Go west. Die Ukrainer haben ihre geopolitische Wahl getroffen
RGOW 3-4/2024
Unter dem Eindruck des russischen Angriffs seit 2014 und insbesondere der Großinvasion seit 2022 hat sich die Einstellung der ukrainischen Gesellschaft zu Russland und zum Westen verändert. Die außenpolitische Orientierung nach Westen, inklusive Beitritt zur EU und NATO, ist Mehrheitsmeinung in der Ukraine, eine gemeinsame Zukunft mit Russland ist ausgeschlossen. Ambivalente und zögerliche Positionen im Westen und globalen Süden stoßen in der Ukraine auf Unverständnis.
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben die ukrainische Gesellschaft und ihr politisches System einen anderen Transformationspfad als Russland gewählt. Doch vor 2014 war die öffentliche Meinung geopolitisch gespalten: Ukrainer standen sowohl einer Mitgliedschaft in der EU als auch in der Union von Russland und Belarus positiv gegenüber. Wenn sie sich jedoch in Umfragen für eine Option entscheiden mussten, präferierte eine Mehrheit die EU. Hinsichtlich der NATO war die Situation anders: 2010 verkündete Kyjiw offiziell einen blockfreien Status. Nur 13 Prozent der Ukrainer unterstützten 2012 eine NATO-Mitgliedschaft.[1] Sie vertrauten dem Budapester Memorandum von 1994: Mit der Vereinbarung verzichtete Kyjiw auf sein Atomwaffenarsenal, das drittgrößte der Welt (größer als das britische, französische und chinesische zusammen), im Austausch für Sicherheitsgarantien für seine territoriale Integrität seitens der USA, Großbritanniens und Russlands. Aber 2014 besetzte Russland die Krim und griff die blockfreie, nicht-nukleare Ukraine im Donbass an.
Nach dem Beginn der russischen Aggression 2014 brach die Unterstützung für den „eurasischen Vektor“ (eine Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan) dramatisch ein: auf nur 8 Prozent am Vorabend der Invasion 2022. Stattdessen wuchs die Unterstützung für die EU und erreichte im Dezember 2022 79 Prozent.[2] Die dramatischste Veränderung betraf jedoch die Einstellung gegenüber der NATO: Mit seiner Rede von der „NATO-Bedrohung“ verwandelte der russische Präsident Vladimir Putin die ukrainische Gesellschaft eigenhändig in eine überzeugte NATO-Unterstützerin.
Obwohl Volodymyr Zelenskyj in seiner Präsidentschaftskampagne 2019 in seinem Umgang mit Putin naiv, unerfahren und pazifistisch erschien, war die Mehrheit seiner Wähler:innen dafür, der NATO und der EU beizutreten. Zunächst versuchte Präsident Zelenskyj noch einen Kompromiss mit Putin zu erreichen, aber angesichts der Realitäten des russischen Drucks musste er seinen Ansatz ändern. In der Ukraine gibt es eine Redensart, dass alle ukrainischen Präsidentschaftskandidaten eine Entwicklung der Beziehungen zu Russland versprechen, aber die Politik des Kremls aus allen ukrainischen Präsidenten „Nationalisten“ macht.
Um die Großinvasion zu rechtfertigen, verlangte Putin erneut einen „neutralen Status“ der Ukraine. Als Russland während der ersten Tage der Invasion erfolgreich war, schien die ukrainische Führung bereit, über diese Option zumindest zu diskutieren. Nach dem russischen Rückzug vor Kyjiw und der Entdeckung der Massenmorde in Butscha änderte das offizielle Kyjiw seine Position jedoch schnell. Demgegenüber fokussierte das Konzept des „Kyiv Security Compact“, das die „Rasmussen-Jermak-Gruppe“ im September 2022 vorschlug, auf die sofortige Versorgung des Landes mit Waffen, Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Fall von Aggressionen gegen die Ukraine und das Training von ukrainischen Soldaten. Das Konzept schloss auch eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO nicht aus.
