
Zerstörerische „traditionelle Werte“. Russlands Kriegsverbrechen in der Ukraine
RGOW 06/2024
Die von Patriarch Kirill als „Heiliger Krieg“ bezeichnete Aggression gegen die Ukraine wird von einer orthodoxen Rhetorik als „Verteidigung des Christentums“ und „traditioneller Werte“ verbrämt. Diese von oben gelenkte Staatsideologie soll die imperiale Aggression legitimieren. Sie wird begleitet von Kriegsverbrechen wie der Zerstörung von sakralen Objekten, der Ermordung von Geistlichen und einer massiven Einschränkung der Religionsfreiheit in den besetzten Gebieten der Ukraine.
In seiner satirischen Dystopie „Moskau 2042“ beschrieb der sowjetische Dissident und Schriftsteller Vladimir Vojnovitsch im Jahr 1986 einige Entwicklungstrends der Sowjetunion offensichtlich ziemlich akkurat: Seiner Erzählung zufolge gelang der Kommunistischen Partei der Machterhalt im Land, indem sie die Kirche in ihren Dienst stellte und eine paradoxe Synthese von Kommunismus und Orthodoxie kreierte: Die Staatsideologie basiert demnach auf „Nationalität, Parteinahme, Religiosität, Wachsamkeit und Staatssicherheit“. Anstelle eines Kreuzzeichens bezeichnet sich Vater Zvezdonij (von russ. zvezda, Stern), der „Generalmajor für Religionsdienst“, der für „geistige Nahrung“ zuständig ist, mit einem Stern. Die Erzählung endet mit der Etablierung einer offenen Schwarzhundertschaft-Diktatur[1] und der Transformation der Sowjetunion in ein „Vereintes und unteilbares Imperium“, das auch die orthodoxen und slawischen Nachbarstaaten kontrolliert und eine Staatsordnung etabliert, die auf dem „Domostroj“ basiert – einem religiös-patriarchalen Regelwerk aus dem 16. Jahrhundert.
Kurz vor seinem Tod konstatierte der Autor 2012 bitter, dass „die Realität scheinbar schon übertrifft, was ich da geschrieben habe.“[2] Bereits damals hatte Präsident Putin im russischen Parlament an die die Gesellschaft zusammenhaltenden „geistigen Bande“ appelliert, die leider noch Mangelware seien.[3] Zur 75-Jahrfeier des Sieges über Nazi-Deutschland im Jahr 2020 vermittelte die neue Hauptkathedrale der Streitkräfte der Russischen Föderation den Eindruck einer bewussten Intention, Vater Zvezdonijs Ästhetik in architektonischer Form zu verkörpern. Die Versammlung des Weltkonzils des Russischen Volkes im März 2024 manifestierte dann die nächste Stufe von Vojnovitschs Prophezeiung, indem sie die eschatologische Doktrin des „Katechon“ (Bezug auf 2 Thess 2,7) aufnahm – eine Doktrin, die in Schwarzhunderter-Kreisen Anfang des 20. Jahrhunderts populär war und besagt, dass der russische Staat „die Welt mystisch vor dem Sieg des Westens, der dem Satanismus anheimgefallen ist, beschützt“. Zudem hat die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) die Invasion der Ukraine buchstäblich als „Heiligen Krieg“ bezeichnet.[4]
Gleichzeitig hat sich Russland in westlichen religiös-fundamentalistischen Kreisen relativ erfolgreich das Image eines Staats verschafft, der Religion respektiert und „das Christentum verteidigt“.[5] Nichts ist weiter von der Realität entfernt als das.
