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Der Geist der Zukunft. Belarus in den Blick nehmen

RGOW 02/2024
Ingo Petz

Belarus erhält im Westen nur sporadisch Aufmerksamkeit, obwohl die Diktatur an der Grenze zur EU mit engen Verbindungen zu Russland Europa wesentlich mehr beschäftigen sollte. Die eindrücklichen Massenproteste 2020 brachten das Land zwar kurz ins Scheinwerferlicht, seither ist es aber wieder in Vergessenheit geraten und die Situation im Land hat sich deutlich verschlechtert. Die unerschütterlichen Aktivitäten der belarusischen Opposition im Exil geben dennoch Hoffnung auf eine demokratische Zukunft.

„Belarus? Uns doch egal!“ Unter diesem Titel schrieb ich im Jahr 2011 einen Essay, in dem ich mir meinen Frust vom Herzen schrieb. Frust, weil es nahezu keine öffentlichen Debatten zu Belarus gab, weil das Land in den Medien kaum mit Aufmerksamkeit bedacht wurde, weil es für nicht wenige ein irgendwie russisch-geartetes Anhängsel war, eine künstliche Nation, ein Staat, der kein Existenzrecht hat, weil Osteuropa auch in unseren Breiten immer noch durch die sowjetisch-russische Brille betrachtet wurde und die komplexen kulturhistorischen Zusammenhänge, die Belarus und auch die Ukraine geprägt haben, nicht ins öffentliche Gedächtnis rücken wollten. Die Lernbereitschaft, diesen Raum vielschichtiger Kulturinterventionen differenzierter zu betrachten, aus seiner Geschichte heraus neu zu entdecken und die Belarusen mit offenen Augen und offenem Herzen kennenzulernen, war schlicht nicht vorhanden.

Der Text entstand rund ein halbes Jahr, nachdem Lukaschenka die Proteste am Tag der Präsidentschaftswahlen zusammenprügeln und sieben Präsidentschaftskandidaten festnehmen ließ. Hunderte Demonstranten wurden verhaftet, auch in den Tagen und Wochen nach den Protesten, und teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt. Bekannte Oppositionelle und Dissidenten flohen aus dem Land. Es war nicht ungewöhnlich, wie das autoritäre Regime auf den Protest reagierte, und es war auch nicht überraschend. Auch wenn sich die EU überrascht zeigte, weil sie auf eine Öffnung gehofft hatte. Die belarusische Opposition hatte allerdings immer vor diesem Moment gewarnt und vor dem Irrglauben, einen Dialog mit dem Regime führen zu können. Die Medien berichteten damals über die Repressionswelle. Politiker und Regierungen zeigten sich betroffen. Immerhin wurden relativ schnell Sanktionen gegen die belarusische Führung erlassen und die Unterstützung für belarusische Medien und Initiativen gestärkt. Aber nach ein paar Monaten verschwand das Thema zusehends aus der Öffentlichkeit im Tal der Kommissionen und Expertenrunden. Lukaschenka konnte sein repressives Regime ausbauen, und der Kreml, der die Präsidentschaftswahl selbstredend anerkannt hatte, Lukaschenka und Belarus weiter in seine fatale Abhängigkeit ziehen.

Wunsch nach Veränderung
Dass man sich mit Belarus beschäftigen muss, steht außer Frage. Eine Diktatur an der Grenze der EU war und ist ein Sicherheitsproblem für die EU. Das zeigen nicht zuletzt die dramatischen und tragischen Ereignisse, nachdem Russland seinen grausamen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen und Belarus zu Beginn der Invasion als Aufmarschland und Raketenabschussrampe genutzt hat. Viel wichtiger aber ist: Mit den historischen Protesten im Jahr 2020 hat eine große Mehrheit der Belarusen eindrücklich den Wunsch unter Beweis gestellt, ihr Land demokratisch verändern zu wollen.[1] Die Politisierung der Belarusen, die bis dahin als politisch schwer zu mobilisieren galten, geschah nicht über Nacht, sondern hat sich über viele Jahre entwickelt. Dies sollte die Einsicht in den westlichen Demokratien stärken, dass sie auch nicht über Nacht verschwindet, auch wenn der regime change noch nicht gelungen ist.