In einer Umfrage von Dezember 2022 votierten nur 9 Prozent der Befragten für einen „blockfreien Status mit internationalen Sicherheitsgarantien für die Ukraine“. Die Option einer NATO-Mitgliedschaft erhielt sogar im Süden und Osten des Landes, deren Bevölkerung traditionell der Allianz gegenüber skeptischer eingestellt gewesen war, eine relative Mehrheit.[3]
Deutliche Distanzierung von Russland
Der Westen rühmte Zelenskyj dafür, dass er nicht flüchtete, wie es beispielsweise der afghanische Präsident Ashraf Ghani im August 2021 getan hatte. Aber wieso sollte er? Kein einziger ukrainischer Abgeordneter verließ Kyjiw (mit Ausnahme einiger weniger prorussischer). Zelenskyj verhielt sich kühn, weil er von einer tapferen Gesellschaft gestützt wurde. Seine Reden klangen so kraftvoll, weil er die Wahrheit sprach, seine Redenschreiber mussten nichts erfinden.
Präsident Zelenskyj selbst ist ein gutes Beispiel für die ukrainische politische Nation: ein russischsprachiger Jude aus der russifizierten Stadt Kryvyj Rih, der erst fließend Ukrainisch zu sprechen begann, nachdem er Präsident geworden war. Nur schon diese Tatsache untergräbt die russische Propaganda, dass die Ukraine „von ukrainischen Nazis regiert“ werde. Rustem Umerov, der aktuelle Verteidigungsminister, ist ein muslimischer Krimtatar. Die meisten Ukrainer sind zweisprachig, und viele Russischsprachige als auch ethnische Russen sind ein legitimer Teil der ukrainischen politischen Nation.
Einige liberale Russen und Westler glauben, dass allein Putin die Verantwortung für den Krieg trägt. Um Russland von der Diktatur zu befreien, müsse er daher entfernt werden. Die ukrainische Perspektive ist allerdings eine andere: Viele Ukrainer haben Verwandte in Russland, von denen die meisten aber unter dem Einfluss der Kreml-Propaganda stehen und glauben, wir müssten „von den Nazis befreit“ werden. Vor diesem Hintergrund ist die Mehrheit der ukrainischen Befragten der Ansicht, dass die Russen kollektiv für diesen Krieg verantwortlich seien. 75 Prozent der Befragten wären nach dem Krieg dafür, alle Beziehungen zu Russland vollständig abzubrechen.[4]
Europa steht vor einer riesigen humanitären Katastrophe, da jeder dritte Ukrainer Flüchtling oder intern Vertriebener ist. Die russischen Besatzer sind verantwortlich für Zwangsmobilisierung in die Armee, Deportationen nach Russland, Filtrationslager, Morde an Zivlist:innen, Folter und Bombardierungen. In der Ukraine tötet Putins „Russische Welt“ Russen und russischsprachige Ukrainer: die Stadt Mariupol (ironischerweise mehrheitlich russischsprachig) erlitt das gleiche Schicksal wie Aleppo und die tschetschenische Hauptstadt Grozny. Genozidale Haltungen werden öffentlich geäußert: so forderte ein Meinungsbeitrag der staatlichen Nachrichtenagentur Ria Novosti eine „De-Ukrainisierung der Ukraine“. Vielfach wiederholte Putin, dass „Ukrainer und Russen ein Volk, eine Ethnie sind“. Damit ist er zur Ideologie des Russischen Reichs zurückgekehrt, das nur „Kleinrussen“ kannte und den öffentlichen Gebrauch der ukrainischen Sprache untersagte. Die Deportation ukrainischer Kinder bewirkte 2023 sogar einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin.
Als Sieg würden die Ukrainer die Wiederherstellung der Grenzen von Januar 2014 betrachten. Rund ein Fünftel der Ukrainer ist noch radikaler und will die vollständige Zerstörung der russischen Armee und die Auflösung der Russischen Föderation von innen. Es geht hier nicht darum, ob dieser Ausgang wahrscheinlich ist, uns ist auch bewusst, dass eine Auflösung Russlands zusätzliche Probleme für die internationale Sicherheit mit sich bringen würde. Die offizielle Position Kyjiws ist die Wiederherstellung der territorialen Integrität. Die Zukunft der Russischen Föderation sollte von den Russen selbst, inklusive der zahlreichen ethnischen Minderheiten, bestimmt werden. Allerdings ist klar: Solange Russland imperialistisch bleibt, wird die Gefahr für die Ukraine und den internationalen Frieden andauern.