Staatsideologie der „geistigen Bande“
Im Alltagsleben zeigt die russische Bevölkerung den niedrigsten Grad religiösen Verhaltens in ganz Europa. Der Fleisch- und Milchkonsum ändert sich während der Fastenzeit kaum. Die Scheidungs- und Abtreibungsraten gehören zu den weltweit höchsten. Während orthodoxe Rhetorik aus dem Munde der Politiker ständig zunimmt, spielt die Religion im Leben der russischen Bevölkerung nicht nur eine geringe Rolle, sondern nimmt in den letzten Jahren ständig ab. 2023 besuchten nur noch halb so viele Russen einen Ostergottesdienst wie 2019 (dem letzten Jahr vor der Pandemie und dem Krieg).[6] Gemäß soziologischen Umfragen hat das Vertrauen in die Kirche als Institution von 2012 bis 2021 von ungefähr von 55 Prozent auf 40 Prozent abgenommen.[7]
Wie lässt sich der Zuwachs symbolischer Bedeutung von Religion im politischen Bereich Russlands mit der gleichzeitigen Abnahme dieser Bedeutung im Alltag zu erklären? Das Paradox löst sich auf, wenn man beachtet, dass es sich beim „orthodoxen Charakter“ des russischen Staats nicht um eine echte fundamentalistische Revolution handelt wie im Iran, oder um eine zunehmende Religiosität der Bevölkerung wie in der Türkei, sondern ausschließlich um die Schaffung einer offiziellen Ideologie „von oben“. In Russland ist nicht die Religion in den politischen Raum vorgedrungen wie im fundamentalistischen Modell; im Gegenteil hat sich die Politik die Kirche komplett untergeordnet.
Vladimir Putins Russland vollzieht eine langwierige Transition von einer prinzipienlosen, korrupten Autokratie zu einem aggressiven Imperium, das immer stärker totalitäre Züge annimmt. In dieser Phase braucht das Kreml-Regime dringend eine Staatsideologie. Der Bevölkerung muss erklärt werden können, warum die Regierung trotz der Supereinnahmen aus den Energieexporten nicht in der Lage ist, ihren Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu bieten, und sie in einen völlig sinnlosen, aber äußerst kostspieligen Krieg verwickelt hat, zu dem es keine Alternative geben soll.
Natürlich lässt sich der Machterhalt auch durch Unterdrückung sichern. In der Tat hat das Ausmaß der Repression in Russland bereits das Ausmaß der politischen Verfolgung in den letzten Jahrzehnten der UdSSR überschritten.[8] Offene Grenzen verleihen der bestehenden Ordnung zusätzliche soziale Stabilität. Anders als zu kommunistischer Zeit können alle Russen, die mit dem Leben und der Politik der Behörden unzufrieden sind, aus Putins Russland auswandern, was viele Andersdenkende auch getan haben. In stabileren Zeiten, in denen die Aufrechterhaltung des Status quo der Bevölkerung bescheidene, aber verlässliche Perspektiven versprach, reichte die einfache Loyalität der Bevölkerung gegenüber den Behörden noch aus. Die jetzige Notwendigkeit, den Gürtel enger zu schnallen, muss den Bürgern aber irgendwie erklärt werden.
