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Wie ich Extremist wurde. Verbotene Literatur in Belarus

RGOW 02/2024
Alhierd Bacharevič

Seit der Niederschlagung der Proteste gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 in Belarus ist der Extremismus-Begriff enorm ausgeweitet worden. Alle möglichen Publikationen, aber auch Personen und Gruppen werden als extremistisch eingestuft, wenn sie sich gegen die staatliche Politik positionieren. Extremistische Bücher werden verboten und zerstört, ihre Autoren von ihrem Publikum abgeschnitten. Zugleich verweist die Entwicklung auf einen neuen, gestiegenen Stellenwert der Literatur in der belarusischen Gesellschaft.

Die Liste ist sehr leicht im Internet zu finden, man muss nur die Seite der wichtigsten belarusischen Propaganda-Gazette öffnen, sie heißt Belarus Segodnja (Belarus heute), aber ihr früherer Name, Sowjezkaja Belorussija (Sowjetisches Belorussland), ist auch nach Jahrzehnten noch Programm. Dann steht sie da: lang, öde, voller Namen und Titel, hängt allen zur „Belehrung“ auf der Webseite, wie eine Leiche am Galgen – die „Liste der extremistischen Materialien der Republik Belarus“.

Tatsächlich ist diese Liste nur auf den ersten Blick öde. Auf den zweiten ist sie eine durchaus interessante Lektüre. Besonders dann, wenn du deinen eigenen Namen und deine Bücher darauf findest.

Ausweitung des Extremismus-Begriffs
Bis 2020 standen ganz unterschiedliche Materialien auf dieser Liste, aber so umfangreich war sie bei Weitem nicht. Lediglich Informationsmedien mit nazistischer Ausrichtung, ein paar kaum bekannte chauvinistische Manifeste und einige Beispiele von oppositionellem Journalismus. Aber nach der brutalen Niederschlagung der Revolution durch das Regime wird die Liste seit 2021 regelmäßig, nahezu monatlich, ergänzt und hat monströse Ausmaße angenommen. Das Wichtigste ist, dass nun belarusische Bücher darin auftauchen, bei denen bis vor Kurzem nicht einmal Lukaschenkas euphorischste Zerberusse auf die Idee gekommen wären, sie des Extremismus zu bezichtigen.

Auch zwei meiner Bücher stehen auf dieser Liste. Zum einen der Roman Europas Hunde, dessen deutsche Übersetzung von Thomas Weiler im Februar 2024 bei Voland & Quist erscheint. Im Frühjahr 2021 war eine komplette Neuauflage des Romans an der litauischen Grenze vom belarusischen Zoll beschlagnahmt und später von einem Gericht zu „extremistischer Literatur“ erklärt worden. Zwei Jahre später wandte sich die belarusische Behörde GUBASIK, eine Organisation, die heute in Belarus die Funktion der politischen Geheimpolizei ausübt, mit dem Gesuch an ein Gericht, auch meinen Band Das letzte Buch von Herrn A. für extremistisch zu erklären. (Die deutsche Übersetzung erschien 2023 bei edition.fotoTAPETA in Berlin, ins Deutsche übertragen von meinem Verleger Andreas Rostek und mir selbst.) Ein belletristisches Werk, Märchen für Erwachsene. Natürlich gab das Gericht dem Gesuch mit Freuden statt. Überhaupt befürworten die belarusischen Gerichte untertänig alle Gesuche der politischen Polizei. Weder Verleger noch Autoren werden zu den Gerichtsverhandlungen geladen – warum auch, wenn ohnehin klar ist, wie das Urteil ausfallen wird.

Was bedeutet es, wenn dein Buch zur „extremistischen Literatur“ erklärt wird? Zunächst einmal werden diese Bücher konfisziert, in den Buchhandlungen aus dem Verkauf genommen und aus den Bibliotheken entfernt. Die Leser werden sie nie wieder irgendwo finden. Zweitens droht für Besitz und Verbreitung dieser Bücher entweder eine Geldstrafe oder eine kurze Haftstrafe. Drittens werden solche Bücher vernichtet. Aus Belarus dringen Informationen, dass man sie mit dem Traktor in die Erde walzt. Oder, wie die Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schrieb, man verbrennt sie. In einem Interview teilte sie kürzlich Informationen von Bekannten, die in Belarus geblieben sind. Sie berichteten, dass die Bücher Alexijewitschs, aber auch Werke von Uladsimir Arlou und mir, in eine große Grube geworfen und verbrannt wurden.

