Die indigenen Völker der russischen Arktis und Putins Krieg gegen die Ukraine
RGOW 11/2024
Trotz anfänglicher Verbesserungen in den 1990er Jahren zerschlugen sich die Hoffnungen der indigenen Völker der Russischen Föderation auf Anerkennung und eine gerechtere Gesetzgebung bereits ab 2010. Indigene Männer werden überproportional in die Armee eingezogen, um gegen die Ukraine zu kämpfen. Die Reaktion indigener Organisationen schwankt zwischen Staatsloyalität und Widerstand, wobei der russische Staat alle kritischen Stimmen zu „Extremisten“ erklärt. Auch die russische Opposition interessiert sich nicht für die Situation der indigenen Bevölkerung.
Seit Anfang der 1990er Jahre hat die westliche Öffentlichkeit durch eine anwachsende Anzahl an Dokumentarfilmen und Büchern erfahren, dass in der russischen Arktis etwa 50 verschiedene indigene ethnische Gruppen ihre ursprünglichen Kulturen und Lebensweisen praktizieren und bewahren, die sich um Rentierzucht sowie Jagen und Fischen drehen. Die sowjetische Politik hatte verheerende Auswirkungen auf einige Lebensbereiche dieser Menschen, wie z. B. auf ihre Verwandtschafts- und sozialen Beziehungen, das Nomadentum und das Verhältnis zur Natur, und mildere Auswirkungen auf andere Aspekte, wie z. B. Folklore. Die obligatorische Schulbildung, das sesshafte Leben und die Herausbildung einer indigenen Intelligenz veränderten einerseits die indigenen Kulturen stark und andererseits befähigten sie die indigenen Völker, auf eine Weise zu handeln, die akzeptiert wird und Einfluss auf die staatlichen Bürokratien und die Mehrheitsbevölkerung hat. Aufgrund der starken Stellung, die indigene Gruppen und Aktivisten aus Russland in der globalen indigenen Bewegung und beim zivilen Aktivismus im Allgemeinen einnahmen, erlebten die Bewahrung der indigenen Kultur und deren politische Ermächtigung Anfang der 1990er Jahre einen Aufschwung. Auch auf nationaler Ebene blühte die indigene Bewegung auf und es gelang ihr, einige wichtige Gesetzestexte auf den Weg zu bringen, die die Umsetzung indigener Rechte anerkannten und garantierten, wie z. B. das Recht auf indigene Kultur und Wirtschaft sowie den Zugang zu Natur und Ressourcen.
In den frühen 1990ern öffneten sich die russischen Grenzen und Wissenschaftler:innen wie ich konnten zu den indigenen Gruppen reisen und über längere Zeiträume mit ihnen leben, um mehr über ihre Kulturen, ihr Leben und die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, zu erfahren. Auch wenn die neue Gesetzgebung zu den Rechten der Ureinwohner neu und unvollkommen war, befand sie sich in einem Prozess der Gestaltung und Verbesserung und weckte unter den indigenen Völkern viele Hoffnungen. Doch deren Rechte und Freiheiten wurden etwa seit 2010 vor meinen Augen immer weiter eingeschränkt, zunächst langsam und dann immer radikaler. Geplante regionale Gesetze, die die Umsetzung der Rechte der Ureinwohner, z. B. in Bezug auf natürliche Ressourcen, gewährleisten sollten, wurden nie verabschiedet. Bestehende Gesetze, z. B. über indigene „Gentilgemeinschaften“ (russ. родовые общины), die die Entwicklung von traditionellen Wirtschaftszweigen wie Rentierzucht, Fischerei, Sammeln, Handwerk, ethnographischem Tourismus fördern sollten, oder über Gebiete mit traditioneller Landnutzung wurden so geändert, dass ihre Umsetzung behindert und ihre Interpretation erschwert wurde.