Lange Zeit schien es den Propagandisten zu genügen, die aggressiven Absichten des „Westens“ gegenüber Russland zu betonen. Diese Feindseligkeit blieb angeblich von Veränderungen wie dem Staatssystem und dem Zusammenbruch der Sowjetunion unberührt. Die Selbstgenügsamkeit der Idee einer ewigen geopolitischen Konfrontation gab jedoch der Frage, warum genau der „Westen“ Russland hasst, keine ausreichend überzeugende Antwort. In den letzten Jahren wurde eine Antwort gefunden, die der russischen Elite recht überzeugend erscheint, und sie wird immer häufiger geäußert: Der Grund für den westlichen Hass liegt nach dieser Theorie darin, dass Russland hartnäckig an traditionellen Werten festhält, die der Westen aufgegeben hat, nachdem er sich auf die schiefe Bahn des Liberalismus begeben hat. Das Konzept von „traditionellen Werten“ der russischen Zivilisation hat sich unter verschiedenen Gesichtspunkten als erfolgreich erwiesen: Es ermöglicht dem Staat und der Gesellschaft, eine gewisse Identität und die Mobilisierung zur Abwehr äußerer Bedrohungen zu fördern. Nach dieser Interpretation reicht es dem Westen aufgrund seines Expansionismus nicht aus, allein zu „verrotten“: Deshalb will er – Putin zufolge – unbedingt der ganzen Welt „bestimmte Geschlechter“ aufzwingen, „die traditionellen Werte abschaffen“ und „den Kindern in den Schulen von der ersten Klasse an Perversionen aufzwingen“.[9]
Die unvermeidliche Konfrontation mit dem Westen nimmt also, für das heimische Publikum durchaus überzeugend, den Charakter einer Selbstverteidigung an. Es wird somit viel deutlicher, warum ein russischer Soldat in der Ukraine im Rahmen einer „heiligen Mission“ kämpfen muss. Dennoch ist nicht ganz klar, worin genau die „traditionellen Werte“ bestehen, abgesehen von Homophobie. Diese sowie Geopolitik und pseudo-historische Argumente dienen jedoch als öffentliche Rechtfertigung für die russische Aggression gegen die Ukraine.
Gleichzeitig ist der Krieg gegen die Ukraine zur überzeugendsten Widerlegung der These geworden, Russland sei der „Verteidiger der Christenheit“.
Zerstörung von sakralen Objekten
Im humanitären Völkerrecht genießen Kultstätten einen Schutzstatus während bewaffneter Konflikte, so wie medizinische Einrichtungen oder Objekte von kultureller Bedeutung. Kirchen und andere Kultstätten vorsätzlich zu beschädigen ist ein Kriegsverbrechen. Einem religiösen Gebäude Schaden zuzufügen, nicht nur durch absichtlichen und gezielten Beschuss, sondern auch durch den Gebrauch unpräziser Waffen oder willkürliche Bombardierung ist ebenfalls eine Verletzung des Völkerrechts. Die Konfliktparteien müssen sich darum bemühen, religiöse Gebäude während der Feindseligkeiten nicht zu beschädigen. Zudem schränkt ein Beschuss, der es verunmöglicht, das religiöse Gebäude für seinen vorgesehenen Zweck zu benutzen, oder der gar zu dessen Zerstörung führt, die religiöse Freiheit der Zivilbevölkerung ein, was auch eine Verletzung des Völkerrechts bedeutet.
In den ersten Tagen der russischen Großinvasion hat das Center for Civil Liberties zusammen mit der Kharkiv Human Rights Group und der Ukrainischen Helsinki-Vereinigung für Menschenrechte die Koalition „Tribunal für Putin“ geschaffen, deren Mission es ist, mutmaßliche Kriegsverbrechen zu dokumentieren.[10] Gegenwärtig umfasst die Koalition mehr als zwei Dutzend ukrainische Menschenrechts-NGOs. Die Datenbank der Koalition enthält Informationen zu 74 000 Ereignissen, die als Kriegsverbrechen klassifiziert werden können. Darunter sind 356 Fälle von Zerstörung oder Beschädigung von religiösen Objekten oder anderer Verbrechen gegen sie.[11]
Es gibt noch weitere Initiativen, die auf das Dokumentieren von Beschädigungen an religiösen Gebäuden und Verbrechen gegen die Gewissensfreiheit spezialisiert sind. Besonders erwähnenswert sind das Projekt „Religion on Fire“ des Workshop for the Academic Study of Religion[12] in Kooperation mit dem Staatsdienst für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit, und die gemeinsame Arbeit des Ukrainischen Instituts für Religionsfreiheit und der Eurasia Mission. Diese beiden Initiativen haben Zerstörungen oder Beschädigungen von mindestens 570 bzw. 630 Kultstätten dokumentiert.
