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Buchbesprechungen

Regula Zwahlen, Stefan Kube, Natalija Zenger

Vier Buchbesprechungen zu
Myroslaw Marynowytsch: Das Universum hinter dem Stacheldraht;
Anatolii Babynskyi: The Ukrainian Greek Catholic Church;
Ievgeniia Gubkina: Being a Ukrainian Architect During Wartime;
Gionathan Lo Mascolo (ed.): The Christian Right in Europe

Myroslaw Marynowytsch
Das Universum hinter dem Stacheldraht
Memoiren eines sowjet-ukrainischen Dissidenten
Übersetzt von Max Hartmann und Nadia Simon
Stuttgart: ibidem-Verlag 2023, 564 S.
ISBN: 978-3-8382-1806-9. € 39.90; CHF 56.90.

Myroslaw Marynowytsch (*1949), stv. Rektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw, von Beruf Elektrotechniker, war 1976 Mitgründer der ukrainischen Helsinki-Gruppe, die die Einhaltung der Menschenrechte in der 1975 von der UdSSR unterzeichneten KSZE-Schlussakte anmahnte. 1973 war er nach der Niederlegung von Blumen beim Denkmal des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko erstmals verhaftet worden, 1977 wurde er zu sieben Jahren Zwangsarbeit in Russland und zu fünf Jahren Verbannung in Kasachstan verurteilt. 1991 war er Mitgründer der ukrainischen Amnesty International Gruppe.

Dieser Lebenslauf steht für ein geistig reichhaltiges und physisch entbehrungsreiches Leben, dessen Memoiren ein ungewöhnliches Zeitdokument darstellen. Mit dem „Universum hinter dem Stacheldraht“ ist die geistig freie Innenwelt der Gemeinschaft politischer Gefangener gemeint: „Ukrainer, Esten, Juden, Armenier, Russen… Schriftsteller, Ingenieure, Bauern… wir waren eine Welt, wir waren frei!“ – so brachte es Marynowytschs Lagerkollege Semen Gluzman zum Ausdruck (S. 419–420). 30 bis 40 Prozent der Strafgefangenen im Ural stammten aus der Ukraine. Zu den zahlreichen eindrücklichen Szenen aus dem umfangreichsten Kapitel zur Lagerhaft gehört etwa die Solidarität Marynowytschs mit einem einsamen Armenier: Um ihm „zumindest ein wenig den Klang seiner Muttersprache zu ermöglichen, schlug ich ihm vor, dass er sie mir beibringt, worüber er sich sehr freute“ (S. 367). Bewegend ist auch das Unterkapitel zum religiösen, „ökumenischen“ Leben im Lager, wo Bibelzitate atheistischer Propagandaliteratur entnommen wurden, „die eigene geschundene Seele zu einer heiligen Kathedrale“ wurde (S. 378), und wo ein Moment, in dem Kriminelle ihre knappe Brotration mit dem vom Hungerstreik ausgezehrten Autor teilten, „eine wahrlich liturgische Bedeutung bekam“ (S. 384).

Die weiteren Kapitel gewähren Einblick in die Szene der ukrainischen Menschenrechtsbewegung der 1970er Jahre (mit Namenslisten), in die Umstände der Untersuchungshaft und der Verbannung in Kasachstan und ziehen Schlussfolgerungen für die Gegenwart: „Die Hauptquelle, aus der ein Mensch seine Kraft schöpft, ist der menschliche Geist“ (S. 520). Für Marynowytsch ist der heutige Verteidigungskampf gegen die „geistlose ‚Metastase‘“ von Putins Clique (S. 541) die Voraussetzung dafür, dass sich die „ehemals ‚blutdurchtränkten Böden‘ (engl. Bloodlands, Buchtitel von Tymothy Snyder, der ein Vorwort zu diesem Buch verfasst hat) zu einem Ort der wahren Versöhnung und des Wohlergehens verwandeln“ (S. 546).

Regula Zwahlen

Anatolii Babynskyi
The Ukrainian Greek Catholic Church
A Short History
Lviv: Svichado 2022, 179 S.
ISBN 978-966-938-540-6. UAH 280.–.

Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) ist zahlenmäßig die größte katholische Ostkirche, d. h. eine Kirche, die einem östlichen Ritus folgt – daher die Bezeichnung „griechisch“ –, aber in Kirchengemeinschaft mit Rom steht. In der Ukraine bekennen sich ca. 10 Prozent der Bevölkerung zur UGKK; größere Gemeinden gibt es aber auch in Nord- und Südamerika, Australien, Westeuropa und Kasachstan. In einer „kurzen Geschichte“, die sich an ein breiteres Publikum richtet, informiert der ukrainische Kirchenhistoriker Anatolii Babynskyi über die Geschichte der UGKK, die zu sowjetischen Zeiten die größte Untergrundkirche weltweit war.

Babynskyi beginnt seine Darstellung mit der Christianisierung der Kyjiwer Rus am Ende des 10. Jahrhunderts und der Entwicklung in den folgenden Jahrhunderten, als das Gebiet der heutigen Ukraine unterschiedlichen politischen und religiösen Einflüssen aus Ost und West unterlag. Ausführlich geht er auf die Union von Brest 1595/96 ein, mit der sich die UGKK als eigenständige Kirche formierte. Dabei macht Babynskyi aber auch auf die unterschiedlichen Erwartungen aufmerksam: Während die ukrainischen Bischöfe, die sich zur Kirchenunion mit Rom entschlossen, glaubten, als gleichberechtigte Kirche wahrgenommen zu werden, sah Rom in der Union „eine Rückkehr schismatischer Bischöfe in den Schoß der wahren Kirche“ (S. 54).

Mit den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik Ende des 18. Jahrhunderts verkleinerte sich auch der Wirkungsradius der UGKK, da das russische Zarenreich in den neu hinzugewonnen Gebieten die Tätigkeit der unierten Kirche immer mehr einschränkte und diese zur „Wiedervereinigung“ mit der orthodoxen Kirche drängte. Im habsburgisch beherrschten Galizien konnte sich die unierte Kirche jedoch weiterhin entfalten, so dass die Region zum Schwerpunktgebiet der UGKK wurde.

Nach der endgültigen Eingliederung der heutigen Westukraine in die Sowjetunion 1945 wurde die UGKK auf Druck der sowjetischen Behörden ein Jahr später auf einer Pseudo-Synode in Lwiw mit der Russischen Orthodoxen Kirche zwangsvereinigt. Die Kirche konnte in der Sowjetunion nur im Untergrund bzw. in der Emigration weiterexistieren. Erst im Dezember 1989 erlaubten die Behörden wieder die Registrierung griechisch-katholischer Gemeinden. Daraufhin kehrte in der westlichen Ukraine lawinenartig der größte Teil der orthodoxen Gemeinden zur UGKK zurück (S. 150). Die letzten Kapitel widmet Babynskyi dem kirchlichen Wiederaufbau in der unabhängigen Ukraine und dem Engagement der UGKK bei der Revolution der Würde.

Stefan Kube

Ievgeniia Gubkina
Being a Ukrainian Architect During Wartime
Essays, Articles, Interviews, and Manifestos
Berlin: DOM publishers 2023, 168 S.
ISBN 978-3-86922-839-6. € 28.–; CHF 30.80.

Als der russische Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 begann, verließ die Architektin, Stadtplanerin und Architekturhistorikerin Ievgeniia Gubkina mit ihrer Tochter ihre Heimatstadt Charkiw. Seither hat sie in zahlreichen Interviews, Reden und Artikeln über die Zerstörung des ukrainischen Architekturerbes gesprochen. Der vorliegende Band versammelt einen Teil davon, die meisten Beiträge stammen aus dem Frühling und Sommer 2022, ergänzt werden sie von einigen wenigen älteren Texten.

In den Beiträgen beschreibt Gubkina den schmerzlichen Verlust des einzigartigen Architekturerbes ihrer Heimatstadt, die vor allem zu Beginn des Kriegs massiv beschossen und stark beschädigt wurde. Charkiw gilt als Zentrum des sowjetischen Modernismus, aber auch herausragende Beispiele anderer Baustile sind in der Stadt zu finden. Neben der historischen und kulturellen Bedeutung der Architektur betont Gubkina stets auch ihre Bedeutung für die Menschen, die sie nutzen und die einen Bezug zu ihr haben, zumal neben historischen Stadtteilen auch Wohnquartiere beschossen und massiv zerstört wurden. Insofern sei eine Wahl oder ein Gegensatz zwischen „Überleben und Kultur“ eine „Illusion“ (S. 72).