Vom Zögern zur Unterstützung: Verhältnis zum Westen
In einer nationalen Umfrage im Dezember 2023 bekundeten mehr als 88 Prozent der Befragten ihren Glauben, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird.[5] Oft hören wir aber von „Realisten“ im Westen, dass die Ukraine vom Kriegsleid ermüden und „vernünftige Zugeständnisse“ an den Kreml, wie die Anerkennung der Annexion der Krim, machen sollte. Manche schlagen ein „koreanisches Szenario“ für die Ukraine vor – genau, was Putin will, um seine Kräfte neu zu formieren. Dies sieht nach einer Appeasement-Politik aus, nach einem Flirt mit Hitler. Die westlichen Antworten auf die russischen Aggressionen in Georgien, Syrien, auf der Krim, im Donbass und Asowschen Meer waren langsam und begrenzt. Erst nachdem russische Kräfte am 17. Juli 2014 ein Flugzeug von Malaysia Airlines über dem Donbass abgeschossen hatten, wurden sektorielle Sanktionen gegen Russland verhängt.
2014 und 2015 wurden die beiden „Minsk-Abkommen“ zwischen der Ukraine und Russland, vermittelt von der OSZE, Deutschland und Frankreich, unterzeichnet. Die Ukraine willigte formell in einen „Sonderstatus“ für „bestimmte Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk“ ein. Russland anerkannte diese formell als Teil der Ukraine, es wurden keine Marionetten-„Volksrepubliken“ erwähnt. Zwei Drittel der Region Donbass blieben unter voller ukrainischer Kontrolle. Allerdings bedeutete das auch eine permanente russische Militärpräsenz, verkleidet als „Volksmiliz“.
Bis zum 24. Februar 2022 sah der Westen von strengeren Sanktionen gegenüber Russland und Waffenlieferungen an die Ukraine ab und baute auf einen Kompromiss mit Putin. Aber dieser kündigte einige Tage vor Russlands Großinvasion offen die Minsk-Abkommen auf. Seit 2014 hatten viele westliche Expert:innen die Ukraine kritisiert, weil sie nicht über Frieden und die Minsk-Abkommen verhandeln oder einen Teil der Verantwortung für die Eskalation tragen wollte. In einem selbstkritischen Akt räumte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier seine Fehler bei seinem Besuch in Kyjiw im Oktober 2022 offen ein. Nach dem Versagen der NATO in Afghanistan glaubte Putin, dass der Westen nicht robust auf eine russische Invasion in der Ukraine reagieren würde, wobei er sich jedoch verrechnete. Zwar begann die Militärhilfe aus dem Westen erst, nachdem die Eroberung Kyjiws in den ersten Kriegstagen misslungen war. Aber die Unterstützung für die Ukraine, wenn auch verspätet, kam auch aus Ländern, die zuvor bei Militärhilfe gezögert hatten, darunter vor allem Deutschland, Frankreich und Italien.
Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, erklärte am 27. Februar 2022: „Die Ukraine ist eine von uns“. Der EU-Kandidatenstatus wurde ihr im Juni 2022 verliehen – ein wichtiger Schritt für Kyjiw. Aber bei der europäischen Integration läuft nicht alles glatt, etwa mit den Nachbarn, sogar mit Polen, das die größte Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge geleistet hat. Ukrainische Landwirtschaftsfirmen wurden in Polen des Dumpings beschuldigt, als sie dort Transitrouten benutzten, da der Seeweg über das Schwarze Meer aufgrund des Kriegs blockiert war. Polnische Bauern versperrten daraufhin Grenzposten. Diese Thematik wurde insbesondere im Vorfeld der polnischen Parlamentswahlen 2023 virulent. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán übt traditionell unter dem Vorwand des Schutzes der ungarischen Minderheit in Transkarpatien Druck auf die Ukraine aus. Er rief zu einer Verständigung mit Putin zum Preis einer „ukrainischen Pufferzone“ auf. Nach den Wahlen in der Slowakei 2023 schloss sich ihm der neue slowakische Ministerpräsident Robert Fico an. Nichtsdestotrotz beschloss die EU im Dezember 2023, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Orbán hatte sich einverstanden erklärt, den Raum während der Abstimmung zu verlassen. Doch es gab zähe Verhandlungen über 50 Mia. Euro Wirtschaftshilfen über vier Jahre seitens der EU für die Ukraine, auf die diese dringend angewiesen ist. Nach einigen symbolischen Kompromissen mit Orbán wurden diese jedoch Anfang Februar 2024 einstimmig verabschiedet.