In den meisten Fällen fehlen genaue Hinweise auf eine gezielte Zerstörung der religiösen Gebäude. Es ist plausibel, dass sie schlicht aufgrund der Art und Weise der russischen Offensive zerstört wurden. Aufgrund ihres signifikanten Vorteils bei Artillerie und Luftwaffe benutzen die Russen die Taktik des Sperrfeuers, das praktisch ganze Siedlungsgebiete vernichtet. Relativ große Städte wie Volnovacha, Avdijivka, Marjinka und Bachmut existieren schlicht nicht mehr. Severodonezk, Mariupol und Izjum haben immensen Schaden erlitten.
In einigen Fällen ist jedoch mit großer Sicherheit von einem gezielten Beschuss religiöser Gebäude auszugehen. Gemäß Augenzeugen des Angriffs auf Severodonezk wurde die Moschee des islamischen Kulturzentrums „Bismillah“ gezielt beschossen, nachdem sie zuvor genauestens von Drohnen ausgekundschaftet worden war. Als sie mit Streumunition beschossen wurde, befanden sich Zivilisten im Hof des islamischen Zentrums, wo es einen Brunnen gab. Hier starben mindestens 17 Menschen.[13] Auch die römisch-katholische, im 19. Jahrhundert erbaute Marien-Kirche im Dorf Kiselivka in der Oblast Mikolajev wurde laut Augenzeugen minutiös von einem Panzer aus beschossen.[14]
Diese Beispiele bedeuten keineswegs, dass vor allem Kultstätten von nicht-orthodoxen Glaubensgemeinschaften besonders stark zerstört werden. Diese Fälle wurden nur von Augenzeugenberichten, die von ukrainischen Menschenrechts-NGOs gesammelt wurden, besonders detailliert dokumentiert. Quantitative Statistiken zeigen, dass die meisten beschädigten Kirchen orthodoxe sind. Dabei handelt es sich zumeist um Kirchen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK), die von Moskau als „kanonisch“ betrachtet wird. Der Kreml-Propaganda zufolge wird diese Kirche vom „Kyjiwer Regime“ verfolgt. Allerdings zeigen die Fakten deutlich, dass die einzige echte Bedrohung der „kanonischen Orthodoxie“ auf ukrainischem Territorium die russische Armee ist.
Nun ist nach Logik des humanitären Völkerrechts nicht jeder, sogar gezielte und gewollte Beschuss eines Objekts mit geschütztem Status ein Kriegsverbrechen. Jedes Objekt kann ein legitimes Ziel sein, wenn es die Gegnerseite zu militärischen Zwecken nutzt, z. B. als Waffendepot. Die Einhaltung der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts bedeutet, dass nicht nur Anstrengungen unternommen werden müssen, um das Leid der Zivilbevölkerung und Schäden an der zivilen Infrastruktur, insbesondere an geschützten Objekten, die sich im Kontroll- oder Aufmarschgebiet des Feindes befinden, so gering wie möglich zu halten, sondern auch eine Gefährdung der eigenen Bevölkerung und Infrastruktur zu vermeiden. Die Konfliktparteien haben nicht das Recht, geschützte Objekte für militärische Zwecke zu nutzen; im Idealfall sollten Menschen mit Waffen diese Objekte überhaupt meiden.
Es wurden jedoch zahlreiche Fälle dokumentiert, dass religiöse Gebäude in den besetzten Gebieten von den russischen Streitkräften für militärische Zwecke genutzt werden. So war die Kirche zu Ehren der Potschajev-Gottesmutterikone in Butscha das Hauptquartier einer russischen Einheit. Im Dorf Bobrik bei Kyjiw operierte ein Sniper vom Glockenturm der Auffahrtskirche aus. Das Hauptquartier und ein Spital der russischen Truppen war die Hl. Dreifaltigkeitskirche im Dorf Mala Komyschevacha bei Charkiv.