Zentral ist in den Texten zudem die Frage des Wiederaufbaus, ob eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion zerstörter Orte erstrebenswert ist, oder ob die Situation als Chance für einen Neuaufbau von Städten verstanden werden sollte. Dabei spricht sich Gubkina für eine gründliche Diskussion über einen sorgfältigen Umgang mit dem Kulturerbe aus, plädiert aber dafür, bei Wohngebieten offen zu sein und die Infrastruktur zu verbessern. Kritisch sieht sie Initiativen von außen, wie den Wiederaufbauplan von Norman Foster für Charkiw, weil dabei die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung völlig ignoriert und die Pläne ohne vertieftes Wissen über die Stadt und ihr Erbe gemacht würden. Problematisch seien beim Wiederaufbau auch die schwachen Gesetze für die Bewahrung von Kulturerbe und für Stadtplanung in der Ukraine.

Wiederholt betont Gubkina, dass die Zerstörung des Kultur- und Architekturerbes in der Ukraine gemäß internationalen Abkommen ein Kriegsverbrechen ist. Dieses werde von Russland gezielt eingesetzt, um die Bevölkerung zu demoralisieren und die ukrainische Identität zu zerstören. Es sei zwingend nötig, diese Verbrechen zu ahnden. Zudem kritisiert sie, dass die UNESCO trotz aller Kriege seit ihrer Gründung keine Verfahren zum Schutz von Kulturgütern zu Kriegszeiten erarbeitet hat und der kriegsbedingten Zerstörung entsprechend hilflos gegenübersteht.

Natalija Zenger

Gionathan Lo Mascolo (ed.)
The Christian Right in Europe
Movements, Networks, and Denominations
Bielefeld: transcript-Verlag 2023, 386 S.
ISBN: 978-3-8376-6038-8. € 45.–; CHF 61.–; open access.

Der Sammelband analysiert die „christliche Rechte“ als politisches Phänomen anhand von 20 europäischen Fallbeispielen von Portugal bis Russland. Dabei sei der Einfluss des amerikanischen Kulturkampfs zwischen konservativen und liberalen Kräften innerhalb der Religionsgemeinschaften selbst zunehmend auch in Europa zu beobachten. Zwar bleibe eine „Mehrheit der christlichen Kirchen in Europa stark der liberalen Demokratie verpflichtet“ (S. 12) und existiere die christliche Rechte in ihren nationalen Kontexten als Minderheiten (S. 30), doch sei das Phänomen nicht zuletzt aufgrund transnationaler Netzwerke ernst zu nehmen.

Der „Kreuzzug“, der vor allem Anti-Gender-Ideen und die Angst vor Immigration bewirtschaftet, stellt gemäß der informativen Einleitung der Politologen Gionathan Lo Mascolo und Kristina Stöckl eine Form der Säkularisierung dar: „eine Abkoppelung des Christentums als Glauben (Christianity) von einem Christentum als kulturelles Identitätsmerkmal der Nation (Christendom)“ (S. 24). Eine wichtige Rolle bei der Organisation der transnationalen Bewegung spielte bis zum Krieg gegen die Ukraine die Russische Orthodoxe Kirche, doch die meisten Akteure der christlichen Rechten im Westen lehnen einen realen Krieg um „traditionelle Werte“ ab (S. 70). Ein Kapitel zur „europäischen Bubble“ analysiert, wie sich konservative Akteure in europäische Institutionen mit denselben Methoden einbringen wie progressive, diese Institutionen aber gleichzeitig diskreditieren, z. B. indem sie ihnen Mangel an christlichen Werten vorwerfen (S. 51). Die Fallbeispiele veranschaulichen, wie unterschiedlich die politischen Voraussetzungen und Gemengelagen in den verschiedenen Ländern sind. So gehen zwar pro-ukrainische Positionen fast aller Religionsgemeinschaften in der Ukraine teilweise mit einem „traditionellen“ Wertediskurs einher, doch weisen beispielsweise die ökologischen und sozialen Anliegen (Diakonie für Migranten) der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche eine andere Ausrichtung auf (S. 359).

Insgesamt zeigen die Beiträge, dass die Beziehungen zwischen radikalen Rechtsparteien, Anti-Gender-NGOs und konservativen Christen in ganz Europa oft sehr vorsichtig und situativ bleiben (S. 27). Zudem besteht eine beliebte Taktik der christlichen Rechten (das sog. „Astroturfing“), darin, die realen Dimensionen einer Kampagne zu übertreiben, um den Mangel an weitreichender Popularität wettzumachen (S. 30). Das erschwert die Forschungsaufgabe, die wahre Dimension der christlichen Rechten als „echte Gefahr für die liberale Demokratie“ (S. 35) realistisch einzuschätzen.

Regula Zwahlen

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