[1] Indigene Organisationen wie das Russische Sami-Parlament (Kuellenegk Neark Sam’ Sobbar in der kildinsamischen Sprache), die durch ähnliche Selbstverwaltungsinstitutionen zur weiteren Integration der in vier verschiedenen Ländern lebenden Sami beitragen wollten, wurden als nicht repräsentativ eingestuft und durch sorgfältig ausgewählte indigene „Vertreter“ in den regionalen und kommunalen Verwaltungen ersetzt. Solche Organisationen, die von den regionalen Behörden sorgfältig zusammengestellt wurden und dem Prinzip von Belohnung und Bestrafung folgten, waren erzwungen. Das Gesetz über ausländische Agenten von 2012 hinderte internationale Organisationen und Spender daran, Unterstützung aus dem Ausland nach Russland fließen zu lassen. Seit den 1990er Jahren haben auch bestimmte nationalistische und orthodoxe Gruppen unter indigenen Gruppen und Personen Unterstellungen des „Separatismus“ verbreitet. Neben Illoyalität wurde indigenen Völkern moralische Korruption und Gier nach unverhältnismäßiger Unterstützung und „Vorteilen“ durch internationale Kooperation im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen vorgeworfen.[2]
Indigene Völker und russische Opposition
Das globale öffentliche Interesse an den arktischen indigenen Völkern war bereits in den späten 2000er Jahren an einem Tiefpunkt, als der Krieg gegen die Ukraine seit 2022 gänzlich die weltweite Aufmerksamkeit auf sich zog. Die westliche Öffentlichkeit verfolgte die Nachrichten aus der Ukraine über die Drohreden Putins und seiner Minister sowie die von der russischen Opposition ausgestrahlten Nachrichten und Analysen. Indigene Völker wurden erstmals einige Monate nach Beginn des Großangriffs auf die Ukraine erwähnt, als die Ukrainer das Gesicht ihres Feindes als primitiven barbarischen russischen Soldaten vom Land oder als Angehörigen einer indigenen Gruppe präsentierten, die noch nie „moderne“ Haushaltgeräte gesehen hätten und diese aus verlassenen ukrainischen Heimen stahlen. Den Soldaten wurde vorgeworfen, Frauen und Kinder zu vergewaltigen. Häufig wurde das Gesicht des Soldaten als ethnisch „anders“, also als indigen dargestellt. Westliche Quellen reproduzierten und verbreiteten diese Darstellung indigener Völkers unkritisch.
Auch die russischen Oppositionsmedien im erzwungenen Exil – eine wichtige Quelle für analytische Perspektiven, über die sich das westliche Publikum über die Kriegsentwicklungen informiert – nahmen selten eine kritische Perspektive zur Kriminalisierung der indigenen Völker im Krieg ein. Die russische Opposition hat ihre Position zu indigenen Völkern im Land nie zum Ausdruck gebracht oder sich mit deren Bedürfnissen und Rechten befasst. Im Gegenteil, Julija Navalnaja, die nach dem tragischen Tod ihres Ehemanns Alexej Navalnyj zum Gesicht und zur Stimme der Opposition erkoren wurde, nahm eine negative Haltung gegenüber einer „Dekolonisierung“ Russlands ein. In den russischen Medien, einschließlich der oppositionellen im Exil, scheint „Dekolonisierung“ als Auflösung der Russischen Föderation in mehrere Kleinstaaten verstanden zu werden. Dieses Verständnis deckt sich nicht mit wissenschaftlichen Debatten zu dem Thema, in denen Kolonialismus oft im Bereich von Wissen und Identität problematisiert wird. Eine der Hauptannahmen der „Dekolonisations“-Forschung ist, dass marginalisierte und kolonisierte Subjekte nur dekolonisiert werden können, wenn hegemonische Vorstellungen von deren minderwertigen Identität verändert werden.
