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Schleichender Umbau. Ungarns politisches System unter Viktor Orbán

RGOW 10/2024
Melani Barlai

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán treibt seit Jahren die Umwandlung Ungarns von einer Demokratie zu einem illiberalen Staat voran. Durch Änderungen am Wahlsystem und im Justizsystem wurden die Gewaltenteilung und das Parlament geschwächt. Zugleich nutzt die Regierung die Identitätspolitik zum Machterhalt, während sie die Medien, Zivilgesellschaft und Minderheiten unter Druck setzt. Mit Péter Magyar und seiner TISZA-Partei ist ein neuer Akteur aufgetaucht, der eine ernstzunehmende pro-demokratische Alternative darstellt.

Ungarn hat in den letzten Jahren eine bedeutende politische Transformation durchlaufen. Die Regierung unter Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz hat das politische System sukzessive umgebaut und dabei zunehmend autokratische Strukturen etabliert. Unter Orbán hat sich Ungarn von einer liberalen Demokratie zu einem „illiberalen“ Staat entwickelt. Diese Entwicklung wird von politischen Beobachtern als besorgniserregend angesehen, da die einst als stabil geltenden demokratischen Institutionen des Landes zunehmend unter Druck geraten. Doch trotz dieser strukturellen Hindernisse beginnt sich allmählich eine neue Opposition zu formieren. Eine wichtige Figur dieser Bewegung ist Péter Magyar, der Vorsitzende der TISZA-Partei, einer noch jungen politischen Kraft, die bei den Wahlen 2026 als ernstzunehmende Alternative zu Orbán antreten will.

Von der Demokratie zur Autokratie
Galt Ungarn nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und insbesondere nach dem EU-Beitritt im Jahr 2004 als Musterbeispiel für einen erfolgreichen Übergang zur Demokratie, so zeigt sich in den letzten Jahren, dass dieser Erfolg allmählich untergraben wird. Bei der Erosion von Demokratien vollzieht sich der Abbau demokratischer Strukturen oft schrittweise, was zunächst weniger auffällt.[1] In Ungarn zeigt sich dies in der systematischen Schwächung demokratischer Institutionen und dem gezielten Umbau des politischen Systems zur Sicherung der Macht der Regierungspartei.

Orbáns Regierung hat die Gewaltenteilung durch eine Kombination von Reformen geschwächt, die die Justiz, die Medien und das Parlament betrafen. Insbesondere wurde das Wahlsystem so verändert, dass die Fidesz-Partei auch bei relativen Stimmenverlusten die absolute Mehrheit im Parlament behält. Diese Art der schleichenden Machtkonzentration, die nach außen hin formaldemokratische Prozesse wahrt, ist typisch für entstehende autokratische Regime.[2]

Eine der Hauptstrategien der Fidesz-Regierung zur Machtsicherung besteht in der gezielten Schwächung demokratischer Kontrollmechanismen. Das Wahlsystem wurde umgestaltet, um die strukturelle Überlegenheit der Regierungspartei zu sichern. Durch die Neuordnung der Wahlkreise und die Änderung des Wahlgesetzes sind die Chancen der Opposition stark eingeschränkt worden.[3]

Zudem hat das ungarische Parlament seine traditionelle Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive fast vollständig verloren. Es dient heute weitgehend der raschen Durchsetzung von Regierungsvorlagen, ohne dass umfassende Debatten oder die Ausübung parlamentarischer Kontrollrechte stattfinden. Diese fortschreitende Aushöhlung des Parlamentarismus schwächt die Gewaltenteilung erheblich und trägt zu einer Verfestigung der Macht der Exekutive bei, wie sie für hybride Regime charakteristisch ist, die formal demokratische Strukturen aufrechterhalten, aber deren Funktionsfähigkeit untergraben.[4]