Mit Blick auf die NATO scheint Putins nukleares Säbelrasseln einigermaßen effektiv gewesen zu sein. Die NATO war mit Waffenlieferungen an die Ukraine langsam, weil sie den Vorwurf der „Eskalation“ fürchtete. Beim NATO-Gipfel im Juli 2023 in Vilnius versprachen die G7-Staaten in einer gemeinsamen Erklärung der Ukraine jedoch langfristige Unterstützung. Das erste bilaterale Abkommen wurde mit Großbritannien am 12. Januar 2024 über zehn Jahre mit 2,5 Mia. Pfund für das nächste Fiskaljahr unterzeichnet. Am 16. Februar wurden Sicherheitsabkommen mit Deutschland und Frankreich unterzeichnet, die 2024 Militärhilfe über 7 bzw. 3 Mia. Euro liefern werden. Andere westliche Länder haben versprochen zu folgen. Allerdings handelt es sich entgegen der innenpolitischen Darstellung der ukrainischen Regierung nicht um „Sicherheitsgarantien“; wir sollten pragmatisch sein und nicht in die „Budapester Memorandum-Falle“ tappen.
Mit Blick auf den NATO-Jubiläumsgipfel im Juli 2024 in Washington hätte Kyjiw gerne irgendeine Einladung in die NATO: gültig für die Zeit nach dem Kriegsende oder zumindest den Beitritt zu politischen NATO-Institutionen mit Sicherheitsgarantien, die nach dem Krieg in Kraft treten. Aber die Präsidentschaftskampagne in den USA und der „Trump-Faktor“ machen diese Optionen unwahrscheinlich. Der Wahlkampf stellt auch die US-Militärhilfe über 60 Mia. US-Dollar für die Ukraine infrage. Im Februar 2024 wurde diese zwar von Fragen der Grenzkontrolle zu Mexiko getrennt, aber es wird trotzdem schwierig, sie durch das Repräsentantenhaus zu bringen – ungeachtet dessen, dass das meiste Geld an amerikanische Waffenproduzenten bezahlt würde. Diese Unterstützung wird in der Ukraine sehnlichst erwartet, da ihr Waffen und Munition fehlen. Trotz seiner wirtschaftlichen Vormacht und der „Ramstein-Gruppe“ von 50 Staaten zur Versorgung der Ukraine mit Waffen scheint es, als sei der Westen nicht auf einen Abnutzungskrieg vorbereitet gewesen. Positiv ist, dass der Westen russische Vermögen im Ausland eingefroren hat und sich schrittweise in Richtung einer Konfiszierung zugunsten der Ukraine bewegt.
Notwendige Wahlverschiebung
Die Ukrainer kämpfen nicht nur für Freiheit und territoriale Integrität. Dies ist ein Krieg zwischen Demokratie und Diktatur. Zwar gibt es während des Kriegsrechts eine unvermeidliche Machtkonzentration, dazu kommt Präsident Zelenskyjs Glauben an sein messianisches Selbst. Doch der Krieg setzt auch riesige Energien in der Zivilgesellschaft frei. Die Redefreiheit, Kritikmöglichkeiten und Druck auf die Regierung auszuüben, sind weiterhin groß. Der EU-Kandidatenstatus und der daraus resultierende Druck der EU zu innenpolitischen Reformen sind in den Augen der meisten Ukrainer völlig gerechtfertigt.
Laut der ukrainischen Verfassung können Parlamentswahlen nicht unter Kriegsrecht durchgeführt werden. Indirekt gibt es auch Beschränkungen für Präsidenten- und Lokalwahlen während des Kriegs. Ein weiteres Argument gegen Wahlen ist die Sicherheitslage, denn das ganze Land wird bombardiert. Das Hauptargument ist aber, dass es nicht darum geht, die Wahlen einfach abzuhaken. Wir brauchen kompetitive Wahlen mit einer starken Debatte zwischen Regierung und Opposition. Doch wem würde eine interne Auseinandersetzung während des Kriegs nützen? Nur dem Feind. Daher verwundern Stimmen aus dem Westen, die die Durchführung von Wahlen in der Ukraine für nötig halten. 81 Prozent der Ukrainer sind für eine Verschiebung der Wahlen auf nach dem Krieg.[6] Sowohl die Regierung als auch die Opposition veröffentlichten ein Memorandum über die Verschiebung der Wahlen. Als Alternative gibt es aus der Opposition Stimmen für die Bildung einer Technokraten-Regierung oder einer Regierung der nationalen Einheit.
