Buchbesprechungen
RGOW 06/2024
Vier Buchbesprechungen zu
Maryna Shevtsova (ed.): Feminist Perspectives on Russia's War in Ukraine
Mikhail Zygar: Krieg und Sühne. Der lange Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung
Hasan Hasanović: Srebrenica überleben
Agilolf Keßelring: Die Bundeswehr auf dem Balkan
Maryna Shevtsova (ed.)
Feminist Perspectives on Russia’s War in Ukraine
Hear Our Voices
Lanham (MD): Lexington Books 2024, 305 S.
ISBN 978-1-66693-290-4. $ 115.–. (Hardback); $ 45.– (eBook)
Der Untertitel dieses von der Politikwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin Maryna Shevtsova herausgegebenen lesenswerten Sammelbands macht bereits deutlich, was ein primäres Anliegen der elf Beiträge ist: den Stimmen und Erfahrungen von Frauen in der Ukraine und im östlichen Europa eine Plattform zu geben, um ihnen im akademischen und feministischen Diskurs verstärkt Geltung zu verschaffen. Dabei wollen die Autorinnen vor allem „die Kluft zwischen westlichen feministischen Perspektiven und den gelebten Realitäten von ukrainischen und osteuropäischen Frauen überwinden“ (S. 13), da die Rufe von einigen westlichen Feministinnen nach Pazifismus und Nicht-Bewaffnung der Ukraine den Lebensrealitäten ukrainischer Frauen angesichts des andauernden Kriegs nicht gerecht werden. Die meisten Beiträge sind im Jahr 2022 bis Anfang 2023 entstanden und sind von der Form her entweder strikt akademisch oder Reflexionen persönlicher Erfahrungen oder eine Mischung aus beidem. Diese unterschiedlichen Formen zeigen, dass es den Autorinnen nicht nur darum geht, zum akademischen Wissen beizutragen, sondern „auch diejenigen zu ermächtigen, die oftmals marginalisiert sind oder die stimmlos bleiben“ (S. 281) – es geht also um eine Kombination von Wissenschaft und Aktivismus.
Der Sammelband gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil widmet sich Konzepten von Männlichkeit, Weiblichkeit und nicht-heteronormativen Geschlechtsidentitäten und wie sich diese durch den Krieg verändern. Olena Strelnyk beleuchtet dabei die mediale Präsentation von Frauen, die in den letzten Jahren vielschichtiger geworden ist als eine einseitige Darstellung von Frauen als Opfer des Kriegs; stattdessen nehmen die Medien vermehrt deren Beitrag zum Widerstand in den Blick, wobei allerdings auch eine Sexualisierung von Soldatinnen zu beobachten sei.
Der zweite Teil nimmt die persönlichen Erfahrungen von Flüchtlingen, Freiwilligen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen in den Blick. Mariya Shcherbyna und Olga Zvyeryeva analysieren dabei die zunehmende Verwendung von obszöner Sprache unter Aktivistinnen, geflohenen Frauen und Soldatinnen und kommen zu dem Ergebnis, dass diese „den Frauen hilft, die Realität zu konzeptionalisieren, ihre Emotionen zu entladen, sich (wieder) ihrer Rechte zu bemächtigen, Zorn, Aggression und Schmerz auszudrücken“ (S. 149). Die Beiträge im dritten Teil reflektieren unter einer Gender-Perspektive die internationalen und regionalen Veränderungen in der Politik und in den Diskursen mit Blick auf den russischen Angriffskrieg.
Stefan Kube
Mikhail Zygar
Krieg und Sühne
Der lange Kampf der Ukraine gegen die russische Unterdrückung
Berlin: Aufbau-Verlag 2023, 540 S.
ISBN: 978-3-351-04182-3. € 32.–; CHF 46.90.