Indigene Wissenschaftler, Intellektuelle und Gemeinschaften haben Formen des Wissens und Selbstverständnisses ihrer Kulturen und Identitäten sowie kritische Analysen der dominierenden Gesellschaften und Wirtschaften vorgelegt. Diese Formen des kulturellen und Erfahrungswissens müssen von der etablierten Wissenschaft und Gesellschaft als gleichwertig anerkannt werden, um koloniale Strukturen und das widerständige Erbe des Kolonialismus zu unterlaufen. Die vorherrschende russische Interpretation von „Dekolonisierung“ als Aufteilung des Staats ist eine politische Darstellung, die darauf abzielt, die Bevölkerung zu desinformieren sowie negative Einstellungen und Ängste gegenüber Demokratisierung, Multikulturalismus, indigenen oder anderen Minderheitenrechten und letztlich gegenüber sozialer Gerechtigkeit zu generieren. In dieser Hinsicht hat sich Putins politische Opposition nicht radikal von den hegemonischen und ausbeuterischen Bestrebungen der aktuellen russischen politischen und wirtschaftlichen Eliten distanziert. Die Oppositionsführer halten die indigenen Völker nicht nur für unsichtbar, sondern versprechen auch keine Fortsetzung des Anerkennungsprozesses und der politischen und wirtschaftlichen Stärkung der indigenen Kulturen und Völker im „zukünftigen Russland“. Angesichts des russischen Propagandakriegs und der Desinformation ist die Opposition eine zentrale Quelle für westliche Medien und beeinflusst so das Image und die weltweite Sichtbarkeit der indigenen Völker. Indigene Politiker, von denen jetzt viele im politischen Exil sind, sehen Ähnlichkeiten zwischen den Ideen der russischen Opposition mit Putins imperialen Ambitionen und seinem Verständnis Russlands.[3] Die Anführer der Opposition folgen nicht den globalen politischen Trends der Dekolonialisierung, Befreiung und Gerechtigkeit für alle Völker in Russland.
Gezielte Mobilisierung indigener Männer
Die offizielle Propaganda in Russland hat die große Zahl indigener Personen in der russischen Armee im Kriegseinsatz gegen die Ukraine nicht kommentiert. Allerdings unternehmen regionale Behörden verschiedene Maßnahmen, um dies als Solidarität und Einheit unter unterschiedlichen Ethnien darzustellen. Das Bild von „barbarischen“ Soldaten, das die ukrainische Zivilbevölkerung und die Leserschaft weltweit erschreckte, wird von Kriegsunterstützern in Russland höchstwahrscheinlich als unerwartete, aber positive Konsequenz der Rekrutierungsstrategien gesehen.[4]
Erstens haben indigene Männer in vielen Gebieten, wie den Republiken Sacha-Jakutien und Burjatien, aufgrund von Armut und begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten nach Arbeit in privaten Militärmilizen und in der Armee gesucht, die seit 2008, insbesondere nach der ersten Invasion in die Ukraine 2014, rasch zugenommen hat. Um ihre Legitimität zu wahren und sozialen Ungehorsam in den Großstädten während der Mobilisierungskampagne 2022 zu vermeiden, haben die russischen Behörden überproportional viele indigene Männer von peripheren Gemeinschaften, in denen das Protestpotenzial begrenzt ist, zum Kriegsdienst eingezogen. Aufgrund der schlechten Infrastruktur und der rauen geographischen Bedingungen in der Arktis ist es schwierig, der Rekrutierung zu entgehen. Wegen begrenzter materieller und Bildungsressourcen haben indigene Völker weniger Kapazitäten und Zugang zu Erklärungen von Rechtsvorschriften und zu Rechtsschutz, um eine Mobilisierung zu vermeiden. Viele fühlen sich nach Jahrzehnten der Marginalisierung und Armut ohnmächtig und neigen zu Apathie und Zwanghaftigkeit. Kulturelle Werte von Männlichkeit halten indigene Männer zusätzlich davon ab, der Mobilisierung und Kriegsrisiken zu entgehen. Kolonialarmeen auf der ganzen Welt haben indigene Männlichkeit und männlichen Stolz ausgenutzt, um in den Krieg zu ziehen und das Leben indigener Männer zu opfern. Das Bild des „barbarischen“ Soldaten aus einem wilden Stamm wurde von russischen Militärbehörden aus der Geschichte der Kolonialmächte in Afrika und anderen Teilen der Welt übernommen.[5]
Der jüngste UN-Bericht über Menschenrechte in Russland warnt davor, dass der Verlust an Menschenleben für zahlenmäßig kleine Gruppen aufgrund der unverhältnismäßigen Mobilisierung indigener Soldaten enorm ist und sogar zu deren Auslöschung führen kann.[6] Ein aus Russland ausgewiesener Sami-Aktivist berichtet von mehr als zehn Personen, die aus seinem Dorf rekrutiert wurden.[7] Im Sommer 2024 entdeckte ich auf einer Online-Liste von indigenen Kriegsopfern drei Sami-Männer. Da es in Russland weniger als 2 000 Sami gibt, sind solche Zahlen beträchtlich. Die Zahl der Yupik in Russland beträgt 1 654 Personen. Ein Teil von ihnen lebt im Dorf Tschaplino, zusammen mit tschuktschischen Rentierhirten. Von den 209 Männern in diesem Dorf zogen 22 in den Krieg.[8] Der UN-Bericht betont auch, dass die russische Regierung die ethnische Zusammensetzung der Armee und der Kriegstoten verschweigt. Sporadische Aufnahmen und Videos von Soldaten in den sozialen Medien zeigen jedoch, dass Soldaten indigener und ethnischer Minderheiten schlechter behandelt werden als Russen und eher Gefahr laufen, umzukommen.