Ambivalente Reaktion des globalen Südens
An der UN-Generalversammlung am 2. März 2022 unterstützten 141 Länder die Resolution „Aggression gegen die Ukraine“ sowie die territoriale Integrität der Ukraine. Dazu zählten fast alle lateinamerikanischen und arabischen Staaten, die Hälfte der afrikanischen Länder, Indonesien, Malaysia und andere. Nur vier Länder unterstützten Russland: Belarus, Nordkorea, Syrien und Eritrea. Allerdings enthielten sich Indien, Südafrika und rund 40 Länder des globalen Südens der Stimme. Angesichts des riesigen russischen Drucks lässt sich jedoch in einigen Fällen die Enthaltung als Zeichen der Missbilligung der Invasion interpretieren. Keine Verbündeten aus der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit unterstützen Russland in diesem Krieg auch nur symbolisch, außer dem belarusischen Diktator Alexander Lukaschenka.
Logischerweise sollten Länder, die für ihre Unabhängigkeit gekämpft haben, den Kampf der Ukraine gegen die russische Aggression, den Kolonialismus und Terrorismus unterstützen. Allerdings ist im globalen Süden die Wahrnehmung von Russland als Nachfolger der Sowjetunion und deren „antikolonialer“ und „antiwestlicher“ Politik weit verbreitet. Das sowjetische Imperium und seine Politik gegenüber der Dritten Welt werden romantisiert, sowjetische Verbrechen ignoriert. Es wird vergessen, dass die Ukrainische SSR ein Gründungsmitglied der UN war und nicht nur politisch den Antikolonialismus unterstützte, sondern auch viele ukrainische Fachleute in der sog. Dritten Welt arbeiteten, um deren industrielle Basis aufzubauen.
Die aus Befreiungsbewegungen entstandenen Parteien African National Congress (ANC), Popular Movement for the Liberation of Angola (MPLA), Liberation Front of Mozambique (FRELIMO) und South West Africa People’s Organisation (SWAPO) sind Mitglieder der Sozialistischen Internationalen. Ihre Vorgängerin, die Erste Internationale, wurde gegründet, um dem polnischen Aufstand gegen den russischen Zarismus zu helfen. „Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit“ ist eine sozialdemokratische Trias. Wer ist im russisch-ukrainischen Krieg Aggressor, imperialer Staat, Diktator und staatlich-oligarchischer Kapitalismus? Welche Seite sollte unterstützt werden? Stattdessen wird die Zusammenarbeit der Ukraine mit dem Westen als „provokativ“ gegenüber Moskau dargestellt, wobei russische Falschinformationen über NATO-Truppen auf ukrainischem Boden wiederholt werden.
Angeblich resultiert Neutralität aus Blockfreiheit. Aber blockfreie Länder haben gegen Kolonialismus und Aggressoren gekämpft, die Apartheid verurteilt und sich für Wirtschaftssanktionen gegen Südafrika und dessen Ausschluss von den Olympischen Spielen wegen der Apartheitspolitik eingesetzt. Als Saddam Hussein 1990 Kuwait zu einer „irakischen Provinz“ erklärte, vereinte sich die ganze Welt, darunter arabische, muslimische und viele blockfreie Staaten, und befreite Kuwait. Anders als beim oft gehörten Gemeinplatz, dass „alle Kriege durch Verhandlungen enden“, wurde der Angreifer besiegt. Wegen der Repressionen gegen die muslimischen Krimtataren, die indigene Bevölkerung der Krim, könnte auch die Organisation für Islamische Zusammenarbeit über Grenzen des Alltagsgeschäfts mit Russland nachdenken. 2023 nahmen 63 Staaten und Organisationen von allen Kontinenten am dritten Gipfel der „Krimplattform“, die 2021 von Kyjiw lanciert wurde, teil, um auf die Befreiung der Krim hinzuarbeiten.
Moskau befindet sich unter westlichen Wirtschafts- und Finanzsanktionen, die es nicht vorausgesehen hat. Sein Militär war von den Lieferungen westlicher Mikrochips und elektronischer Komponenten abhängig. Daher ist Russland auf den heimlichen chinesischen Export dieser Güter, nordkoreanische Granaten, iranische Drohnen, aber auch westliche Elektronik, die über Zentralasien, den Kaukasus oder den Nahen Osten kommen, angewiesen. Im globalen Süden gibt es somit Versuche, neutral zu bleiben oder gar vom Krieg zu profitieren. Daher engagiert sich die Kyjiwer Diplomatie im globalen Süden und versucht, diesen Ländern pragmatische Argumente zu liefern. Russland hat das Atomkraftwerk Zaporizhzhja besetzt, eines der größten in Europa. Noch nie wurde ein Kraftwerk von einer ausländischen Armee besetzt. Russland hat bereits einen beispiellosen Ökozid verursacht, indem es den Kachovka-Staudamm gesprengt hat. Ein Atomunfall würde die globale Ernährungskrise weiter verschärfen.
