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Die (Un-)Ruhe vor dem Sturm? Rumänien im Superwahljahr 2024

RGOW 07-08/2024
Andrei Avram

Im November wählt Rumänien einen neuen Präsidenten. Der seit zehn Jahren amtierende Klaus Iohannis tritt mit vielen internationalen Lorbeeren ab, da er sich als strategischer Partner des Westens erwiesen hat. Innenpolitisch hat der Präsident seine Reformversprechen jedoch nicht eingelöst. Die große Koalitionsregierung von Sozialdemokraten und Liberalen und ihre taktischen Wahlabsprachen befeuern die Politikverdrossenheit.

Wohl kaum ein rumänischer Politiker hat in seiner Karriere so viel Lob aus dem Ausland erhalten wie der Ende des Superwahljahres 2024 aus dem höchsten Staatsamt scheidende Präsident Klaus Iohannis. Auf der Website der Präsidialverwaltung werden zahlreiche prestigeträchtige Preise aufgeführt, die dem vierten postkommunistischen Staatschef im Laufe seiner zwei Amtszeiten verliehen worden sind. Beispielsweise erhielt er noch in diesem Jahr von der berühmten US-amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council den „Distinguished International Leadership Award”; 2017 durfte er die Ehrung „Light Unto the Nations“ vom American Jewish Committee annehmen. 2021 wurde er im Krönungssaal des Aachener Rathauses mit dem Internationalen Karlspreis für das Jahr 2020 beehrt, „in Würdigung seiner herausragenden Verdienste als Streiter für die europäischen Werte, für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und als Brückenbauer zwischen Ost und West“.

Wer aber heute, ein halbes Jahr vor dem Ende seiner zehnjährigen Präsidentschaft, durch Rumänien reisen und Menschen spontan über Klaus Iohannis befragen würde, dürfte keineswegs auf solche huldigenden Worte stoßen. Im Gegenteil: bereits Ende Dezember 2023 war sein Vertrauenswert auf unter 17 Prozent gesunken, im April 2015 – ein halbes Jahr nach seiner erstmaligen Wahl zum Staatsoberhaupt – waren es fast spektakuläre 65 Prozent gewesen. Der einstige Hoffnungsträger für systemische Reformen und eine Modernisierung des rumänischen Staates hat heute unter den eigenen Bürgern einen schlechteren Ruf als alle seine drei Vorgänger, als sie ihr Amt verließen.

Rumäniens geostrategische Bedeutung
Der Kontrast zwischen äußerem Image und Enttäuschung im Inland ist jedoch kein Paradox. Die jüngsten Entwicklungen in der Region und auf der ganzen Welt – allen voran der brutale russische Krieg gegen die Ukraine – machen sich auch darin bemerkbar, dass innenpolitische (Fehl-)Entwicklungen und Rückschritte in Rumänien von externen Partnern etwas weniger wahrgenommen und/oder angesprochen werden – zumindest öffentlich. Zu sehr ist das Land aus geostrategischen Gründen von Bedeutung: Das offizielle Bukarest hat sich, im Gegensatz zu anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa, ganz klar und deutlich hinter Kyjiw gestellt. Im Juni dieses Jahres beschloss der Oberste Verteidigungsrat sogar, dem angegriffenen Nachbarn ein Patriot-Raketenabwehrsystem zur Verfügung zu stellen. Im März 2024 bedankte sich die Ukraine öffentlich für insgesamt 15 militärische Unterstützungspakete, während in naher Zukunft in Rumänien F16-Kampfpiloten aus dem Nachbarland ausgebildet werden sollen. Und als in Polen im letzten Jahr die Verkehrswege für landwirtschaftliche Produkte aus der Ukraine blockiert waren, standen die rumänischen Türen offen. Anlässlich eines Besuchs in der rumänischen Hauptstadt sagte Präsident Zelenskyj über seinen Amtskollegen: „Gott sei Dank kam das intelligente Rumänien, und der rumänische Präsident hat mir schlicht und einfach geholfen. Er hat unseren Bauern geholfen zu überleben.“