Andauernde Militarisierung der Gesellschaft
Die anhaltende Militarisierung der russischen Gesellschaft, insbesondere in strategischen Gebieten wie der Arktis, hat erhebliche Auswirkungen auf die indigenen Gemeinschaften und ihre Kultur. Entgegen der weltweiten Erwartung einer Entmilitarisierung Russlands in den 1990er Jahren blieb die Dominanz des Militärs und der Sicherheitsbehörden in der Arktis bestehen. Die Identitäten und Werte der Lokalbevölkerung stehen im Einklang mit den Zielen der Militarisierung, bei der Teilnahme am und Mut im Krieg als die lobenswertesten männlichen Eigenschaften gefeiert werden.[9]
Auf der Kola-Halbinsel, der ursprünglichen Heimat der Sami, hat sich die indigene Gemeinschaft gespalten: Einige indigene Organisationen wie die Vereinigung der Kola Sami sind loyal gegenüber Präsident Putin und unterstützen den Krieg. Andere Organisationen wie Die Organisation der Sami in der Region Murmansk (OOSMO) und die Sami-Erbe-Stiftung versuchten ihre Ablehnung der russischen Militäraggression zum Ausdruck zu bringen. Ihre Anführer wurden politisch verfolgt und gezwungen, Russland zu verlassen. Derzeit sind es solche Aktivisten im Exil, die sich offen gegen Putins Regime stellen. Die Mehrheit der indigenen Bevölkerung im Land wurde zu Zwecken der russischen Militarisierung ausgenutzt mittels Staatspropaganda und Desinformation, Rekrutierung für die Armee, Manipulierung historischer Fakten und des Gedenken an indigene Kriegshelden sowie anderer Formen der Aneignung indigener Kultur – wie das Vortragen von Kriegsliedern und russischer Literatur in indigenen Sprachen, der Herstellung indigener Amulette für die Soldaten an der Front und dem Anbringen militärischer Symbole auf traditionellen Handwerksmotiven.[10]
Propagierter „Regionalismus“ der „russischen Welt“
Als ich 2001 mit meinen Forschungen zu Indigenen im russischen Norden begann, schienen die Werte des Multikulturalismus die Norm zu sein. Das Vokabular der russischen Gesetzgebung für Indigene spiegelte allerdings nicht eindeutig dasjenige des globalen Multikulturalismus wider, und auch die Lokalbevölkerung, einschließlich indigener Einzelpersonen und Gruppen, waren noch bei den expliziten Postulaten und verborgenen Implikationen der sowjetischen Idee von Ethnizität stehen geblieben. Diese basierten auf wissenschaftlichen Annahmen einer linearen Evolution, bei der indigene Kulturen als primitiv und unterentwickelt dargestellt wurden. Sowohl in Bezug auf die Gesetzgebung als auch auf das Image der indigenen Völker hegten Wissenschaftler, indigene Politiker und Gemeinschaften in den frühen 2000er Jahren die Erwartung, dass der zukünftige Kurs in Richtung Selbstanerkennung und mehr Gerechtigkeit für die indigenen Völker führen würde. In diesem Zusammenhang wurde sogar die sowjetische Ideologie als Bestätigung von Multikulturalismus und ethnischer Vielfalt bewertet. In der sowjetischen Politik war Multikulturalismus jedoch auf gewisse Bereiche des kulturellen Ausdrucks wie Folklore, Tänze und materielle Kultur beschränkt, während andere Bereiche gewaltsam verändert wurden. In den frühen 2000er Jahren weckte der Begriff des Multikulturalismus bei vielen Menschen in der Murmansk-Region Ängste, da sie ihn als Merkmal des neoliberalen Kapitalismus westlicher Prägung interpretierten. Eine Minderheit orthodoxer Ultranationalisten versuchte zudem, Ängste der Bevölkerung zu schüren, indem sie Multikulturalismus mit ethnischem Separatismus gleichsetzte.[11]
