Buchbesprechungen
RGOW 10/2024
Vier Buchbesprechungen zu
Konstantin Sigow: Für Deine und meine Freiheit. Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw;
Jacob Mikanowski: Adieu, Osteuropa. Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt;
Michael Gehler, Piotr H. Kosicki, Helmut Wohnout (eds.): Christian Democracy and the Fall of Communism;
Angela Ilić (Hg.): Bekenntnis und Diaspora. Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Mittel- und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert
Konstantin Sigow
Für Deine und meine Freiheit
Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw
(= Ukrainian Voices Bd. 44)
Hannover: ibidem 2024, 227 S.
ISBN: 978-3-838-217550. € 24.90; CHF 34.90.
Während der russische Krieg gegen die Ukraine immer seltener in den Nachrichten erscheint und selbsternannte Expert:innen immer vehementer ein Einfrieren des Krieges fordern, werden die ukrainischen Stimmen aus dem Land selbst immer selten gehört. Diesem Trend widersetzt sich die Reihe „Ukrainian Voices“ beim ibidem-Verlag, in der im September 2024 das Buch „Für Deine und meine Freiheit“ von Konstantin Sigow erschienen ist. Sigow, Philosoph und Verleger in Kyjiw, weiß wie kein anderer das philosophische Erbe Europas mit den ideengeschichtlichen Entwicklungen in Osteuropa zu verbinden. Das beweist auch dieser Sammelband, in dem Regula Zwahlen mit dem Autor 14 Interviews und Artikel handverlesen hat, die einen Eindruck davon vermitteln, wie stark die ukrainische Gesellschaft seit 2014 durch den russischen Krieg erschüttert ist. In mehreren Interviews, die Sigow im Winter bzw. Frühjahr 2022 der westlichen Öffentlichkeit gegeben hat, schildert er unmittelbare Eindrücke vom Umgang der Hauptstadt mit der täglichen existentiellen Bedrohung. Aber immer wieder bettet Sigow diesen Alltag ein in die Suche nach Erklärungen für den Sieg des homo sovieticus in Russland, dessen zerstörerische Auswirkungen auf das „europäische Ethos“ (S. 37) und die beeindruckende Widerstandskraft der Ukraine. Das Ethos Europas beschäftigt Sigow schon länger, wie die Texte im zweiten Abschnitt „Freiheit für Europa“ zeigen. Dabei weicht der euphorische Optimismus über die europäische Anerkennung des ukrainischen Aufbruchs auf dem Maidan 2014 schrittweise der Enttäuschung angesichts des europäischen Zögerns (S. 126). Für Sigow ist der ukrainische Widerstand gegen die russische Aggression unbedingter Ausdruck der Solidarität mit Europa. Dabei sind seine Beispiele nicht militaristischer Natur, sondern sie zeigen einzelne Persönlichkeiten – Dichterinnen, Musiker, Wissenschaftler:innen, die sich mit ihrem Leben der Logik der Zerstörung widersetzen und damit Menschenwürde und Freiheit verteidigen. Die Frage der Freiheit ist in Sigows Anthropologie verwurzelt, in der er westliche Philosophen wie Levinas und Arendt mit dem ostkirchlichen Menschenbild zusammen denkt und so genau den Zusammenhalt unterstreicht, den Russland durch einen neuen Totalitarismus aufheben will.
Der Sammelband schließt zum einen mit einem Text über den für Sigow prägenden, befreundeten Komponisten Valentin Sylwestrow, zum anderen mit einem sehr persönlichen Aufruf an die Leser:innen, die eigene Verantwortung für die Zukunft zu ergreifen. Das Buch ist damit ein zutiefst persönliches Zeugnis eines Philosophen, für den sich Europas Zukunft am freiheitlichen und solidarischen Handeln jedes Einzelnen entscheidet.
Regina Elsner, Münster
Jacob Mikanowski
Adieu, Osteuropa
Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt
Berlin: Rowohlt-Verlag 2023, 509 S.
ISBN: 978-3-7371-0139-4. € 34.–; CHF 49.90.