Auch aus der Republik Moldau – dem nach der Ukraine von der russischen Invasion am meisten betroffene Staat, der mit Rumänien Sprache, Geschichte und Kultur teilt – gab es starke Botschaften der Dankbarkeit. Bei einer gemeinsamen Presseerklärung im Februar 2023 in Bukarest wandte sich die moldauische Präsidentin Maia Sandu an Iohannis mit den Worten: „Während einige uns erpressen, umarmen uns andere. Im Namen aller unserer Bürger danke ich Ihnen vielmals, Herr Präsident.“ Der Besuch erfolgte nach dem äußerst schwierigen Kriegswinter, als sich das kleine Land mit rumänischer Hilfe von der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen hatte befreien können. Nicht nur im Energiesektor war Unterstützung aus Bukarest von zentraler Bedeutung – noch kurz vor Kriegsbeginn unterschrieben die zwei Regierungen ein Abkommen über rumänische Fördergelder von 100 Mio. Euro, davon wurde im vergangenen Jahr eine erste Tranche für den Kauf von Schulbussen und Wasserversorgungsarbeiten in mehreren Ortschaften freigegeben. Auch diplomatisch – der Präsident ist in Rumänien für Außenpolitik federführend zuständig – ist Bukarest der wichtigste Unterstützer für die Ambition der Republik Moldau, der Europäischen Union beizutreten.

In einer Region, in der Krieg herrscht und auf die Hilfe anderer Länder nicht unbedingt Verlass ist (zur Zeit von Ungarn und der Slowakei), während anderswo die Politik in einer Art Dauerkrise zu stecken scheint (Bulgarien), ist es deswegen nicht sonderlich überraschend, dass Rumänien von außen gesehen als Anker der Stabilität gilt.

Stabilität oder Stagnation?
Auch gegenüber der öffentlichen Meinung im eigenen Land verweisen Spitzenpolitiker auf die Wichtigkeit von Stabilität – gern auch als Begründung, um Entscheidungen zu treffen, die in der Vergangenheit kaum vorstellbar gewesen wären. So etwa die Bildung der gegenwärtig regierenden Koalition von Sozialdemokratischer Partei (PSD) und Nationalliberaler Partei (PNL) im November 2021. Damals sprach Nicolae Ciucă (PNL) anlässlich seiner Designierung zum Ministerpräsidenten von der Notwendigkeit einer „solide[n] Koalition im Parlament, damit wir eine Regierung stellen können, die praktisch die Stabilität des Landes gewährleistet.“ Der inzwischen nach einem per Koalitionsvertrag turnusmäßigen Wechsel seit Juni 2023 amtierende Ministerpräsident Marcel Ciolacu (zugleich PSD-Vorsitzender) hat ebenfalls mehrfach auf Stabilität als zentrale Errungenschaft dieser Partnerschaft hingewiesen – und auch als Rechtfertigung, dass PSD und PNL, trotz Mitgliedschaft in unterschiedlichen Parteienfamilien, bei der Europawahl am 9. Juni auf einer gemeinsamen Liste antraten, was zum ersten Mal seit dem EU-Beitritt des Landes 2007 geschah.

