokratisches Rückzugsgefecht, das zeigte, dass ihr ein wichtiges Merkmal demokratischen Bewusstseins fehlt, nämlich auch mal verlieren zu können und dies auch einzugestehen. Im Ergebnis führte dies zu einer unnötigen Verzögerung der Regierungsbildung und damit zu politischer Instabilität und staatlicher Untätigkeit. Kaczyński missachtete das Votum der Wähler, indem er das Wahlergebnis im Wesentlichen auf die Einflussnahme Deutschlands und Russlands zurückführte. Vom Rednerpult im Sejm schleuderte er Tusk entgegen: „Sie sind ein deutscher Agent.“
Rechtsnihilismus
Staatspräsident Andrzej Duda erwies sich als „destruktiver Parteisoldat der PiS“, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung treffend schrieb, indem er ein Kabinett unter dem vormaligen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki vereidigte, von dem alle Mitglieder des Sejm wussten, dass es maximal zwei Wochen existieren würde. Der renommierte Publizist Łukasz Warzecha nannte das Kabinett in der liberal-konservativen Rzeczpospolita „eine Regierung wie aus dem Zirkus von Monty Python“.[9] Duda berief sich auf die „demokratische Tradition“, den Auftrag zur Regierungsbildung zunächst an die stärkste Fraktion zu vergeben, obwohl die drei oppositionellen Parteienbündnisse eindeutig erklärt hatten, keine Regierungsbildung mit der PiS anzustreben. Demokratisch wäre es vielmehr gewesen, dem Willen der Wähler zu folgen und den Auftrag zur Bildung des Kabinetts gleich an Donald Tusk und das Dreierbündnis zu vergeben. In der polnischen Verfassung finden sich zu diesem Problemfall keine eindeutigen Festlegungen. De facto diente Dudas Verzögerungstaktik, und dies wurde in vielen Medien hervorgehoben, den bisherigen Ministern und ihren Vertrauten dazu, Akten zu schreddern, Verstöße gegen das Recht zu vertuschen, zweifelhafte Prämien und Abfindungen an „verdiente Beamte“ auszuzahlen sowie Stiftungen und Vereinigungen, die der PiS nahestehen, Millionenbeträge aus dem Staatshaushalt zukommen zu lassen. Wie schon seit seinem Amtsantritt als Staatspräsident im Jahr 2015 zeigte sich, dass Duda ideologisch und politisch konsequent der Linie der PiS folgt, auch wenn er in bestimmten Situationen taktisch andere Entscheidungen trifft, etwa wenn es um die außenpolitische Positionierung Polens geht. Für ihn gilt der gleiche Rechtsnihilismus, den Warschauer Juristen bei der PiS beobachten.[10]
Bis kurz vor der Vereidigung von Tusk versuchten Funktionäre der PiS, mit fadenscheinigen Angeboten einzelne Abgeordnete vor allem der PSL auf ihre Seite zu ziehen. Der bisherige Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak attackierte Tusk in einer Rede im Sejm mit herabwürdigenden, ja beleidigenden Äußerungen. Mateusz Morawiecki langweilte die Mehrheit der Abgeordneten des Sejm mit einer zweistündigen „Regierungserklärung“, wohlwissend, dass ihm das Parlament wenige Stunden später das Misstrauen aussprechen würde. Schließlich blieb Staatspräsident Andrzej Duda nichts anderes übrig, als Donald Tusk und sein Kabinett zu vereidigen, nachdem dieser schon vorher vom Sejm gewählt worden war. Schon Ende November ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IBRIS, dass eine Mehrheit der Polen von 58,8 Prozent die Tätigkeit Dudas negativ bewertet, während sich 32,5 Prozent zustimmend äußerten und 8,8 Prozent keine eindeutige Erklärung abgaben.[11]
Viel Arbeit für die Neuen
Angesichts der Verwüstungen, die die PiS in Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen hat, ist klar, dass der neuen Regierung ein großes Arbeitspensum bevorsteht – mit Aufgaben, die einfacher und schneller zu erledigen sind, und anderen, die möglicherweise Jahre harter Arbeit in Anspruch nehmen werden. Dass neue Zeiten angebrochen sind, zeigt sich schon an der Wiederbelebung des Parlamentarismus. Auf einmal sind Sitzungen des Sejm wieder so interessant, dass sie von vielen Zuschauern in den Medien und Kinos verfolgt wurden. Das ist vor allem ein Verdienst des neuen Sejm-Präsidenten Szymon Hołownia, der straffe Diskussionsführung anmahnte, auf inhaltliche Beiträge achtete und Verfahrenstricks der PiS-Opposition unterband. Zu den ersten Beschlüssen des Sejm gehörte die Entscheidung, zeugungsunfähigen Paaren die Kosten für In-vitro-Fertilisation zu ersetzen. Auch die neue Regierung unter Donald Tusk ging gleich nach ihrer Vereidigung an die Arbeit. So wurden die Leiter aller Sicherheits- und Geheimdienste ausgewechselt. Seit langem hatte es Hinweise darauf gegeben, dass diese im Auftrag der PiS-Führung und der Morawiecki-Regierung Politiker der Opposition überwacht und belastendes Material über diese gefälscht hatten.