Die Regierung Orbán setzt intensiv auf eine Identitätspolitik, um ihre politische Macht zu festigen. Sie betont die nationale Identität Ungarns, die als durch äußere Einflüsse – insbesondere durch die Europäische Union und die Migration – bedroht dargestellt wird. Diese Rhetorik stützt sich stark auf historische Traumata wie den Vertrag von Trianon, der in Ungarn als Symbol für den Verlust nationaler Souveränität wahrgenommen wird.[5] Durch die Betonung dieser nationalen Verluste wird eine „Verteidigerposition“ der Regierung gegenüber ausländischen Einflüssen gestärkt.[6] Diese Politik zielt darauf ab, die Regierung vor Kritik zu schützen, indem Gegner als Vertreter ausländischer Interessen dargestellt werden. Dies hat sich als erfolgreiche Strategie erwiesen, um die ungarische Bevölkerung zu mobilisieren und gleichzeitig die Opposition zu schwächen. Orbán präsentiert sich als Verteidiger der ungarischen Identität, während Kritiker zu Feinden der Nation stilisiert werden.

Medien und Minderheiten unter Druck
Ein weiteres zentrales Element der Machtsicherung in Ungarn ist die Kontrolle der Medien. Während die Pressefreiheit formal weiterhin besteht, hat die Regierung die Medienlandschaft durch den Aufbau regierungsnaher Medien und wirtschaftlichen Druck auf unabhängige Medien stark verändert. Kritische Stimmen werden zunehmend marginalisiert, während regierungsnahe Medien verstärkt gefördert werden.[7] Die Einschränkung der Pressefreiheit ist ein typisches Merkmal autoritärer Systeme, da die Kontrolle des öffentlichen Diskurses eine zentrale Rolle für den Machterhalt spielt. In Ungarn ist diese Entwicklung besonders ausgeprägt: Unabhängige Medien werden durch wirtschaftliche Maßnahmen und regulatorische Hürden geschwächt, während regierungsfreundliche Medienunternehmen – oft durch staatliche Subventionen – an Einfluss gewinnen.

Neben den Medien wird auch die Zivilgesellschaft in Ungarn zunehmend eingeschränkt. Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich für Demokratie und Menschenrechte einsetzen, geraten zunehmend unter Druck. Neue Gesetze zielen darauf ab, NGOs, die aus dem Ausland unterstützt werden, als „ausländische Agenten“ zu stigmatisieren, was ihre Arbeit erheblich erschwert.[8]

Gleichzeitig werden ethnische Minderheiten, insbesondere Migranten, in der politischen Rhetorik häufig als Bedrohung dargestellt. Diese Gruppen werden gezielt instrumentalisiert, um nationalistische Ressentiments zu schüren und von innenpolitischen Problemen abzulenken. Dies dient der politischen Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung und verstärkt die gesellschaftliche Spaltung, was wiederum dem Machterhalt der Regierung dient.

Auch auf internationaler Ebene hat sich die ungarische Außenpolitik stark verändert. Trotz EU-Mitgliedschaft distanziert sich Ungarn zunehmend von den liberalen Werten der Union. Stattdessen sucht die Regierung Allianzen mit autoritären Regimen wie Russland und China, um wirtschaftliche und politische Vorteile zu erlangen.[9] Diese Außenpolitik stärkt Orbáns innenpolitische Position, da sie als Ausdruck nationaler Souveränität dargestellt wird. Auf europäischer Ebene hat dies jedoch zu einer zunehmenden Isolation Ungarns geführt. Die ständigen Konflikte mit den europäischen Institutionen und die Missachtung gemeinsamer Grundwerte führen dazu, dass Ungarn innerhalb der EU als Außenseiter wahrgenommen wird.