Zwar sind große Koalitionen in diversen europäischen Staaten keineswegs eine Seltenheit – in Rumänien hat es aber seit der Wende eine tiefe gesellschaftliche Kluft zwischen Anhängern der Sozialdemokraten und deren politischen Gegnern gegeben. Frühere Abstimmungen – sei es auf europäischer oder nationaler Ebene, ob für das Parlament, für den Präsidenten, ebenso in gewissem Maße sogar bei Kommunalwahlen – konnten eigentlich eher als Referenden betrachtet werden, bei denen es um die Frage ging, ob die PSD an die Macht gelangen kann oder nicht. So auch 2020 bei der Parlamentswahl, bei der Iohannis selber öffentlich und aktiv im Wahlkampf und im Vorfeld gegen die PSD gewettert hatte – und die PNL sich den Bürgern eher durch den Gegensatz zur PSD als durch die Vermarktung eigener politischen Inhalte präsentierte.[1] Der Präsident, in der Vergangenheit kurzzeitig PNL-Vorsitzender und zwei Mal Kandidat der Liberalen, hatte sogar nach dem Urnengang öffentlich bekundet, es sei sein Ziel gewesen, dass bei der Wahl die Mitte-Rechts-Parteien über 50 Prozent der Stimmen erhalten und „auf diese Weise […] die PSD endlich, nach einem ganzen Wahlzyklus, außerhalb der politischen Entscheidungsfindung bleiben” könne.

Neben der PNL zählten zu den von Iohannis erwähnten Mitte-Rechts-Parteien auch die Union Rettet Rumänien (USR) – eine politische Kraft, die in Europa der Fraktion Renew Europe bzw. der Parteienfamilie der Europäischen Liberalen (ALDE) angehört – sowie die Demokratische Union der Ungarn in Rumänien, die zwar eher als Minderheitenpartei zu verorten ist, jedoch ebenso wie die PNL Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP) ist.

Dabei sollte darauf verwiesen werden, dass traditionelle Links-Rechts-Muster auf die rumänische politische Landschaft nur bedingt zutreffen. Die PSD dürfte eher dem sozial-konservativen Spektrum zugeordnet werden – etwa durch starke Akzente auf Familie und Traditionen –, während das von Ciolacu vorgelegte Regierungsprogramm auch vom „wirtschaftlichen Patriotismus” spricht und den Rumänen versichert, dass sie durch Erhöhungen von Gehältern und Renten nicht mehr die „modernen Sklaven” Europas mit den kleinsten Einkommen sein würden. Die PNL dürfte zumindest wirtschaftspolitisch rechts sein, mehrere führende Vertreter bezeichnen deren Doktrin jedoch als „liberal-konservativ” und bedienen öffentlich Themen wie Vaterland und Kirche ähnlich wie die PSD. Die USR ist ideologisch schwer einzuordnen – die Partei war bei ihrer ersten Teilnahme an Parlamentswahlen 2016 eher eine Anti-System-Partei, die sich vor allem für einen strikten Kurs gegen die Korruption aussprach.

Aber auch die PNL – ebenso wie Präsident Iohannis – hatte sich vor allem bis 2019 für eine unabhängige Justiz öffentlich stark gemacht und Versuche der Sozialdemokraten, in den Jahren 2017–2018 rechtsstaatliche Reformen zu unterminieren, gekontert, einschließlich durch Unterstützung einer riesigen Protestwelle im Frühjahr 2017, als Hunderttausende deswegen auf die Straße gegangen waren. Als zentrale Hassfigur galt der damalige, später rechtskräftig verurteilte PSD-Chef Liviu Dragnea, aber auch die Partei selbst – de facto die Nachfolgerin der Kommunistischen Partei – steht für breite Schichten von Rumänen als Inbegriff von Korruption, Nepotismus und Klientelismus. Umso enttäuschter werden diese Wähler gewesen sein, als infolge eines Streits innerhalb der Koalition im Herbst 2021 das Mitte-Rechts-Bündnis zerbrach, und Präsident Iohannis anschließend ein PSD-PNL-Regierungsbündnis in die Wege leitete. Die vormalige Kritik an der PSD wurde stillschweigend vergessen, dafür wurde bis in das Superwahljahr 2024 hinein das Mantra der Stabilität wiederholt.