Die steile Lernkurve in Sachen Solidarität und politischer Teilhabe, die im Sommer 2020 begonnen wurde, hat sich mittlerweile verlagert und institutionalisiert – nicht in Belarus, sondern in Polen, in Litauen oder auch in Deutschland, wohin Hunderttausende Belarusen vor der Rache des Regimes geflohen sind. Junge Belarusen haben eigene Organisationen gegründet, helfen ihren eigenen Leuten, vor allem aber auch Ukrainern und den belarusischen Freiwilligen, die auf Seite der ukrainischen Armee kämpfen, veranstalten Konzerte und Diskussionen, versuchen auf die Innenpolitik der Länder einzuwirken, in denen sie nun leben. „Es ist unglaublich, wie viel die Exilgemeinde spendet und unterstützt“, sagt eine Belarusin, die aufgrund der politischen Verfolgung in ihrem Land nicht genannt werden möchte. „Das ist bei allem Pessimismus ein gutes Zeichen. Dass die Leute die Solidarität, die sie 2020 erlebt haben, nicht vergessen haben. Wenn sich das Land mal öffnet und die Leute zurückkehren, wird dieser Impuls auf jeden Fall helfen, ein demokratisches System aufzubauen.“

Auch das Team der Oppositionellen Svjatlana Tsichanouskaja tut viel dafür, dass das Thema Belarus auf der Agenda der internationalen Staatenwelt bleibt, und dass die demokratischen Impulse in den neuen Strukturen der Opposition weiterentwickelt werden. Dass innerhalb der Exil-Opposition zuweilen die Fetzen fliegen, ist nur natürlich. Die Nerven liegen blank angesichts all der Freunde und Verwandten, die sich in belarusischen Gefängnissen befinden, wo die Haftbedingungen so sind, dass die meisten dort früher oder später schwere psychische und gesundheitliche Probleme ereilen. Die Erwartungen an die führenden Oppositionellen sind entsprechend hoch. Um in dieser fordernden, gefährlichen und existenziell bedrohlichen Situation mit Vernunft und Tatkraft agieren zu können, braucht man nahezu übermenschliche Kräfte. Unsereins kann sich kaum vorstellen, was es bedeutet, wenn der eigene Partner – wie eben der Ehemann von Svjatlana Tsichanouskaja, Sjarhej Tsichanouski – seit fast vier Jahren in Haft ist. Er ist zu 18 Jahren Freiheitsentzug verurteilt, und selbst die Nächsten erhalten nur spärlich Informationen aus der Haft. Gerade wegen dieser sehr schweren Bedingungen sind die demokratischen Prozesse, die die Opposition mit Nachdruck verfolgt, tatsächlich erstaunlich.

Düstere Entwicklung in Belarus
Auf die Geschicke in Belarus hat die Opposition allerdings kaum noch Einfluss. Das Regime hat sich radikalisiert und abgeschottet, hat alle Oppositionsparteien verboten, unabhängige Medien außer Landes getrieben,[2] zivilgesellschaftliche Strukturen nahezu völlig zerstört, es geht bis heute mit brutaler Konsequenz gegen die eigenen Bürger vor. Allein am 23. Januar 2024 wurden laut der Menschenrechtsorganisation Vjasna über 100 Personen festgenommen. Darunter auch Angehörige der rund 1 500 offiziell anerkannten politischen Gefangenen. Oder Menschen, die an Solidaritätsorganisationen gespendet haben. Mittlerweile reicht es auch, wenn man Telegram-Kanäle abonniert, die die Behörden zu „extremistischem Material“ erklärt haben oder Seiten von belarusischen Analysten, Politikern, Autoren oder Wissenschaftlern in den sozialen Medien folgt, die zu „Extremisten“ oder „Terroristen“ erklärt wurden.