Die Anspielung auf gleich zwei Titel der russischen Literatur ist natürlich gewollt: Der russische Autor beginnt mit einem Schuldbekenntnis und möchte die russische Kultur vom Imperialismus befreien und ihr den notwendigen „Weg zu Sühne und Strafe“ (S. 15) ebnen. Als Journalist war Mikhail Zygar 2010 Mitbegründer des unabhängigen russischen Nachrichtenkanals Dozhd, dessen Tätigkeit Anfang 2014 stark eingeschränkt und am 1. März 2022 in Russland gesperrt wurde, und der inzwischen aus Amsterdam sendet. Das Buch ist auf Grundlage von Interviews entstanden, die er in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Ukraine und in Russland geführt hat.
Der erste Teil, der vom 17. Jahrhundert bis 1945 reicht, räumt anhand von „Sieben Geschichten kolonialer Unterdrückung der Ukraine“ mit den Mythen auf, welche die russische Sicht der Ukraine zutiefst geprägt haben, darunter der Mythos von der Einheit der „Brudervölker“ (u. a. geprägt durch den orthodoxen Kyjiwer Klosterabt Innozenz Giesel aus Königsberg (S. 21)), der Verrat durch Iwan Masepa, der Mythos Krim, der Lenin-Mythos und der Bandera-Mythos, der in der äußerst populären sowjetischen Fernsehserie „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“ in den 1970er Jahren Zuschauer wie Vladimir Putin beeindruckt hat: hier kämpfte ein sowjetischer James Bond stilvoll gegen ukrainische Nationalisten (S. 159).
Der umfangreichere zweite Teil „Sieben aktuelle Geschichten über Unterdrückung in der Ukraine“ macht einen Sprung vom Zweiten Weltkrieg zur Perestrojka und der spannungsreichen jüngeren Geschichte der Ukraine. Hier werden die politischen Entwicklungen der Ukraine und Russlands – verflochten mit Zelenskyjs Aufstieg als ukrainisch-russischem Fernsehstar – anhand einer beeindruckenden Menge an Fakten, Episoden, Anekdoten und der Rollen und Interaktionen zahlreicher nationaler und internationaler Akteure erzählt und veranschaulicht. Darunter finden sich auch (mit Vorsicht zu genießende) pikante kirchliche Details aus anonymer Quelle, etwa zu einem uneingelösten Versprechen Kirills, der Ukrainischen Orthodoxen Kirche die Autokephalie zu gewähren, falls ihre Bischöfe ihn 2009 zum Patriarchen wählten (S. 341). Passagen wie „Zur Überraschung aller geht der erste Wahlgang [Juschtschenko vs. Jankukovytsch 2004] praktisch unentschieden aus“ (S. 299) verweisen darauf, dass die Geschichte der ukrainischen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte komplexer ist als eine Abfolge von Absprachen und Intrigen unter den Eliten. Der umfassende Anhang mit Namensregister verweist dankenswerterweise auf Zygars Quellen.
Die Anspielung auf gleich zwei Titel der russischen Literatur ist natürlich gewollt: Der russische Autor beginnt mit einem Schuldbekenntnis und möchte die russische Kultur vom Imperialismus befreien und ihr den notwendigen „Weg zu Sühne und Strafe“ (S. 15) ebnen. Als Journalist war Mikhail Zygar 2010 Mitbegründer des unabhängigen russischen Nachrichtenkanals Dozhd, dessen Tätigkeit Anfang 2014 stark eingeschränkt und am 1. März 2022 in Russland gesperrt wurde, und der inzwischen aus Amsterdam sendet. Das Buch ist auf Grundlage von Interviews entstanden, die er in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Ukraine und in Russland geführt hat.
Der erste Teil, der vom 17. Jahrhundert bis 1945 reicht, räumt anhand von „Sieben Geschichten kolonialer Unterdrückung der Ukraine“ mit den Mythen auf, welche die russische Sicht der Ukraine zutiefst geprägt haben, darunter der Mythos von der Einheit der „Brudervölker“ (u. a. geprägt durch den orthodoxen Kyjiwer Klosterabt Innozenz Giesel aus Königsberg (S. 21)), der Verrat durch Iwan Masepa, der Mythos Krim, der Lenin-Mythos und der Bandera-Mythos, der in der äußerst populären sowjetischen Fernsehserie „Siebzehn Augenblicke des Frühlings“ in den 1970er Jahren Zuschauer wie Vladimir Putin beeindruckt hat: hier kämpfte ein sowjetischer James Bond stilvoll gegen ukrainische Nationalisten (S. 159).