Innenpolitisch ist die vermeintliche Stabilität der Jahre 2021–2023 eher mit Stagnation gleichzusetzen. Die Bilanz der Präsidentschaft von Klaus Iohannis weist nicht nur keine signifikanten Reformen auf, sondern äußert sich in einem hohen Maß an Politikverdrossenheit und – wie eine Studie im April 2024 befand – in einer verbreiteten gesellschaftlichen Wahrnehmung, dass das Verhältnis zwischen Bürgern und politischer Elite antagonistisch sei, im Sinne einer Wir-gegen-sie-Konstellation. Hingegen bedient sich die große Koalition „klassischer“ Manöver, um sich die Unterstützung der Wähler zu sichern: in Form von Gehaltserhöhungen im öffentlichen Sektor und Rentenerhöhungen – letztere sollen im September 2024 in Kraft treten, so dass es kaum überraschend erscheint, dass Ciolacu die Präsidentschaftswahl unbedingt auf diesen Monat terminieren wollte. Trotz ursprünglicher Versprechen, auf einen schlankeren Staatsapparat hinzuarbeiten, ist genau das Gegenteil passiert. Eine im Juni veröffentlichte Analyse ergab, dass seit der Regierungsübernahme durch PSD und PNL im Schnitt pro Tag 38 neue Staatsbedienstete angeheuert worden sind. Die Ausgaben für Gehälter im öffentlichen Sektor machten 2023 knapp 30 Prozent der Haushaltseinnahmen aus – deutlich mehr als der EU-Durchschnitt von 21,81 Prozent. Die Europäische Kommission stellte kürzlich fest, dass das Haushaltsdefizit des Landes 2023 bei 6,6 Prozent lag und in diesem Jahr auf 6,9 Prozent steigen wird. Moniert wurden dabei die steigenden Staatsausgaben. Unabhängige Beobachter in der rumänischen Öffentlichkeit gehen davon aus, dass 2025 Steuererhöhungen unvermeidlich sein werden – und nur wegen des Superwahljahres nicht kurzfristig erfolgen.

Solch pessimistische Aussichten sind auch in Umfragen zu finden. Eine Anfang Juni veröffentlichte Umfrage ergab, dass gut 60 Prozent der Rumänen glauben, das Land bewege sich in eine falsche Richtung – und über zwei Drittel erwarten Preissteigerungen innerhalb der kommenden drei Monate.

Taktische Zusammenlegung von Wahlen
Vor diesem Hintergrund der politischen Frustration beschloss die Regierungskoalition, die Kommunalwahlen mit dem Urnengang für das Europäische Parlament am 9. Juni zusammen zu legen, obwohl erstere eigentlich erst im Herbst hätten stattfinden sollen. Das Kalkül von PSD und PNL bestand darin, dass das Interesse der Bürger für die Belange ihrer Stadt bzw. ihrer Region eine niedrige Wahlbeteiligung verhindern und sich dadurch auch die Europawahl einer höheren Teilnahme erfreuen würde. Zudem war den zentralen Parteiführungen sicherlich bewusst, dass „ihre“ Bürgermeister aus Eigeninteresse, wiedergewählt zu werden, sich deutlich mehr anstrengen würden, um die Menschen in ihren Ortschaften zu mobilisieren. Außerdem führte die Zusammenlegung dazu, dass lokale Themen in den Vordergrund rückten, wodurch zumindest die euroskeptischen Parteien Allianz für die Einheit der Rumänen (AUR) und S.O.S. România nicht mehr mit ihren Parolen punkten konnten. Die AUR war nach ihrer Gründung 2020 überraschend mit 9 Prozent der Stimmen ins Parlament eingezogen (S.O.S. România wurde von einer ursprünglich AUR angehörenden Senatorin später gegründet) und war in Umfragen zeitweilig auf über 20 Prozent gestiegen. Ferner wurde die USR durch den Schachzug der Zusammenlegung der Urnengänge benachteiligt, weil die Partei – ebenso wie AUR und S.O.S. – über deutlich schwächere lokale Strukturen als die Sozialdemokraten und Liberalen verfügt.