Und es gibt auch noch ein Viertens: Sobald eines deiner Bücher zum „extremistischen“ erklärt wurde, fallen auch alle anderen unter das Verbot. Du kannst also im Land nicht mehr verlegt werden, bist von deinen Lesern abgeschnitten, verschwindest als Autor. Man verbietet es dir faktisch, deinen Beruf auszuüben. Du bist gefährlich, also wird dein Name ausgemerzt. Du existierst nicht mehr.

Alle, die gegen das Regime sind, sind Extremisten
Ich kann nachvollziehen, warum meine Bücher verboten wurden. In einem Teil des Romans Europas Hunde beschreibe ich die Zukunft im Jahr 2049, in der Belarus bereits nicht mehr existiert – es wurde vom großen Russischen Imperium annektiert, das einen Weltkrieg entfacht hat. Und Das letzte Buch von Herrn A. spart nicht mit Kritik an und Satire auf Lukaschenkas Regime. Vor einigen Jahren ging die Nachricht durch die westlichen Medien, in Belarus sei 1984 von George Orwell verboten worden. Das traf nicht zu, man hatte lediglich den staatlichen Buchhandlungen empfohlen, diesen Roman nicht mehr zu verkaufen, ein offizielles Verbot gab es nicht. Doch die Tendenz sprach Bände. In der Liste der extremistischen Materialien finden sich auch viele Sachbücher, historische zum Beispiel. Denn die Geschichte, die sie erzählen, unterscheidet sich stark von den Narrativen der Propaganda.

Bei einigen der Bücher, die zuletzt auf die Verbotsliste kamen, fällt es schon bedeutend schwerer, die Logik der Behörden nachzuvollziehen. Was hatten sie gegen ein kleines Poem für Kinder des jungen Joseph Brodsky mit dem Titel Die Ballade vom kleinen Schlepper? Eine Antwort fällt hier wirklich schwer. Wahrscheinlich lag es einfach an den Farben des Buchcovers: Weiß-rot-weiß ist in der Republik Belarus verboten. Es sind die Farben unserer Nationalflagge, die Lukaschisten reagieren allergisch darauf. Ungeachtet dessen, dass das Cover des Brodsky-Buches eher orange ist, entdeckte jemand darin wohl einen Aufruf zur Revolution. Weshalb wurde die Erzählung Der weiße Spitz einer lang verstorbenen, unauffälligen sowjetischen Schriftstellerin für extremistisch erklärt? Weil Lukaschenka einen weißen Spitz besitzt. Die Liste der extremistischen Materialien ist nicht nur eine Chronik der Verfolgung, sondern auch eine Dokumentation unglaublicher Absurditäten.

„Extremismus“ ist eines der populärsten Wörter im belarusischen Wortschatz der letzten Jahre. Für „extremistisch“ werden Organisationen, Zeitungen, Telegram-Kanäle, Symbole und Bücher erklärt. Menschen werden als „Extremisten“ abgestempelt. Alles, was sich gegen die staatliche Politik richtet, die alle Lebensbereiche vollständig kontrollieren will, auch Kunst und Kultur – ist Extremismus. Alle, die es wagen, sich dem Regime entgegenzustellen – sind Extremisten.

So bin ich zum Beispiel nicht nur Autor extremistischer Bücher. Ich bin auch Mitglied einer extremistischen Organisation (PEN Belarus), habe für eine extremistische Formation geschrieben (Radio Svaboda) und eine extremistische Auszeichnung bekommen (die Medaille des Rates der BNR, der belarusischen Exilregierung). Doch ich lebe im Exil, ich bin in Sicherheit. Aber es gibt Menschen, die für ihre Ansichten zu Extremisten erklärt werden, und nun in Gefängnissen sitzen. In Belarus gibt es etwa 1 500 politische Gefangene.