Der umfangreichere zweite Teil „Sieben aktuelle Geschichten über Unterdrückung in der Ukraine“ macht einen Sprung vom Zweiten Weltkrieg zur Perestrojka und der spannungsreichen jüngeren Geschichte der Ukraine. Hier werden die politischen Entwicklungen der Ukraine und Russlands – verflochten mit Zelenskyjs Aufstieg als ukrainisch-russischem Fernsehstar – anhand einer beeindruckenden Menge an Fakten, Episoden, Anekdoten und der Rollen und Interaktionen zahlreicher nationaler und internationaler Akteure erzählt und veranschaulicht. Darunter finden sich auch (mit Vorsicht zu genießende) pikante kirchliche Details aus anonymer Quelle, etwa zu einem uneingelösten Versprechen Kirills, der Ukrainischen Orthodoxen Kirche die Autokephalie zu gewähren, falls ihre Bischöfe ihn 2009 zum Patriarchen wählten (S. 341). Passagen wie „Zur Überraschung aller geht der erste Wahlgang [Juschtschenko vs. Jankukovytsch 2004] praktisch unentschieden aus“ (S. 299) verweisen darauf, dass die Geschichte der ukrainischen Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte komplexer ist als eine Abfolge von Absprachen und Intrigen unter den Eliten. Der umfassende Anhang mit Namensregister verweist dankenswerterweise auf Zygars Quellen.
Regula Zwahlen
Hasan Hasanović
Srebrenica überleben
Göttingen: Wallstein Verlag 2022, 104 S.
ISBN 978-3-8353-5260-5. € 18.–; CHF 25.90.
Hasan Hasanović überlebte als 19-Jähriger den Genozid von Srebrenica, bei dem er seinen Vater, seinen Zwillingsbruder und unzählige Freunde und Bekannte verlor. Er erreichte nach dem „Todesmarsch“ von Srebrenica, einer Kolonne von schätzungsweise 15 000 Jungen und Männern, von denen die meisten den Treck nicht überlebten, die Stadt Tuzla. In und um Srebrenica ermordeten bosnisch-serbische Soldaten und serbische Milizionäre im Juli 1995 in wenigen Tagen über 8 000 bosniakische Jungen und Männer, von denen viele zuvor aus dem Umland in die UN-Schutzzone geflohen waren.
In dem dünnen Band beschreibt Hasanović eindrücklich seine Kindheit in einem kleinen bosnischen Bauerndorf, eine friedliche Zeit vor dem Krieg, aber auch wie die Spannungen zwischen Serben und Bosniaken zunahmen und schließlich, wie der Krieg begann. In Srebrenica, wohin die Familie 1992 flieht, lebt sie unter schrecklichen Bedingungen. In der belagerten Stadt gibt es keinen Strom, viel zu wenig Lebensmittel, kaum Medikamente, sie wird beschossen, trotzdem kommen immer mehr Flüchtlinge. Die Anwesenheit der UN-Schutztruppe ab 1993 verbessert die Lage nur bedingt.
In knappen, nüchternen Worten schildert Hasanović das unvorstellbare Leid, das er und unzählige andere Bosniakinnen und Bosniaken in der belagerten Stadt, während des Genozids, aber auch danach erlitten haben. Nach dem Fall von Srebrenica fristeten die Überlebenden ihr Dasein weiterhin als Flüchtlinge unter schwierigsten Bedingungen. Die Schrecken, der Verlust und die physischen Entbehrungen haben psychische und körperliche Spuren hinterlassen. Seine Erlebnisse verfolgen ihn, so „verlor ich viele Jahre im Kampf mit meinen Ängsten, Albträumen und dem Leben selbst“ (S. 94 f.). Seit 2009 arbeitet Hasanović am Srebrenica Genocide Memorial Centre und lebt wieder in Srebrenica. Das Leben in der völlig veränderten Stadt beschreibt er als zwiespältig: „[…] jedes Haus und jeder Baum erinnert mich an jene, die ich liebte und um die ich mich gesorgt habe. Sogar wenn ich nicht in Srebrenica bin, sind meine Gedanken dort. […] Ich denke an meinen Vater und meinen Zwillingsbruder und was ihnen zugestoßen ist, wie und wo sie umgebracht wurden. Ich denke an all meine Freunde, die umgebracht wurden, nur weil sie einen anderen Vornamen hatten“ (S. 101). Unzähligen Besucherinnen und Besuchern des Gedenkzentrums hat er seine Geschichte erzählt und ist mehrfach im Ausland aufgetreten. Am „glücklichsten“ sei er, wenn „ich Schüler und Studenten, die mehr über den Genozid erfahren wollen, führen darf“, schreibt er über seine Arbeit (S. 98).