Die gleichzeitige Veranstaltung von Kommunal- und Europawahlen stellte jedoch nur die notwendige, allerdings nicht die hinreichende Voraussetzung aus Sicht der großen Koalition dar, um den eigenen Erfolg zu sichern. Denn das Ausmaß der Unzufriedenheit in der Bevölkerung ließ einige Soziologen vermuten, dass es eine sog. „Revolution an den Urnen“ geben könnte, die das politische Spektrum zu erschüttern drohte. Neben der vielfach gepriesenen Stabilität richtete sich die Rhetorik von PSD und PNL auch auf eine vermeintlich existierende Extremismusgefahr – wobei diese Faktoren als Rechtfertigung dienten, um für die Europawahl eine gemeinsame Kandidatenliste zu präsentieren. Ciucă von der PNL sagte in einer Rede im April, dass die Schlacht des Jahres 2024 zwischen Demokratie und Autoritarismus ausgetragen werde. Bei der Verkündung der Entscheidung über die einheitliche Liste im Februar hatte Ciolacu von der PSD sogar noch dramatischere Worte gefunden: es sei „offensichtlich, dass nur die beiden großen Parteien einer extremistischen Welle entgegentreten können“ und keine der beiden könne diesen Kampf allein führen. Aber nicht alle Beobachter kauften den beiden Parteivorsitzenden das Narrativ der Allianz als Rettungsanker für Rumänien ab – vielmehr dürfte hinter diesem Kalkül auch die Ungewissheit gestanden haben, wie viele enttäuschte PNL-Wähler sich neu orientieren würden. Ein schlechtes Abschneiden für die PNL hätte nicht nur Ciucăs Amt gefährdet, sondern auch Stimmen bei den Liberalen bestärkt, die einen Austritt aus der Koalition hätten forcieren können. Durch eine gemeinsame – paritätisch besetzte – Liste ließ sich das Ergebnis der PNL zudem gar nicht feststellen.

Im Nachhinein ist schwer zu bewerten, ob dieses Manöver überhaupt notwendig war oder vielleicht sogar kontraproduktiv. Denn bei der Europawahl erhielt die Liste von Sozialdemokraten und Liberalen 48,55 Prozent, während die beiden Parteien beim Votum für Bezirksräte bei den Kommunalwahlen zusammen auf gut 61 Prozent kamen, bei den Stimmen für Kommunalräte waren es auch knappe 59 Prozent. Die rechtsextreme Gefahr scheint rückblickend einigermaßen überbewertet worden zu sein. Bei der Abstimmung für das Europäische Parlament kam AUR auf 14,93 Prozent und S.O.S. auf 5,03 Prozent, ein Ergebnis, das im europäischen Vergleich keine sonderlichen Schlagzeilen hervorzurufen vermochte. Aber auch die demokratische Opposition in Form eines Dreier-Bündnisses mit der USR als Kern konnte kaum punkten – mit weniger als 9 Prozent sah sich der Vorsitzende der USR, Cătălin Drulă, zum Rücktritt gezwungen. Die Partei konnte zwar bei den Kommunalwahlen die Bürgermeisterposten in ihren Hochburgen Bukarest und Timișoara halten, ansonsten erzielte sie aber bei den Bezirksräten und den Kommunalräten (gut 8 bzw. knapp 7 Prozent) auch kein gutes Ergebnis. Die Allianz um die USR gewann zwar symbolisch die meisten Stimmen für den Bukarester Stadtrat (27,61 Prozent), aber nur knapp vor den Sozialdemokraten (26,56 Prozent).