2012 verkündete Vladimir Putin das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft in Europa, wo die Weigerung ethnischer Gruppen, sich an die vorherrschende Kultur zu assimilieren, angeblich als Bedrohung für die Identität des Nationalstaates und als Ursache für Fremdenfeindlichkeit wahrgenommen wurde.[12] Demgegenüber sei die ethnische Vielfalt prägend für den historischen Ursprung der russischen Staatlichkeit: Seit frühen Zeiten, so Putin, seien die Völker, die auf demselben Land zusammen mit den Russen gelebt hatten und in den russischen Staat integriert wurden, in den philosophisch-religiösen Schriften als den ethnischen Russen gleichwertig vor Gott wahrgenommen worden. Diese Einheit und Gleichheit jedoch gründe in der russischen Kultur: „Der Kern, das tragende Gewebe dieser einzigartigen Zivilisation ist das russische Volk.“ Solche Ideen wie andere Teile seines historischen Narrativs schreibt Putin Ivan Il’in (1883–1954) zu, dem umstrittenen russischen Denker, der von den Bolschewiken des Landes verwiesen wurde und in Nazi-Deutschland Verbündete suchte, um den Bolschewismus zu bekämpfen.[13] Die russische Kultur ist der „Code“ der landesweiten Einheit und sie dominiert nicht als ethnische Identität, sondern als geteilte Zivilisation, die auf der Herrschaft der geteilten russischen Kultur basiert. Die Forderung eines Programms für „die ethnische Frage“ in Russland wird als externe Bedrohung dargestellt, die die nationale Einheit und die alten Traditionen des multi-ethnischen Einvernehmens in Russland bedrohe.[14]
Konservative Ideologen haben diese Ideen weiterentwickelt, vor allem in Bezug auf den umstrittenen Begriff der „russischen Welt“ – eine Idee deren Verbreitung im vergangenen Jahrzehnt ihren Lauf genommen hat, doch in der öffentlichen Debatte nach dem Februar 2022 besonders dominant wurde. Der Begriff kann auf verschiedene Weise interpretiert werden, insbesondere was die kulturellen Elemente und „Kriterien“ betrifft, die eine Mitgliedschaft zu dieser „Welt“ definieren: Sprache, Identität, religiöse und konfessionelle Zugehörigkeit, Land und Wohnsitz, Solidarität mit dem russischen Staat und Patriotismus.[15] Unabhängig davon, welche Bedeutung dem Begriff zugeschrieben wird, so ist der Begriff stark mit den russischen Ultranationalisten verbunden, so z. B. mit Alexandr Dugin, der 2024 trotz massiven Protests von Studierenden an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (RGGU) zum Direktor der neu gegründeten „Höheren Ivan Il’in-Schule für Politik“ ernannt wurde. Die russischen Medien diskutierten die „multiethnische russische Welt“ als eine dominante „neue“ konsolidierende Ideologie und als Organisationsmodell „für die Existenz (und das Überleben!) aller Gebiete und Nationen Russlands, das auf der staatsbildenden Nation basiert – der russischen, der russischen Geschichte und Kultur“.[16] Die Implikationen dieser Idee sind die Rechtfertigung und Naturalisierung der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchie und politischen Macht. Ihre Befürworter suchen nach ethnologischen Beweisen, welche die biologischen Ursprünge kultureller, mentaler und sogar zivilisatorischer Unterschiede stützen.[17]
Im aktuellen Kontext extremer nationalistischer Mobilisierung hat die Idee der „russischen Welt“ performative Kraft und kann soziale Beziehungen gestalten sowie soziale und politische Hierarchien verstärken. Sie ist auch eine Waffe gegen Multikulturalismus, den erklärten Feind der „russischen Welt“, der mit früherem indigenem Aktivismus und indigener Anthropologie in Russland in Verbindung gebracht wird. Die „russische Welt“ fördert die Werte des „Regionalismus“ im Gegensatz zu den globalen Werten des Multikulturalismus, die Verschwörungstheoretikern zufolge die russischen Traditionen und die Einheit Russlands bedrohen. Im gegenwärtigen Kontext der Verfestigung der autokratischen Macht ist ihre negative Auswirkung auf die indigenen Identitäten offensichtlich. Als Staatsparadigma knüpft die „russische Welt“ an die frühere sowjetische Marginalisierung indigener Völker an.