Unterschiedliche Friedenspläne
Putin setzt auf einen Zermürbungskrieg und spaltet damit die zivilisierte Welt und untergräbt Demokratien. Es gibt „Realisten“, die Entschuldigungen zu finden und Putin zu besänftigen versuchen, der verlangt, dass „neue Realitäten“ – die Besetzung ukrainischer Gebiete – akzeptiert werden. In dieser Situation würde ein Waffenstillstand, nach dem auf den ersten Blick logischerweise gerufen wird, die Besetzung einfrieren. Das würde andauernden Terror, Repressionen, Deportationen und die Veränderung der ethnischen Demografie der besetzten Gebiete bedeuten. Es würde bedeuten, in einer Welt des Dschungels ohne jegliches internationales Recht und Garantien vor Angriffen von Atommächten zu leben. Im Februar 2023 rechtfertigte Putin sogar Hitlers Aggression und beschuldigte Polen, weil es in Bezug auf den Danzig-Korridor keine Konzessionen gemacht hätte. Die alternative Möglichkeit ist die Mobilisierung der Ressourcen der internationalen Gemeinschaft, um den Aggressor aus der Ukraine zu vertreiben.
„Friedenspläne“ gab es bereits mehrere. Im Februar 2023 wurde ein sehr umfangreicher chinesischer Plan vorgestellt, der wahre Worte über das internationale Recht enthielt, zugleich aber russische Narrative über die NATO-Expansion wiederholte und ein Ende der westlichen Unterstützung forderte. Im Mai 2023 besuchten sieben afrikanische Anführer, darunter der Präsident von Südafrika, den ukrainischen und russischen Präsidenten mit ihrer eigenen Friedensinitiative. Am Tag ihres Besuchs wurde Kyjiw bombardiert, und wie Tausende Ukrainer mussten die afrikanischen Staatschefs in einem Bunker Zuflucht suchen.
Im November 2022 wurde eine 10-Punkte-Friedensformel von Zelenskyj präsentiert. Die Überschneidungen der verschiedenen Friedenspläne betreffen Nahrungsmittel, ökologische und nukleare Sicherheiten, die Verhütung humanitärer Katastrophen sowie die Freilassung von Kriegsgefangenen und Deportierten. Die ukrainische Friedensformel ist relativ flexibel und ermöglicht es unterschiedlichen Ländern, sich verschiedenen Arbeitsgruppen anzuschließen. Die Formel wird von Regierungsvertretern und nationalen Sicherheitsberatern im „Kopenhagen-Format“ diskutiert. 15 Länder nahmen am ersten Treffen im Juni 2023 in Kopenhagen teil. Am vierten Treffen im Januar 2024 in Davos nahmen Vertreter von 80 Staaten und Organisationen teil, darunter viele aus dem globalen Süden. Zelenskyj hofft auf einen globalen Friedensgipfel 2024 in der Schweiz. Bisher sind noch nicht alle Details bekannt, aber die Hauptidee ist, in verschiedenen Bereichen ein gemeinsames Vorgehen zu finden, um Druck auf Putin ausüben zu können.
Es ist offensichtlich, dass die Ukraine und Russland verschiedene Wege eingeschlagen haben. Egal wie blutig und lang der Krieg sein wird, wird die Ukraine ein Teil Europas und nie mehr Teil eines russischen Reichs sein.
Anmerkungen:
[1]) https://dif.org.ua/article/ukraina-naperedodni-samitu-nato-v-chikago-shcho-maemo-y-na-shcho-spodivaemos
[2]) https://dif.org.ua/en/article/results-2022-under-the-blue-yellow-flag-of-freedom
[3]) Ebd.
[4]) https://dif.org.ua/en/article/how-ukrainian-society-will-look-like-de-sovietization-democracy-new-symbols-of-freedom
[5]) https://dif.org.ua/en/article/summary-of-2023-public-opinion-of-ukrainians
[6]) https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1309&page=1
Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
Olexiy Haran, Dr., Professor an der Nationalen Universität Kyjiw-Mohyla-Akademie und Forschungsdirektor bei der Democratic Initiatives Foundation.
Bild: Präsident Volodymyr Zelenskyj mit dem NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 (Foto: Shutterstock.com / Gints Ivuskans).