Religiöse Verfolgung in den besetzten Gebieten
Ein weiteres Beispiel für Russlands komplette Missachtung geistlicher Werte und der Religionsfreiheit ist die Verfolgung religiöser Gemeinschaften und ihrer Leitungspersonen in den besetzten Gebieten. Seit den ersten Tagen der Großinvasion wurde von der russischen Armee ermordeten Geistlichen berichtet. Vater Maxim Kozatschyna, ein Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), wurde am 2. März 2022 in einer Kirche in der Nähe von Ivankov in der Region Kyjiw erschossen. Er trug zum Zeitpunkt des Mordes das Priestergewand. Am 5. März wurde ein weiterer Priester der OKU, Vater Rostislav Dudarenko, in seinem Heimatdorf Jasnogorodka in der Region Kyjw getötet. Am gleichen Tag wurde in Butscha Alexander Kisljuk, Lehrer für Kirchenslawisch und Griechisch an der Kyjiwer Theologischen Akademie, erschossen.
Die tragischen Vorfälle in den ersten Tagen der russischen Großinvasion können natürlich auf die allgemeine Grausamkeit des Kampfes zurückgeführt werden. Als sie auf den unerwartet starken Widerstand stieß, ließ die russische Armee ihren Zorn an der zivilen Bevölkerung aus, was zum Butscha-Massaker und anderen Kriegsverbrechen geführt hat. Das entlastet natürlich keineswegs die Täter und ihre Befehlshaber, aber es erlaubt uns die innere Logik der Gewalt besser zu verstehen.
Es lässt sich jedoch mit Gewissheit sagen, dass der Terror der Besatzer im Falle religiöser Leitungspersonen und Geistlicher nicht zufällig, sondern systematisch und konstant ist. Zwei Jahre nach der Invasion haben die russischen Besatzer im Februar 2024 den orthodoxen Priester Stepan Podoltschak vom Dorf Kalantschak in der Region Cherson getötet. Russische Soldaten führten ihn aus seinem Haus und erschossen ihn. Morde an Priestern geschehen nicht jeden Tag; doch illegale Verhaftungen, Verhöre unter Anwendung von physischem Zwang und Folter, lange Inhaftierungen unter unmenschlichen Bedingungen und Zwangsvertreibungen von Geistlichen aus dem besetzten Gebiet finden jedoch systematisch statt. Dasselbe gilt für die Verfolgung von religiösen Gemeinschaften, was zur Auflösung von ganzen Denominationen in den besetzten Gebieten geführt hat.
Auch wenn die Repression religiöser Gemeinschaften den Eindruck vollkommen sinnloser und unmotivierter Grausamkeit erweckt, lässt sich darin eine gewisse Logik erkennen: Erstens sind gewisse Gruppen in Russland selbst verboten, so werden die Zeugen Jehovas oder einige muslimische religiöse und politische Bewegungen verfolgt.[15] Auf den ersten Blick mag dies wie eine Manifestation orthodoxen Eifers aussehen, weil Zeugen Jehovas nicht als „echte“ Christen und Muslime generell als „Ungläubige“ gelten, doch dahinter steckt überhaupt keine religiöse Motivation. Vielmehr bezeichnet die Verurteilung als „Extremisten“ im russischen rechtlichen Verständnis keine Tendenz zu Gewalttätigkeit, sondern Illoyalität gegenüber den Behörden. Sowohl die Zeugen Jehovas als auch die meisten in Russland verbotenen muslimischen Gruppen wie Hizb ut-Tahrir betonen die Unzulässigkeit von Gewalt. Für diese Gemeinschaften ist der Staat also keine unbestrittene Autorität. Deshalb sind die Repressionen gegen diese Gemeinschaften eher auf das Bestreben des Staates zurückzuführen, alle alternativen Strukturen zum Staat, die seine Autorität in Frage stellen könnten, zu unterdrücken. So kann das Verbot solcher Gruppen als eine konsequente Politik zur Integration der „neuen Gebiete“, wie die besetzten ukrainischen Gebiete in Russland genannt werden, in den russischen Rechtsraum interpretiert werden. Die Ausbreitung russischer Praktiken auf ukrainischem Territorium sollte die internationale Gemeinschaft einmal mehr daran erinnern, dass die Verletzung der Rechte von Gläubigen und religiöse Verfolgung seit langem fester Bestandteil der russischen Innenpolitik sind. Vor der russischen Okkupation genossen alle Religionsgemeinschaften, die nicht gegen das Gesetz verstießen, in der Ukraine Freiheit. Auf der Krim, in Donezk und Luhansk seit 2014 und in Mariupol, Melitopol und Berdjansk seit 2022 hat sich dies geändert.