Staatliche Entwicklungskonzepte für indigene Völker
Nichtsdestotrotz betont die russische Propaganda den hohen Wert, den Präsident Putin der kulturellen Vielfalt in Russland beimisst. Er beauftragte seine Regierung und zivile Organisationen mit der Ausarbeitung eines neuen Konzepts für die nachhaltige Entwicklung indigener Völker des russischen Nordens bis 2036. Inmitten von Debatten in den sozialen Medien über die Unterstützungsschreiben indigener Organisationen an Präsident Putin und die „militärische Spezialoperation“ seit 2022 feierten Vertreter indigener Völker auch die umfangreichen Finanzmittel zur Entwicklung von indigenen Sprachen. In den letzten drei Jahren sind indigene Sprachen zum Thema medialer Aufmerksamkeit und scheinbarer staatlicher Unterstützung auserkoren worden. Eine solche Unterstützung kann für die indigenen Gemeinschaften einen positiven Einfluss haben, vor allem für solche, die sich für Bildung und Alphabetisierung engagieren. Sprache ist ein wichtiger Teil der indigenen Kultur und kann positive Assoziationen und Werte für die indigene Kultur schaffen, sowohl innerhalb der indigenen Gemeinschaft als auch in der Gesamtgesellschaft. Gleichzeitig konzentriert sich die staatliche Unterstützung auf einen begrenzten und kontrollierten Teil der indigenen Kultur und ihrer Träger, was von der Unterdrückung des Aktivismus für politische Rechte und eine gerechte Verteilung der Ressourcen ablenkt.
Das neue staatliche Konzept zur Entwicklung der indigenen Völker sollte eigentlich von einem Plan begleitet werden, wie das Niveau der staatlichen Subventionen für sie aufrechterhalten werden kann. Doch inzwischen wurde das Geld für die Unterstützung indigener Völker in eine Kategorie mit der finanziellen Förderung für den Aufbau der Einheit der russischen Nation zusammengelegt. Diese Reform wurde mit der Notwendigkeit eines einfachen Ressourcentransfers zwischen diesen beiden Zielen staatlicher Unterstützung begründet. Der Vorsitzende der Föderalen Agentur für Nationalitäten (FADN) behauptete, dass 80 Prozent der russischen Bürger den Zustand interethnischer Beziehungen im Land derzeit als gut bewerten, und dass mehr als 90 Prozent sich als Russländer (rossijany) bezeichnen. In diesem Zusammenhang und angesichts der angeblichen ausländischen Bedrohung, die russische Gesellschaft durch die Förderung ethnischer und religiöser Konflikte zu manipulieren, plädierte die Vorsitzende des Föderationsrates, Valentina Matvijenko, dafür, öffentliche Diskussionen über diese heikle Reform zu vermeiden.
Indigene Organisationen als „Extremisten“
Während die Regierung sich bemüht, in der Öffentlichkeit ihre Anerkennung und Unterstützung indigener Kultur zu betonen, unterdrückt sie gleichzeitig indigenen Aktivismus, politische Vertretung und Zugang zu wirtschaftlichen und ökologischen Ressourcen und ergreift präventive Maßnahmen dagegen. Der jüngste UN-Bericht über die Menschenrechtslage in der Russischen Föderation listet die Kürzung von Subventionen für traditionelle Wirtschaftszweige wie Rentierzucht im Jahr 2023 und deren weitere Verteilung nach Kriterien auf, die für die Gemeinschaften belastend, willkürlich und nicht transparent sind.[18] Subventionen werden somit zunehmend dazu genutzt, die Loyalität der indigenen Bevölkerung gegenüber den derzeitigen bürokratischen Eliten zu erkaufen und zu kontrollieren.