Relativ rasch dürfte es auch zu einer Überprüfung des Staatshaushaltes kommen, um den vielfältigen Zuwendungen für PiS-nahe Gesellschaften, Stiftungen und andere Vereinigungen auf die Spur zu kommen. Ebenso wird der neue Minister für den Staatsschatz, Borys Budka, darangehen, die Führungen der mehrheitlich staatlichen Großbetriebe unter die Lupe zu nehmen, die in den letzten acht Jahren mit Funktionären und Günstlingen der PiS besetzt wurden, denen es an der notwendigen Qualifikation für diese Posten fehlte. Das gilt auch für den Präsidenten der polnischen Nationalbank, Adam Glapiński.
Wenige Tage nach dem Amtsantritt der neuen Regierung wurden aufgrund einer Entscheidung von Kulturminister Bartłomej Sienkiewicz die Führungen der staatlichen Medien Telewizja Polska (TVP), Polskie Radio und Polska Agencja Prasowa (PAP) ausgewechselt. Zuvor hatte die neue Parlamentsmehrheit den Minister beauftragt, diese Medien wieder ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag als pluralistisch gestaltete öffentlich-rechtliche Einrichtungen zuzuführen. Sienkiewicz handelte rechtmäßig, da dem Kulturministerium die Aufsicht über diese, im Besitz des Staates befindlichen Medien zusteht.
Allerdings dürfte gerade diese medienpolitische Entscheidung eine längere Auseinandersetzung nach sich ziehen, da Staatspräsident Andrzej Duda Widerstand per Veto oder einen Gang zum Verfassungsgericht ankündigt hat. Duda sprach von einer verfassungswidrigen Entscheidung und zielte damit auf ein Begleitgesetz zum Entwurf der Regierung für den Staatshaushalt 2024, das auch Zuwendungen an die drei Medien vorsieht. Allerdings ließ der Präsident unerwähnt, dass er tatenlos zugesehen hatte, als die PiS-Regierung diesen Medien zwischen 2015 und 2023 wiederholt mit Milliardenbeträgen aus dem Staatshaushalt unter die Arme gegriffen hatte, um deren hemmungslose Regierungspropaganda zu finanzieren.
Ein deutliches Zeichen setzte der neue Außenminister Radosław Sikorski, als er noch vor Jahresende seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba in Kyjiw einen Besuch abstattete und ihm weitere politische und militärische Hilfe gegen die russische Aggression zusicherte. Angesichts der zunehmenden Kriegsmüdigkeit im Westen kommt dieser Hilfe aus Polen große Bedeutung zu. Allerdings ist offen, ob Polen seine massiven Rüstungsbestellungen in den USA und Südkorea wird realisieren können, ohne den Staatshaushalt dadurch zu sehr in Schieflage zu bringen.
Außenpolitisch ist absehbar, dass die Regierung Tusk auf mehr politischen Einfluss Polens in der EU dringen wird, was nach dem europapolitischen Desaster der PiS vernünftig ist. Dies dürfte allerdings nicht ohne Widersprüche abgehen, da Tusk schon Widerstand gegen Reformvorschläge ankündigt hat, etwa wenn es um die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU-Außenpolitik geht. Der Ministerpräsident beruft sich dabei auf eine Umfrage des Forschungsinstituts United Surveys, in der 52 Prozent der Befragten eine entsprechende Änderung des EU-Rechts ablehnten. Auf dem Gebiet der deutsch-polnischen Beziehungen wird es vor allem darauf ankommen, wieder Vertrauen zwischen den Regierungen aufzubauen. Generell steht Außenminister Sikorski vor der komplizierten Aufgabe, in seinem Amt wieder mehr Professionalität durchzusetzen, nachdem die PiS dort reihenweise wenig qualifizierte Parteifunktionäre mit hohen Posten versorgt hatte, die Außenpolitik hauptsächlich als Funktion innenpolitischer Propaganda verstanden, statt die außenpolitischen Beziehungen Polens zu gestalten.