Über folgende Schlussbemerkung des Autors dieses Buchs werden sich einige Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift zurecht ärgern: „Von den Historikern weitgehend vernachlässigt, gab es ein Osteuropa, das neben den von den Imperien aufgezwungenen Strukturen und unabhängig von den durch den Nationalismus genährten Hoffnungen existierte“ (S. 468). Der von einem polnisch-jüdischen Vater und einer aus adliger ungarischer Familie stammenden Mutter in den USA geborene Historiker und Publizist kennt denn auch keinerlei westeuropäische Forschung über „Osteuropa“ als „Welt mit verschiedenen Religionen uns Sprachen“. Ihr gilt das „Adieu“ im Titel, weil ihr „bestimmendes Merkmal der Vielfalt“ (S. 8) untergegangen sei, jedoch ganz Europa als Versprechen der „Möglichkeit des Zusammenlebens“ (S. 471) als Vorbild dienen könnte. Mit „Osteuropa“ meint der Autor weitgehend die ostmitteleuropäischen Länder und den Balkan, die bei den Sowjets als Pufferzone gedacht waren, sich aber langfristig als Einfallstor westlicher Einflüsse erwiesen (S. 427).
Der hohe Anspruch der Ankündigung als „erste große Kulturgeschichte Osteuropas“ in den drei Teilen „Glauben“, „Imperien und Völker“ und „20. Jahrhundert“ lässt einen etwas perplex zurück. Der erste Teil mit seinen Unterkapiteln „Heiden und Christen“ (sehr kurz, z. B. über gewalttätige Kreuzritter und osteuropäische Vampire), „Juden“, „Muslime“ und „Ketzer“ enthält zwar durchaus Interessantes und kuriose Geschichten, wird aber einer einordnenden „Kulturgeschichte“ der osteuropäischen Glaubensvielfalt sicher nicht gerecht.
In die Erzählstränge verwoben ist die Geschichte Mikanowskis und seiner osteuropäischen Vorfahren, die in der Shoa gründet: „Ohne diese Katastrophe gäbe es mich nicht“ (S. 469). Hier finden sich auch die bewegendsten Passagen der durchaus lebendigen Erzählung, welche die Geschichten der „verlassenen Tempel, vernachlässigten Gräber und fremden Götter“ aus dem „Heimatgebiet des Vergessens“ holen will. So setzt Mikanowski seiner Großtante Róża ein Denkmal, deren Schrei ihn bis heute verfolgt. Für das Verbrechen, außerhalb des Warschauer Ghettos unterwegs gewesen zu sein, wurde sie zusammen mit 16 anderen jungen Frauen im Dezember 1941 exekutiert, andere Häftlinge mussten zuschauen, eine hielt ihre Eindrücke fest. Diese Notizen finden sich im Archiv, das der Historiker Emanuel Ringelblum in Metallkisten und Milchkannen im Ghetto vergraben hatte (S. 340–343). Die Art und Weise, wie Mikanowski vom Todeskampf Mikanowskas erfuhr, steht für unzählige nie erzählte individuelle Schicksale in der Welt, deren Vielfalt durchaus und seit Jahrzehnten erforscht wird und nicht pauschal als „verschwunden“ gelten kann.
Regula Zwahlen
Michael Gehler, Piotr H. Kosicki, Helmut Wohnout (eds.)
Christian Democracy and the Fall of Communism
Leuven: Leuven University Press 2019, 357 S.
ISBN 978-394-6270-216-5. € 69.50; CHF 88.90.
Christdemokraten waren führende Akteure beim politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, und auch vor und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus um 1989 spielten sie eine herausragende Rolle. Im Zentrum dieses Sammelbands steht vor allem die bange Frage, warum sich trotz deren Engagements in Mittel- und Osteuropa seither keine soliden christdemokratischen Bewegungen oder Parteien herausgebildet haben? Vielmehr beobachtet man, dass ehemalige Christdemokraten in den postkommunistischen Ländern wie Polen, Ungarn oder der Slowakei heute eher mit populistischen, illiberalen und nationalistischen Politikern sympathisieren (S. 319) als mit dem christlichen, transnationalen Universalismus der Nachkriegszeit, der sich mit der liberalen Demokratie versöhnt hat (S. 310) und Ideen eines „dritten Wegs“ entwickelte.