Zweitens sind auch Religionsgemeinschaften, die nach russischem Recht nicht verboten sind und in der Russischen Föderation religiös tätig sein dürfen, von der Repression betroffen. In den besetzten ukrainischen Gebieten werden ihre Aktivitäten unterdrückt und ihre Geistlichen verfolgt. Zu diesen religiösen Organisationen gehören fast alle christlichen Kirchen, mit Ausnahme der Gemeinden, die dem Moskauer Patriarchat angeschlossen sind. Die Logik ist auch hier eine politische, keine religiöse: Die Religionsgemeinschaften werden entweder als loyal gegenüber der Ukraine (Griechisch-Katholiken, OKU) oder als westorientiert (Katholiken, Protestanten) wahrgenommen. In Russland selbst leben Katholiken und sogar Griechisch-Katholische relativ frei, doch in den besetzten Gebieten gab es sehr schnell keinen einzigen römisch- oder griechisch-katholischer Priester mehr. Alle haben sich entweder selbst entschlossen, zu gehen, oder sie wurden verhaftet und dann vertrieben. Von einigen wissen wir nichts über ihr Schicksal nach der Verhaftung; man kann nur hoffen, dass sie wie viele andere ukrainische Zivilisten von der Außenwelt isoliert gehalten werden, ohne dass eine formelle Anklage erhoben wird. Einige religiöse Gemeinschaften werden durch Beschlüsse der lokalen Besatzungsbehörden als „extremistisch“ eingestuft und verboten, was sogar den Gesetzen der Russischen Föderation widerspricht, nach denen nur ein Gericht eine Organisation als extremistisch einstufen kann. Ihnen werden Gebäude weggenommen, der UOK übergeben oder für Verwaltungszwecke genutzt, z. B. für Jugendveranstaltungen mit „militärisch-patriotischen“, also pro-russischen Inhalten, oder sie stehen einfach leer. Wenn sich Gläubige weiterhin im Untergrund, in Privatwohnungen, versammeln, werden sie verfolgt.
Um die Tragödie der vor sich gehenden Säuberung der besetzten Gebiete gänzlich zu verstehen, sollte man sich vor Augen halten, dass die ukrainische religiöse Landschaft schon immer vielfältiger war als die russische. Es sind vor allem die östlichen und südlichen Regionen, die am meisten unter der russischen Aggression leiden. Vor dem Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 hatte die Region Donezk die meisten protestantischen Gemeinden im Vergleich zu anderen ukrainischen Regionen. Die Repressionen der Besatzungsbehörden machte die bisherige Diversität zunichte.