Die jüngste Verletzung der Rechte indigener Völker ist die Aufnahme indigener Organisationen in die aktualisierte Liste „extremistischer“ Organisationen, die vom Obersten Gerichtshof Russlands im Juli 2024 veröffentlicht wurde. Zu den 55 Organisationen zählen das Internationale Komitee indigener Völker Russlands, das sich mit Problemen wie der Anerkennung indigener Völker, Landrechten und Sprache befasst, Free Buryatia, Free Yakutia und Novaja Tyva, die sich gegen den russischen Krieg in der Ukraine stellen und der lokalen Bevölkerung helfen, der Mobilisierung zu entgehen. Die meisten Führungskräfte dieser Organisationen wurden bereits aus Russland ausgewiesen, außer diejenigen des Aborigen Forum, das 2022 von indigenen Demonstranten gegen den Krieg in der Ukraine gegründet wurde. Das Gericht behauptete, dass diese Organisationen alle strukturelle Einheiten einer (nicht existierenden) „antirussischen Separatistenbewegung“ seien. Etwa 80 der mehr als 160 Organisationen auf der Liste sollen zu dieser Bewegung gehören. Sie werden des Versuchs angeklagt, „die multinationale und territoriale Einheit Russlands zu zerstören“. Eine Folge der Aufnahme in die Liste ist, dass die Arbeit der Organisationen auf dem Territorium Russlands verboten ist und Personen, die als Mitglieder genannt werden, von Bankgeschäften ausgeschlossen und mit hohen Geldstrafen und langen Gefängnisstrafen bedroht werden. Dies folgt auf den Präzedenzfall zu Beginn des Jahres, als die Behörden eine globale „LGBT-Bewegung“ erfanden, um die Aufnahme mehrerer geschlechtsspezifischer Minderheitengruppen auf die extremistische schwarze Liste zu rechtfertigen.[19]
Laut indigenen Kommentatoren verleiht die Liste den Sicherheitsbeamten weitere Befugnisse, Menschen willkürlich zu verhaften, zu bestrafen oder ins Gefängnis zu schicken. Sobald eine Person oder eine Personengruppe als Mitglied einer Vereinigung ausgemacht wird oder auch nur eine geringfügige Verbindung zu einer solchen Organisation hat, kann sie strafrechtlich verfolgt werden, ohne dass eine förmliche Untersuchung der Anschuldigung gesetzlich vorgesehen ist. Diese aus der Stalinzeit übernommene Verfolgungsmethode wird im Volksmund als „Gummiverbot“ bezeichnet, weil sie in der Praxis auf jeden Bürger angewandt werden kann. Sie ermöglicht auch die Verfolgung von Personen für Taten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurden. Der Zweck des Verbots ist es, eine Atmosphäre der Angst unter allen indigenen Bürgern zu schaffen und so sozialen Ungehorsam zu verhindern. Es verhindert die Unterstützung, die einige der aufgelisteten Organisationen indigenen Einzelpersonen und Gruppen in Russland gewährt haben, indem es mit Strafen für die Hilfeempfänger droht.[20] Die große Zahl „extremistischer“ Organisationen, die aufgrund dieser Liste entstanden ist, wird auch als Rechtfertigung für die große Anzahl von Sicherheits- und Bürokratieämtern in Russland und die beträchtlichen öffentlichen Mittel, die von ihnen verwendet werden, herangezogen.
Einigen indigenen Aktivisten zufolge lässt sich die größte Bedrohung für indigene Völker zur Zeit von Putins Krieg gegen die Ukraine mit Begriffen wie physischem und kulturellem „Genozid“ zusammenfassen. Einerseits schaffen die Behörden zurzeit alle Voraussetzungen für eine unverhältnismäßige Rekrutierung und den Einsatz indigener Männer im Militär und an der Front. Andererseits führt die zunehmende Verunglimpfung indigener Identitäten und die Bedrohungen indigener Bürger aufgrund realen oder imaginierten zivilen Ungehorsams dazu, dass Menschen um ihrer Sicherheit willen ihre indigene Zugehörigkeit verbergen.[21]
Indigene Gemeinschaften sind in Gruppen gespalten, die sich an der Grenze zwischen aggressiv von oben durchgesetzter staatlicher Loyalität oder Ungehorsam und den daraus resultierenden Risiken und der Auswanderung bewegen. Aufgrund ihrer Unterstützung des Krieges haben sich indigene Organisationen in Russland kompromittiert und wurden von globalen indigenen und anderen Institutionen, wie z. B. dem Sami-Rat, ausgeschlossen. Diese Prozesse erhöhen das Risiko des kulturellen Verlusts und der Zerstreuung, d. h. des Genozids an den indigenen Kulturen in Russland.
