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Buchbesprechungen

Natalija Zenger

Zwei Buchbesprechungen zu
Elena Korosteleva, Irina Petrova, Anastasiia Kudlenko (eds.): Belarus in the Twenty-First Century
Lizaveta Kasmach: Belarusian Nation-Building in Times of War and Revolution

Elena Korosteleva, Irina Petrova, Anastasiia Kudlenko (eds.)
Belarus in the Twenty-First Century
Between Dictatorship and Democracy
(= BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies)
New York: Routledge 2023, 236 S.
ISBN 978-1-032-31805-9. £ 130.-; CHF 193.-.

Der Sammelband versteht sich als Fortsetzung des 2003 erschienen Sammelbandes Contemporary Belarus: Between Democracy and Dictatorship. 20 Jahre später betrachten es die Herausgeber als notwendig, sich noch einmal umfassend mit aktuellen Entwicklungen in Belarus zu beschäftigen, da einerseits viele Erkenntnisse der ersten Publikation noch immer relevant seien, das Land aber andererseits mit den Massenprotesten 2020 einen Wendepunkt erlebt habe (S. xviii, xix). Die Ereignisse des Jahrs 2020 – die gefälschte Präsidentschaftswahl, die Massenproteste dagegen, die anschließenden massiven Repressionen, aber auch die gesellschaftliche Mobilisierung angesichts der Covid-19-Pandemie, die als Vorstufe zu den Protesten verstanden wird, – sind denn auch das zentrale Thema oder zumindest der Ausgangspunkt der meisten Beiträge des Sammelbands.

Thematisch ist das Buch in drei Teile gegliedert. Der erste steht unter dem Titel History, Identity, and Politics Revisited, im zweiten geht es um wirtschaftliche und institutionelle Entwicklungen, während der dritte gesellschaftlichen Themen gewidmet ist. Im ersten Teil werden unter anderem politische Symbole wie die Flagge und Konzepte der belarusischen Staatlichkeit diskutiert. Wie in Russland benutzt auch das Regime in Belarus Geschichte und Erinnerungspolitik zur eigenen Legitimierung. Eine besondere Rolle spielen dabei der Zweite Weltkrieg und das Gedenken daran sowie der vom Regime propagierte „Genozid an den Belarusen“, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden habe und zu dessen Opfern „alle sowjetischen Bürger auf dem Territorium der belarusischen SSR“ zählten, die von Nazis umgebracht worden seien, wie David R. Marples und Veranika Laputska schreiben. In dieser Darstellung blieben jedoch spezifische Opfergruppen wie Juden, aber auch die Opfer des stalinistischen Terrors der 1930er Jahre unsichtbar.

Im zweiten Teil wird nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus seit der Unabhängigkeit untersucht, sondern auch das Justizsystem. Dabei wird erörtert, was Belarus von den Bemühungen um eine unabhängige Justiz in Georgien und der Ukraine lernen könnte. Die Beiträge des dritten Teils beschäftigen sich mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und insbesondere der überraschenden Mobilisierung der Gesellschaft 2020. Bis dahin hatte sie als apolitisch, passiv und atomisiert gegolten, erst aufgrund des staatlichen Versagens angesichts der Covid-19-Pandemie organisierte sich die Bevölkerung, um das Gesundheitssystem und Betroffene zu unterstützen. Obwohl die Proteste insofern gescheitert sind, als dass das autoritäre Regime weiterhin an der Macht ist, zeigen sich die Autor:innen überzeugt, dass der gesellschaftliche Wandel unumkehrbar sei.

Natalija Zenger

Lizaveta Kasmach
Belarusian Nation-Building in Times of War and Revolution
Budapest: Central European University Press 2023, 288 S.
ISBN 978-963-386-633-7. € 76.-; CHF 113.-.

Lizaveta Kasmach erforscht die Entwicklung belarusischer nationaler Prozesse in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Der Zerfall der Imperien bot Nations- und Staatsbildungsprozessen neue Chancen, die im Fall von Belarus zur Gründung der Belarusischen Demokratischen Republik (BDR) und der Verkündung ihrer Unabhängigkeit im März 1918 führten. Anfang 1919 wurde die belarusische Sowjetrepublik gegründet, die in Konkurrenz zur BDR stand.

Der Erste Weltkrieg brachte für die Belarusen Vertreibungen, die Besetzung des westlichen Territoriums durch das Deutsche Reich, das mit litauischen Gebieten eine Verwaltungsprovinz bildete, sowie den Verbleib der östlichen Gebiete unter russischer Herrschaft mit sich. Die Bemühungen belarusischer nationaler Aktivisten bei der Nationsbildung in dieser Zeit werden „vor dem Hintergrund der sich verändernden Dynamiken des Wettbewerbs mit den polnischen und litauischen Nationalbewegungen einerseits, und dem andauernden Einfluss der Russifizierungspolitik andererseits analysiert“ (S. 4). Die geografische Teilung schuf für die Aktivisten jeweils unterschiedliche Möglichkeiten, wobei sich die deutschen Besatzungsbehörden in kulturellen und Bildungsfragen der lokalen Bevölkerung gegenüber etwas liberaler zeigten. Aber auch innerhalb der Nationalbewegung gab es verschiedene Strömungen, insbesondere ein sozialistisches und ein nationalistisches Lager. Zugleich schwankten die Visionen für einen belarusischen Staat zwischen einer Autonomie innerhalb eines russischen (föderalen) Staatsgebildes und einem souveränen Nationalstaat.

Nachdem die belarusischen Gebiete nach der letzten Teilung Polen-Litauens unter russische Herrschaft gekommen waren, seien die Bedingungen für eine Nationalbewegung denkbar schlecht gewesen, erklärt die Autorin. Die ausgeprägte russische Assimilierungspolitik gegenüber den Belarusen verhinderte, dass sich eine „ausreichende Zahl engagierter Aktivisten“ für „ein Nationalprojekt […], das exklusiv belarusisch definiert war“ herausbildete (S. 9). Mit der stark bäuerlich geprägten Gesellschaft und der Nähe zwischen den slavischen Sprachen hätten diese Faktoren die Nationsbildung verzögert. Interessanterweise waren es aber die belarusischen Eliten in Minsk, das im russischen Herrschaftsgebiet lag, die die Chancen während der russischen Revolutionen von 1917 ergriffen, und im März 1918 den ersten belarusischen Staat gründeten. Zwar wurde das National- und Staatsprojekt von den Bolschewiken vereinnahmt, und die Sowjetunion integrierte Belarus, aber sie „schuf dennoch eine kontinuierliche Staatlichkeitstradition, die durch das 20. Jahrhundert überlebte und als Basis für ein unabhängiges Belarus nach dem Fall der Sowjetunion diente“ (S. 256).

Natalija Zenger

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