Es ist schwer zu erklären, wie die Stimmung im Land selbst ist. Wenn man mit Belarusen spricht, die immer noch nach Belarus reisen oder die im Land verblieben sind, hört man häufig dies: „Es herrscht Resignation. Die Angst geht um. Es gibt wenig Hoffnung. Man versucht, sich wie in der Zeit vor 2020 zu arrangieren, zu verdrängen, sein Leben zu leben. Man hofft, dass es morgen nicht an deiner Tür klopft.“ Andererseits zeigen soziologische Umfragen immer wieder, dass der Protestwille zwar eingedämmt ist, dass er aber ebenso wieder aufflammen könnte, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet. Vor diesem Szenario hat das Regime Angst. Und es ist keine Frage, dass es deswegen mit aller Härte gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Wie aktuell, wenn inszenierte Wahlen zum Parlament vorbereitet werden. Auch zeigen Umfragen, dass mittlerweile zwei gesellschaftliche Gruppen entstanden sind, die sich unversöhnlich gegenüberstehen:[3] auf der einen Seite die Unterstützer des Regimes und seiner neosowjetischen Praktiken und Mythen. Auf der anderen Seite diejenigen, die die Werte der Proteste von 2020 teilen und sich an den nationalen Geschichtsnarrativen orientieren, die Belarus als wichtigen Teil des Großfürstentums Litauen oder der polnisch-litauischen Adelsrepublik verstehen, die begreifen, dass der russische Krieg gegen die Ukraine auch ein Krieg um die kulturelle Diversität Ostmitteleuropas ist, wie es der belarusische Philosoph Ihar Babkou in einem Essay beschreibt.[4] Eine Diversität, zu der auch Belarus gehört. Es sind diejenigen, die für ihre Heimat eine Abwendung von Russland wollen und eine Hinwendung nach Westen. „Die Helden der belarusischen Geschichte, die gegen das Russische Imperium kämpften und die bis vor Kurzem noch offiziell geehrt wurden, wurden nun zu Feinden erklärt“, schreibt der Analyst Artyom Shraibman. „Dazu gehören zum Beispiel die Anführer der antirussischen Aufstände im 18. und 19. Jahrhundert, Tadeusz Kościuszko und Kastus Kalinouski.“[5] Nach Kalinouski ist das Freiwilligen-Bataillon benannt, das auf Seiten der ukrainischen Armee kämpft.

Der russische Einfluss ist merklich gestiegen, auch dadurch, dass die unabhängigen Medien vertrieben und ihre Telegram-Kanäle kriminalisiert wurden, während die belarusischen und russischen Staatsmedien nun nahezu eine Monopolstellung haben. Um die Unabhängigkeit der Republik Belarus ist es nicht gut bestellt. Sie hat erst wieder eine wirkliche Chance, wenn die Ukraine Russland soweit zurückdrängen könnte, dass Putin innenpolitisch unter immensen Druck geriete.[6] Aber selbst dann wäre es nicht mit absoluter Sicherheit gegeben, dass Lukaschenka fällt. Es könnte genauso gut sein, dass sich in Russland andere Ultraautoritäre oder Bösewichte an die Macht putschen, die sich dann – aus Kompensationsgründen – Belarus einverleiben. Und selbst wenn Lukaschenka fallen und Russland sich zurückhalten würde, ist es durchaus denkbar, dass sich aus dem System heraus ein neuer autoritärer Führer hervortut, der alles dafür tun wird, dass sich Belarus nicht in Richtung Demokratie orientiert. All die Geheimpolizisten und Systemtruppen wissen schließlich ganz genau, dass es ihnen juristisch an den Kragen geht, wenn die Rechtsstaatlichkeit Einzug hält. Also werden sie ihr Leben mit Haut und Haaren verteidigen. Und es ist ziemlich klar, dass die demokratische Staatengemeinschaft auch in diesem Fall so gut wie gar nichts tun könnte.[7]

Hoffnungsvolle Aktivitäten im Exil
Nachdem die Belarusen sich 2020 derart mutig zu Wort gemeldet haben und sich damit in der internationalen Welt endlich als Kollektiv bemerkbar und sichtbar gemacht haben, sind sie mittlerweile wieder ins Abseits gerutscht. Über das sich weiterhin radikalisierende Repressionssystem wird nahezu gar nicht mehr berichtet, aus den öffentlichen Debatten ist Belarus völlig verschwunden. Ich beschäftige mich seit fast drei Jahrzehnten mit Belarus, daraus sind viele Verbindungen und Freundschaften entstanden. Es ist schmerzhaft anzusehen, wie sehr das Schicksal der Belarusen vernachlässigt wird.