Schließlich stehen, drittens, alle religiösen Gemeinschaften, einschließlich der UOK, der wenigen Juden und derjenigen, die als akzeptable muslimische Gemeinschaften gelten, unter dem Druck, mit der Besatzungsbehörde zu kooperieren. Äußerlich kann sich das auf verschiedene Weise zeigen, manchmal in Form von völlig korrekten „Gesprächen“. Der Druck kann jedoch schrittweise zunehmen, wenn eine Zusammenarbeit abgelehnt wird. Für die Besatzungsbehörden reicht es nicht aus, dass eine religiöse Leitungsperson keine Illoyalität zeigt. Für das Überleben der Gemeinschaft muss man aktive Unterstützung der Besetzung demonstrieren: an öffentlichen Veranstaltungen sprechen und die Geheimdienste über die Gefühle der Gläubigen unterrichten. Der Klerus ist praktisch der einzige soziale Akteur in den besetzten Gebieten, der von den Besatzungsbehörden unabhängig ist. Mit anderen Worten, die Logik des Drucks ist in diesen Fällen nicht religiös, sondern politisch. Und natürlich werden alle verbliebenen Religionsgemeinschaften gewaltsam zur Unterordnung unter die russischen oder zentralisierten religiösen Strukturen gezwungen, die von den Besatzungsbehörden geschaffen wurden. Die orthodoxen Kirchen der UOK kommen unter die Jurisdiktion der Russischen Orthodoxen Kirche, für die Muslime wurden Spezialstrukturen geschaffen.
Als offensichtliche Schlussfolgerung betone ich einmal mehr, dass das Bild vom aktuellen russischen Regime als Bewahrer konservativer Werte aufgrund eines ehrlichen orthodoxen Glaubens weit von der Realität entfernt ist. Die religiöse Rhetorik dient dem Kreml nur als Deckmantel, um seine Macht zu festigen und aggressives Verhalten zu legitimieren. Das ist nichts weiter als dekoratives Lametta, das selbst in Russland niemand ernst nimmt. Die massenhafte Zerstörung religiöser Gebäude während der Aggression gegen die Ukraine und die systematische Unterdrückung aus religiösen Gründen in den besetzten Gebieten sind eine eindeutige Bestätigung dafür.
Anmerkungen:
[1]) „Schwarze Hundertschaften“ war die übergreifende Bezeichnung für rechtsextreme und monarchistisch-nationalistische Organisationen in den letzten Jahrzehnten des Russischen Imperiums.
[2]) https://web.archive.org/web/20121005044230/http://www.svobodanews.ru/content/article/24663708.htmlhttps://web.archive.org/web/20121005044230/http://www.svobodanews.ru/content/article/24663708.html
[3]) http://kremlin.ru/events/president/news/17118
[4]) https://noek.info/nachrichten/osteuropa/russland/3298-russland-weltkonzil-des-russischen-volks-spricht-von-heiligem-krieg
[5]) https://www.newsweek.com/marjorie-taylor-greene-applauds-russia-protecting-christianity-1888145
[6]) 2023: https://www.sova-center.ru/religion/news/how-many/2023/04/d47984/; 2019: https://www.sova-center.ru/religion/discussions/how-many/2019/04/d40953/
[7]) Gennadij Osipov u. a. (Hg.): Вызовы пандемии и стратегическая повестка дня для общества и государства. Moskau 2021. S. 44.
[8]) https://www.proekt.media/guide/repressii-v-rossii/
[9]) http://kremlin.ru/events/president/news/page/63
[10]) https://t4pua.org/en/1202
[11]) https://khpg.org/1608813434
[12]) https://www.mar.in.ua/en/religion-on-fire/
[13]) https://suspilne.media/266510-istoria-imama-z-lugansini-akij-perekonanij-voenni-zlocinci-budut-pokarani/
[14]) https://nikvesti.com/ua/articles/273390
[15]) Vgl. Dubrovskij, Dmitrij: Russlands Kampf gegen „religiösen Extremismus“. In: RGOW 46, 7–8 (2017), S. 20–23.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Vyacheslav Likhachev, Mitarbeiter des Center for Civil Liberties in Kyjiw
Bild: Die orthodoxe Kirche im Dorf Bohorodychne in der Oblast Donezk wurde durch russischen Beschuss im Juni 2022 fast vollständig zerstört (Foto: Shutterstock.com).