Péter Magyar – eine mögliche Alternative?
Die Partei TISZA, geleitet von Péter Magyar, unterscheidet sich von anderen Oppositionsparteien durch ihre strategische Ausrichtung auf ländliche Wähler und ihre klare Positionierung als konservative, aber pro-demokratische Alternative. Magyar hat erkannt, dass viele Wähler, vor allem in ländlichen Regionen, von den traditionellen Oppositionsparteien enttäuscht sind und Fidesz weiterhin unterstützen, obwohl sie mit der politischen Richtung des Landes unzufrieden sind. Diese Gruppe will Magyar für sich gewinnen, indem er einen Politikstil anbietet, der konservative Werte respektiert, aber gleichzeitig demokratische Prinzipien wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit stärkt. Obwohl die strukturellen Hürden, die Fidesz in den letzten Jahren aufgebaut hat, für jede Oppositionspartei eine enorme Herausforderung darstellen, sehen politische Beobachter in Péter Magyar und seiner Partei TISZA eine der vielversprechendsten Kräfte für einen Wandel in Ungarn. Magyars klare Abgrenzung von den bisherigen Oppositionsparteien und seine Fokussierung auf konservative Wählergruppen, die sich von Orbán abgewandt haben, könnten ihm einen strategischen Vorteil verschaffen. Ein weiterer Schlüssel zum möglichen Erfolg Magyars liegt in seiner Haltung zur EU. Während Orbán diese häufig als Bedrohung für die nationale Souveränität Ungarns darstellt, plädiert Magyar für eine pro-europäische Haltung, die die Vorteile der EU-Mitgliedschaft nutzt, ohne nationale Interessen zu vernachlässigen. Diese differenzierte Position könnte sowohl pro-europäische als auch euroskeptische Wähler ansprechen, die mit Orbáns konfrontativer Außenpolitik unzufrieden sind.

Trotz dieser positiven Aussichten stehen Péter Magyar und seine Partei TISZA vor großen Herausforderungen. Die Kontrolle der Medien durch die Regierung, die Manipulation des Wahlsystems und der eingeschränkte Zugang zu unabhängigen Finanzierungsquellen erschweren den Aufbau einer starken Oppositionskampagne. Zudem ist Fidesz in vielen Teilen des Landes, insbesondere in den ländlichen Regionen, nach wie vor stark verankert.

Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass die Unterstützung für Orbán abnimmt, vor allem in städtischen Gebieten und unter jüngeren Wählern, die zunehmend unzufrieden mit den autoritären Tendenzen der Regierung sind. Péter Magyar könnte in diesem sich verändernden politischen Klima eine Schlüsselrolle spielen, indem er sowohl unzufriedene Fidesz-Wähler als auch bisherige Nichtwähler für seine Vision eines demokratischen, aber konservativen Ungarns gewinnt.

Anmerkungen:
[1])    Levitsky, Steven; Ziblatt, Daniel: How Democracies die. New York 2018.

[2])    Bakke, Elisabeth; Sitter, Nick: The EU’s Enfants Terrible: Democratic Backsliding in Central Europe since 2010. In: Perspectives on Politics 20 (2022), S. 22–37.

[3])    Barlai, Melani; Hartleb, Florian; Mikecz, Dániel: Das politische System Ungarns. Baden-Baden 2023.

[4])    Ágh, Attila: Decline of Democracy in East-Central Europe. The Last Decade as the Lost Decade in Democratization. In: Journal of Comparative Politics 7, 2 (2014), S. 4–33.

[5])    Von Klimó,Árpád: Ungarn 1918 – keine Jahrhundertfeier. In: RGOW 46, 9 (2018), S. 10–12.

[6])    Lendvai, Paul: Orbán. Hungary’s Strongman. New York 2017.

[7])    Bajomi-Lázár, Péter: The Party Colonisation of the Media. The Case of Hungary. In: East European Politics & Societies 27, 1 (2013), S. 67–87; Gergely, Márton: Das tägliche Verungarnen. In: RGOW 47, 2 (2019), S. 12–13.

[8])    Krekó, Péter; Enyedi, Zsolt: Explaining Eastern Europe. Orbán’s Laboratory of Illiberalism. In: Journal of Democracy 29, 3 (2018), S. 39–51; Techet, Péter: Orbáns Souveränität. Recht als politisches Mittel. In: RGOW 52, 1 (2024), S. 7–8.

[9])    Vachudova, Milada Anna: EU Leverage and National Interests in the Balkans and East Central Europe. The Puzzles of Enlargement Ten Years on. In: Journal of Common Market Studies 52, 1 (2014), S. 122–138.

Melani Barlai, Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Andrássy Universität Budapest; Koordinatorin der ungarischen online Wahlhilfe Vokskabin.

Bild: Auf einem Fidesz-Plakat mit dem Slogan „Brüssels demütige Diener – Migration, Gender, Krieg“ wird Péter Magyar (rechts) neben anderen ungarischen Politikern als Diener der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dargestellt (Foto: Shutterstock).

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