In Vilnius aber beispielsweise ist es allgegenwärtig. Tausende sind hierhin geflohen, in die litauische Hauptstadt, die auch historisch immer ein Fixpunkt für Belarusen war.[8] Ihre Präsenz, auch die Nähe zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, ist hier im Stadt- und Straßenbild allgegenwärtig. Man hört Belarusisch, Russisch, sieht ukrainische und weiß-rot-weiße Fahnen, Graffiti und andere Zeichen der Solidaritätsbekundung, nicht nur an offiziellen Gebäuden, sondern auch an Wohnungen, in Cafés oder Geschäften. Minsk ist nicht weit entfernt, aber für viele Belarusen in der jetzigen Zeit ist die Stadt, ist ihre Heimat unerreichbar. Täglich kommen Busse mit belarusischen Kennzeichen am Busbahnhof an, verlassen ihn in Richtung Belarus und lassen Verwandte und Freunde, die einen Kurzbesuch von ihren Liebsten erhalten haben, mit traurigen und sehnsüchtigen Blicken in der eisigen Kälte zurück. „Litauen hat rund 100 000 Belarusen und Ukrainer aufgenommen“, berichtet ein belarusischer Journalist. „Das ist im Verhältnis so, als hätte Deutschland fünf Millionen Flüchtlinge innerhalb kurzer Zeit aufnehmen müssen. Aber wir erfahren keine Fremdenfeindlichkeit.“ Nur die litauische Politik und die Geheimdienste machen den Belarusen seit geraumer Zeit Probleme. Es ist schwieriger geworden, Aufenthaltsgenehmigungen zu erhalten oder zu verlängern. Begründet wird dies mit Sicherheitsbedenken, zu viele Belarusen und damit möglicherweise Spione und Systemgetreue ins Land zu lassen.

Es gibt selbstredend nicht nur finstere Nachrichten. Obwohl die Belarusen in der öffentlichen Debatte in unseren Breiten nicht mehr auftauchen, gibt es nach wie vor zahlreiche Kunst- und Kulturveranstaltungen, die sich Belarus widmen. Neue belarusische Literatur findet ihren Weg ins Deutsche, aktuell das Buch Samota der belarusischen Autorin und Lyrikerin Volha Hapeyeva oder das Epos Hunde Europas von Alhierd Bacharevič , das in Belarus für „extremistisch“ erklärt und damit verboten wurde.

Der große österreichische Autor und Kulturvermittler Martin Pollack hat mal gesagt, dass wir Europäer eine Bringschuld gegenüber den Belarusen hätten: „Wir müssen uns mit ihnen beschäftigen, wir müssen mehr belarusische Literatur übersetzen, uns dem Land öffnen und die Belarusen einladen, wo es nur möglich ist.“[9] Pollack hat die komplexen Verästelungen, die die belarusische Geschichte und Kultur über die Jahrhunderte entfaltet und ausgeworfen hat, längst verinnerlicht. Er hat begriffen, dass sie ein bedeutender Teil dieses wunderbar vielschichtigen Ostmitteleuropas sind. Einem Raum, der im Kriegs- und Konfrontationsdenken des 20. Jahrhunderts verschütt gegangen ist, aus unserem Wissen und unserer Erinnerung getilgt wurde. Seit geraumer Zeit ruft sich dieser Raum wieder in Erinnerung, als seien ruhelose Geister erwacht. Sie fordern uns auf, endlich unseren Blick zu öffnen und zu befreien.

Anmerkungen:
[1])    Vgl. RGOW 48, 12 (2020): Verordneter Stillstand und Proteste. Politik und Religion in Belarus und Russland.

[2])    Petz, Ingo: Am Ende der Information? – Medien in Belarus. In: RGOW 49, 7–8 (2021), S. 3–5.

[3])    Lenkewitsch, Igor: „In Belarus sind zwei unversöhnliche Lager entstanden“, https://www.dekoder.org/de/article/belarus-nationale-identitaet-studie-polarisierung

[4])    Babkou, Ihar: Von Fischen und Menschen, https://www.dekoder.org/de/article/babkou-von-fischen-und-menschen

[5])    Shraibman, Artyom: Lukaschenko auf dem Weg zum Totalitarismus: Was kann ihn stoppen, https://www.dekoder.org/de/article/shraibman-belarus-totalitarismus-lukaschenko

[6])    Burkhardt, Fabian: In den Fängen des Krieges. Belarusisches Regime und Opposition. In: RGOW 50, 8–9 (2022), S. 38–40.

[7])    Klaskowski, Alexander: „Das Imperium muss sterben“, https://www.dekoder.org/de/article/klaskowski-imperium-russland-belarus-krieg-ukraine

[8])    https://specials.dekoder.org/belarus-grossfuerstentum-litauen/

[9])    https://www.deutschlandfunk.de/belarus-texte-und-stimmen-5-7-die-frage-der-nation-100.html

Ingo Petz ist Journalist und beim Medienprojekt dekoder.org für Belarus zuständig. Neben seiner Arbeit als Journalist organisiert er Konzerte und Lesungen für belarusische Musiker und Schriftsteller.

Bild: Viele Belarusen sind nach Litauen geflohen. (Foto: Shutterstock.com / Sergei Melnikov)

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