Jahre wird es dauern, bis die polnische Judikative wieder eine angemessene Rolle im Rahmen der Dreiteilung der Staatsgewalt wird spielen können. Das gilt sowohl für den Landesjustizrat (Krajowa Rada Sądownictwa) als auch den Obersten Gerichtshof (Sąd Naiwyższy) und das Verfassungsgericht (Trybunał Konstytucyjny). Denn jede „Reparatur“ des Rechtsstaats mit verfassungswidrigen Mitteln wäre nur eine Wiederholung des Rechtsnihilismus, den die PiS an den Tag gelegt hat.[12]
Das größte Problem für die Umsetzung des Programms der Regierung Tusk wird Staatspräsident Duda sein, dessen Amtszeit noch bis Sommer 2025 läuft. Wie sehr er als Anwalt der PiS tätig ist, hat er seit der Wahl am 15. Oktober erneut bewiesen. Aber auch in den acht Jahren zuvor hat er wiederholt rechtliche, politische und ökonomische Entscheidungen der PiS zum Schaden der Dreiteilung der Staatsgewalt und des Rechtsstaats abgesegnet.
Anmerkungen:
[1]) PiS to rokosz. Rozmowa z historykiem prof. Andrzej Friszke o ostatnich wyborach, systemie budowanym przez PiS i o tym, co powinny teraz robić partie demokratzczne. In: Polityka, nr. 45, 2. 11.–7. 11. 2023.
[2]) Vetter, Reinhold: Europa in der Krise – Nationalkonservative in Polen und Ungarn. In: RGOW 44, 6–7 (2016), S. 10–14.
[3]) Zwahlen, Regula: Tradition oder Gewaltprävention? Polen und die Istanbul-Konvention. In: RGOW 50, 10 (2022), S. 14–15.
[4]) Hall, Aleksander: Zła zmiana. Sopot 2016, S. 74 ff.
[5]) Głos klas. Dr. Michał Kotnarowski, socjolog Polskiej Akademii Nauk, o tym, jak w wyborach odbijają się klasowe podziały polskiego społeczeństwa. In: Polityka, nr. 50, 6. 12.–12. 12. 2023, S. 32 ff.
[6]) Wybory do Sejmu i Senatu Rzeczypospoliteij Polskiej 2023 r. https://wybory.gov.pl/sejmsenat2023/
[7]) Darauf hat der Politikwissenschaftler und langjährige Leiter der Warschauer Batory-Stiftung Aleksander Smolar in einem Zeitungsinterview hingewiesen. Smolar, Aleksander, Politolog: Szanujme się. In: Tygodnik Powszechny, 13–19 Grudnia, S. 12 ff. Ebenso der Philosoph und Kultursoziologe Andrzej Leder in: Podgórska, Joanna: Rachunki krzywd. In: Polityka, nr. 52, 20. 12.–27. 12. 2023, S. 16 ff.
[8]) Leder, Andrzej: Prześniona rewolucja. Ćwiczenie logiki historycznej. Warszawa 2014. In deutscher Sprache vgl. unter anderem Saryusz-Wolska, Magdalena; Stoll, Katrin: Politisches Bewusstsein und politische Gemeinschaft in Polen. Ein Interview mit dem polnischen Philosophen Andrzej Leder. https://zeitgeschichte-online.de/interview/politisches-bewusstsein-und-politische-gemeinschaft-polen
[9]) Warzecha, Łukasz: Rząd niczym z cyrku Monty Pythona. In: Rzeczpospolita, 29 listopada 2023, S. A5.
[10]) Bucholc, Marta; Komornik, Maciej: „Das ist Rechtsnihilismus in Aktion“. Hintergründe und Folgen der „Lex Tusk“. In: Osteuropa 73, 5–6 (2023), S. 161 ff.
[11]) Polacy gorzej oceniają pracę prezydenta, lepiej Seimu. Dziennik Gazeta Prawna, 23 listopada 2023.
[12]) Bucholc, Komornik: „Rechtsnihilismus in Aktion (Anm. 10); Lübbe-Wolf, Gertrud: Auf rechtlichen Wegen zurück zum Recht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. November 2023, S. 12; Siedlecka, Ewa: Prawo do naprawy. In: Polityka, nr. 46, 8. 11.–14. 11. 2023, S. 22 ff.
Reinhold Vetter, freier Wissenschaftler und Publizist im Bereich Politik und Zeitgeschichte in Warschau und Berlin.
Bild: Mehrere Hunderttausend Menschen demonstrierten mit Donald Tusk am 4. Juni 2023 in Warschau gegen die PiS-Regierung (Foto: Shutterstock.com / Damian Lugowski).