Natalija Zenger
Agilolf Keßelring
Die Bundeswehr auf dem Balkan
Zwischen Krieg und Friedenseinsatz
(Hg. vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Bd. 3)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 386 S.
ISBN 978-3-525-35222-9. € 45.–; CHF 58.50.
Der Einsatz der Bundeswehr während der jugoslawischen Zerfallskriege auf dem Balkan war der erste seit dem Zweiten Weltkrieg, der „out of area“, also außerhalb des NATO-Gebiets stattfand. Die je nach Zählweise rund 25 Balkaneinsätze waren in verschiedene internationale Strukturen wie die UNO, NATO oder OSZE eingebunden. Für Deutschland, seine Politiker, Armee und Gesellschaft waren sie etwas völlig Neues und eine große Herausforderung. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht darum, ob oder wie weit die Einsätze einzeln oder insgesamt als „erfolgreich“ bezeichnet werden können, da Erfolg in diesem Fall objektiv und wissenschaftlich kaum zu messen sei. Vielmehr soll die „Militärgeschichte der Bundeswehr eingebunden in ihre vielfältigen kriegerischen, politischen und sozialen Dimensionen mit einem Verständnis für die jüngere Vergangenheit beschrieben und analysiert“ werden (S. 9).
Das Buch gliedert sich in einen Überblick über die Kriege im zerfallenden Jugoslawien bis zur Reaktion der internationalen Gemeinschaft, den NATO-Kampfeinsatz bis zum Vertrag von Dayton, an dem die Bundeswehr beteiligt war, die „Implementation Force“ nach Dayton, die „SFOR zwischen ‚Staatsaufbau‘ und ‚Exit-Strategie‘“, die innenpolitische Diskussion um die Balkaneinsätze in Deutschland sowie einen letzten Teil zu Kosovo und Makedonien.
Das Nachzeichnen der medialen Darstellung der Kriege angesichts des innenpolitisch dominanten Themas der deutschen Wiedervereinigung sowie die innerdeutschen gesellschaftlichen Diskurse sind eine aufschlussreiche Ergänzung zur Darstellung der militärischen und außenpolitischen Ereignisse. Dabei stellt der Autor auch einige bisher kaum erforschte Aspekte fest. Die Debatten um den Umgang mit deutschen Soldaten – insbesondere die „Soldaten-sind-Mörder“-Kontroverse – brachten die „tiefen Brüche und Narben zum Vorschein, welche zwei verlorene Weltkriege in der deutschen Gesellschaft hinterlassen haben“ (S. 248). Anhand der ersten deutschen Feuergefechte seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt Keßelring zudem die Herausforderungen für Soldaten im Auslandseinsatz, aber auch die „Problematik unklarer theoretischer Rechtspositionen“ (S. 257). Denn viele rechtliche Aspekte und praktische Fragen waren zunächst nicht klar definiert und oft dauerte es lange, bis grundlegende Entscheide getroffen und Probleme gelöst wurden. Andere Fragen fanden in der öffentlichen Diskussion keinen Platz und blieben offen, wobei sie für die Soldaten ungelöste Probleme mit sich brachten, so in Bezug auf moralische Fragen, Rechtssicherheit, psychologische Nachsorge und die soziale Wiedereingliederung nach dem Einsatz.
Natalija Zenger