Anmerkungen:
[1]) Donahoe, Brian: The Law as a Source of Environmental Injustice in the Russian Federation. In Agyeman, Julian; Ogneva-Himmelberger, Yelena (eds.): Environmental Justice and Sustainability in the Former Soviet Union. Cambridge (MA) 2009, S. 21–46.
[2]) Vladimirova, Vladislava: Continuous Militarization as a Mode of Governance of Indigenous People in the Russian Arctic. In: Politics and Governance 12 (2024), S. 1–15.
[3]) Sulyandziga, Pavel; Berezhkov, Dmitry: «Мы научились вас понимать, чтобы защищаться: диалектика словенских тезисов Юлии Навальной». In: Indigenous Russia, 10. 09. 2024, https://indigenous-russia.com/archives/39631
[4]) Kinok, Luda: The Evil Committed against Indigenous Populations on all Continents is Unthinkable, but People in other Countries Remembered it as a Crime. In: Indigenous Russia, 10. 08. 2024, https://indigenous-russia.com/archives/39516
[5]) Vgl. Koller, Christian: The Recruitment of Colonial Troops in Africa and Asia and their Deployment in Europe during the First World War. In: Immigrants & Minorities 26, 1–2 (2008), S. 111–133.
[6]) https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5759-situation-human-rights-russian-federation-report-special
[7]) https://www.theguardian.com/world/2024/sep/20/russia-forcing-indigenous-sami-people-to-hide-their-identity
[8]) Kinok, The Evil (Anm. 4).
[9]) Vladimirova, Continous Militarization (Anm. 2).
[10]) Ebd.
[11]) Vladimirova, Vladislava: Транснациональные индигенные организации, либеральный мультикультурализм и нарративы об «индигенном сепаратизме» на севере России. In: Сибиркские исторические исследования 1 (2015), S. 23–56.
[12]) Putin, Vladimir: Россия: национальный вопрос. In: Независимая газета, 23. 01. 2012, https://www.ng.ru/politics/2012-01-23/1_national.html
[13]) Snyder, Tymothy: The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America. New York 2018.
[14]) Putin, Россия (Anm. 12).
[15]) Nazarova, G; Fokina, A: Русский мир: обновление подходов и концепции. In: Ученые записки Орловского государственного университета 6, 69 (2015), S. 338–343.
[16]) Belackij, Evgenij: Идеология Русского Мира: основные контуры. In: Капитал страны, 24. 06. 2022, https://kapital-rus.ru/articles/article/ideologiya_russkogo_mira_osnovnye_kontury/
[17]) Barinov, Sergej: Русски й мир: этнологический подход. In: Изборский клуб, 14. 06. 2016, https://izborsk-club.ru/9435
[18]) https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5759-situation-human-rights-russian-federation-report-special
[19]) https://www.thebarentsobserver.com/life-and-public/55-russian-indigenous-regional-and-ethno-groups-labeled-as-extremists/117907
[20]) https://verstka.media/rassledovanie-kak-associaciya-korennyh-malochislennyh-narodov-stala-instrumentom-obogascheniya-i-lobbizma
[21]) https://www.theguardian.com/world/2024/sep/20/russia-forcing-indigenous-sami-people-to-hide-their-identity
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Vladislava Vladimirova, PhD, Associate Professor am Institut für russische und eurasische Studien, Universität Uppsala, Schweden.
Bild: Rentierzucht ist ein Hauptwirtschaftszweig indigener Völker im russischen Norden – hier im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen. (Foto: Shutterstock.com / Grigorii Pisotsckii)