Aber warum verbieten sie Bücher? Halten sie die Literatur wirklich für so gefährlich? Bis 2020 sahen die Machthaber in uns keine sonderliche Bedrohung. Die belarusische Literatur war eher eine Randerscheinung und hatte keinen großen Einfluss auf die Gesellschaft. Aber nach den Protesten 2020 änderte sich alles. Die Belarusen glaubten der Propaganda nicht mehr – selbst diejenigen, die früher Lukaschenka unterstützt hatten (das waren eher wenige), und selbst diejenigen, denen im Großen und Ganzen alles egal war (das war die Mehrheit). Die Belarusen begannen endlich nachzudenken: Wer sind wir? Wie sind wir an diesen Punkt unserer Geschichte gelangt? Was für eine Nation sind wir? Warum hat man uns in einen Krieg hineingezogen? Was erwartet uns noch? Auf der Suche nach Antworten begannen sie, sich verstärkt Kunst, Kultur und Literatur zuzuwenden. So wurde die Literatur zur Gefahr für die Macht. Denn sie wurde gelesen, sie war gefragt.

Die vielleicht ehrlichste Antwort auf diese Frage gab ein Beamter der Strafverfolgungsorgane meinem belarusischen Verleger. Er war für seine Tätigkeit verhaftet worden, unter anderem, weil er meine Bücher herausgab. „Verstehst du“, sagte man ihm bei der politischen Polizei, „es gibt richtige und falsche Bücher. Du gibst die falschen heraus. Man hat dich gewarnt, aber du machst ja immer weiter.“ Letztlich verbrachte mein Verleger 28 Tage in Haft. Weil er falsche Bücher von falschen Autorinnen herausgegeben hatte, für falsche Leser.

Neue Bücher schreiben
Auf der Webseite von Belarus Segodnja findet man nicht nur die aktuelle Liste der extremistischen Materialien. Von Zeit zu Zeit erscheinen dort auch „publizistische Artikel“, die sich der „falschen“ Literatur widmen. Ihr Autor ist ständig auf der Suche nach Extremismus, er weiß, wie man gegen ihn kämpft. Kulturschaffende, die Lukaschenka nicht unterstützen, empfiehlt er beispielsweise aufzuhängen. Öffentlich, auf dem zentralen Platz. Im Fernsehen wiederum hörte man schon Aufrufe, Gegner der Macht mit Eispickeln umzubringen.

Mein belarusischer Verleger Andrej Januschkevitsch lebt jetzt in Polen und gibt dort Bücher heraus. Ich lebe in Deutschland und schreibe neue Bücher. Die belarusischen Leserinnen und Leser emigrieren massenhaft nach Polen, Litauen und Georgien. Der Staat zwingt alle „falschen“ Leute aus dem Land. Diejenigen, die „falsche“ Bücher lesen, diejenigen, die sie schreiben und verlegen. Was sollen wir tun? Die Antwort auf diese Frage formuliere ich im Vorwort meines neuen Buches: Neue Bücher schreiben – schmerzhafte und beißende, feinfühlige und wahrhaftige, frei von Selbstzensur und Angst. Eine freie belarusische Literatur schaffen.

Die Literaturverbote in Belarus sind nicht zuletzt deshalb absurd, weil sie im 21. Jahrhundert keinerlei Effekt haben. Wir leben ja nicht mehr in 1984. Die Menschen lesen die „extremistische“ Literatur weiterhin, denn es gibt E-Books, die man so gut wie nicht verbieten kann, dazu müsste man den Belarusen das Internet abdrehen. Jedes neue Verbot erzeugt nur noch größeres Interesse am Werk der gefährlichen Autoren. Bei denen, die emigriert sind, bei denen, die im Land geblieben sind, bei denen, die unsere Bücher in andere Sprachen übersetzen und herausgeben. Und bei allen, die unsere bis vor Kurzem fast unsichtbare Literatur gerade erst entdecken – die Literatur eines europäischen Landes, in dem just eine neue Ordnung erblüht: ganz gewöhnlicher Faschismus.

Übersetzung aus dem Belarusischen: Tina Wünschmann

Alhierd Bacharevič ist ein belarusischer Schriftsteller. Er studierte belarusische Literatur und Sprachwissenschaft an der Pädagogischen Universität in Minsk. Er hat mehrere Romane und Essaysammlungen publiziert, seine Bücher sind ins Deutsche, Englische, Polnische, Französische, Russische und weitere Sprachen übersetzt. Seit Ende 2020 lebt er im Exil, aktuell in Deutschland.

Bild: Die deutsche Übersetzung von Bacharevičs Roman „Europas Hunde“ ist im Februar 2024 bei Voland & Quist erschienen. (Foto: Voland & Quist)

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