Die Hauptintention des Bandes ist, die „Geschichte der Revolutionen von 1989 mit der Geschichte der europäischen politischen Familie der Christdemokratie zu verheiraten“ (S. 31). Die Beiträge sind drei Teilen zugeordnet: Im ersten Teil werden internationale Organisationen untersucht, die um 1989 den Rahmen christdemokratischen Agierens schufen: Die World Confederation of Labor (WCL) in Zusammenhang mit der polnischen Solidarność-Bewegung, die KSZE-Konferenzen in Wien von 1986–1989 und die Europäische Demokratische Union (EDU), die ihre Fühler für Kooperationen in Mittel- und Osteuropa ausstreckte. Der zweite Teil fokussiert auf grenzüberschreitende Bewegungen, so ein bemerkenswertes Kapitel über die Bedeutung der Taizé-Bewegung, die Kontakte der Österreichischen Volkspartei und der italienischen Christdemokraten sowie das Agieren des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Der dritte Teil widmet sich lokalen christdemokratische Bewegungen in den traditionell katholischen Ländern Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und Litauen. Die Teile sind umrahmt von einer Einleitung von Michael Gehler mit einem Überblick über die Hauptaspekte der Revolutionen von 1989 in ihrem Zusammenhang mit der Christdemokratie, und von einer erhellenden Schlussanalyse von Piotr H. Kosicki über die „enttäuschten Hoffnungen einer christlichen Demokratie im postkommunistischen Mittel- und Osteuropa“. Ihm zufolge könnte – trotz greifbarer und substantieller Ergebnisse – ein Grund für den strukturellen Misserfolg darin bestehen, dass „die Christdemokratie 1945 eine entscheidende Position in der Politik erlangte, nachdem die totalitäre Rechte diskreditiert war. Im Gegensatz dazu fiel 1989 die totalitäre Linke weg“ (319). Es würde sich lohnen, den vielen aufgeworfenen Forschungsfragen weiterhin nachzugehen.
Regula Zwahlen
Angela Ilić (Hg.)
Bekenntnis und Diaspora
Beziehungen und Netzwerke zwischen Deutschland, Mittel- und Südosteuropa im Protestantismus vom 16. bis 20. Jahrhundert
(= Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS), Bd. 142)
Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2021, 248 S.
ISBN 978-3-7917-3227-5. € 29.95; CHF 41.90.
Infolge neuer Impulse, die das Reformationsjubiläum 2017 mit sich brachte, erhielten auch zuvor kaum berücksichtigte Forschungsfelder mehr Aufmerksamkeit. Der vorliegende Sammelband legt den Fokus auf die Erforschung des Protestantismus in Südosteuropa, er basiert auf den Resultaten eines internationalen Workshops von 2018. Es sei „eine Bestandsaufnahme der bisher vorliegenden Untersuchungen und Theorien sowie die Identifizierung von noch zu erkundenden Forschungsfeldern“ angestrebt worden (S. 8), erklärt die Herausgeberin Angela Ilić. Der Zugang des Bandes ist aufgrund der häufigen politischen Grenzverschiebungen in den behandelten Gebieten transnational. Zeitlich liegt der Schwerpunkt der Beiträge auf der Reformationszeit im 16. Jahrhundert sowie auf dem 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In seinem einleitenden Überblicksartikel untersucht Luka Ilić „exemplarische Wechselwirkungen, Verbindungen und Vernetzungen mit und unter Protestanten in und aus Südosteuropa und ihren Mitstreitern im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation sowie im breiteren deutschsprachigen Raum“ (S. 17). Dazu porträtiert er ausgewählte Protagonisten dieser Prozesse und behandelt zudem das Thema Buchdruck. Dabei zeigt er auf, dass auch in Südosteuropa die Bibelübersetzer und protestantischen Autoren eine wichtige Rolle für die Entwicklung der lokalen Sprachen spielten. Zudem streicht er die „häufige mehrsprachige und transkulturelle Orientierung der Akteure und Institutionen“ hervor, die sich vielfach zwischen den italienischen, südslawischen und deutschen Kultur- und Sprachräumen bewegten (S. 38).
Dem Überblicksartikel folgt eine Reihe von Fallstudien zu den Beziehungen zwischen Protestanten – einzelnen Kirchengemeinden, Personen oder Institutionen – in Südosteuropa und im deutschsprachigen Raum. So gibt es einen Beitrag zum Netzwerk von Diakonissen-Mutterhäusern in Südosteuropa und einen über protestantische Missionsgemeinden in Slawonien und Rijeka. Dazu kommen Artikel über die deutsche protestantische Kirchgemeinde in Maribor und die deutsche evangelische Kirchengemeinde in Sofia. Zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem Engagement des Gustav-Adolf-Vereins, einerseits in der Slowakei, andererseits im heutigen Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Serbien und Slowenien. Die Beiträge sind durchwegs sehr fundiert und informativ. Sie vermitteln anschaulich und leicht zugänglich einen guten Einblick in die vielfältigen Lebensweisen und Identitäten protestantischer Gemeinschaften in Südosteuropa sowie ihre vielfachen Verflechtungen mit Akteuren im deutschsprachigen Raum.
Natalija Zenger