Aus den Kommunalwahlen ging die PSD als Siegerin hervor – mit den meisten gewählten Vorsitzenden der Bezirksräte und den meisten Bürgermeistern –, aber auch die Liberalen konnten erleichtert aufatmen. So erleichtert, dass eine frühere Abmachung mit der PSD, die Präsidentschaftswahlen im September (statt turnusgemäß im November) abzuhalten – die Gegenleistung für die gemeinsamen Listen –, schnell wieder vergessen wurde, und die PNL auf eine fristgerechte Durchführung zu pochen begann. Kaum verwunderlich, denn es ist eher die etwas loyalere und tendenziell wirtschaftlich schlechter gestellte Wählerschaft der PSD, die im September an die Urnen hätte gehen können, während die liberale Klientel evtl. noch im Urlaub gewesen wäre. Zudem wäre auf Kommunalpolitiker auch nicht viel Verlass gewesen, im August einen allzu intensiven Wahlkampf zu betreiben, wo der kommunale Urnengang nun beendet ist. Und das öffentliche Image von Ciucă aufzubauen, dürfte auch Zeit kosten.

Offene Präsidentschaftswahl
Die PSD steht vor einem noch komplizierteren Dilemma im Vorfeld der Präsidentschaftswahl. Abgesehen davon, dass die im Frühjahr diskutierten Ideen wie eine gemeinsame Kandidatur von PSD und PNL für das höchste Staatsamt und/oder von gemeinsamen Listen für die im Dezember geplante Wahl für das nationale Parlament infolge des guten Abschneidens der Liberalen nicht mehr auf dem Tisch zu liegen scheinen, müssen die Sozialdemokraten mit einem Kontrahenten rechnen, der ehemals selber den PSD-Vorsitz inne hatte: der scheidende stv. Generalsekretär der NATO, Mircea Geoană, hat (indirekt) mehrfach bekundet, als Unabhängiger ins Rennen einsteigen zu wollen. 2009 hatte Geoană die Stichwahl gegen den damaligen Präsidenten Traian Băsescu verloren und kurz danach auch sein Amt an der Spitze der Sozialdemokraten. Umfragen belegen jedoch, dass Geoană in der Wählergunst zurzeit besser da steht als Ciolacu (oder Ciucă). Szenarien, dass er von der PSD als Kandidat aufgestellt werden könnte, haben die Sozialdemokraten wiederholt bestritten, und es ist auch unklar, auf wessen Wählerschaft Geoană mehr zählen könnte. Eine Studie belegt jedoch, dass parteilose Kandidaten angesichts der Unzufriedenheit mit der politischen Elite durchaus einen Bonus in der Wahrnehmung der Bevölkerung aufweisen. Außerdem hat seit 2000 kein Sozialdemokrat das Präsidentenamt gewinnen können, weil es in der zweiten Runde stets eine Polarisierung gegen die PSD gegeben hat. Und traditionell kann sich kein Vorsitzender der PSD halten, sollte er die Präsidentschaftswahl verlieren – Geoană ist hierfür ein Beispiel und Ciolacu wird dies selbstverständlich bewusst sein.

Der politischen Klasse hat vermutlich auch nicht geholfen, dass es bei den Europa- und Kommunalwahlen auch zu Unregelmäßigkeiten kam – keine entscheidenden, wie unabhängige Beobachter feststellten, aber die Zusammenlegung von Urnengängen mit unterschiedlichen Regeln hat sich als organisatorisch kompliziert erwiesen. Bilder von Wahlhelfern, die stunden- bzw. teilweise tagelang auf die Abgabe von ausgezählten Stimmzetteln bei den örtlichen Wahlbüros unter glühender Hitze warteten, machten in den Fernsehnachrichten die Runde. Auch der hohe prozentuale Anteil von ungültigen Stimmen bei der Europa-Wahl – 5,1 Prozent – hat für Unmut gesorgt, obwohl 2014 eine ähnliche Zahl vorgekommen war. Erfreulich erwies sich jedoch die Wahlbeteiligung, die für rumänische Verhältnisse als gut gilt: ca. 50 Prozent bei den kommunalen Abstimmungen, mehr als 52 Prozent für das Europäische Parlament. Dabei sei angemerkt, dass für erstere eine Teilnahme nur am eigenen Wohnort zulässig ist, während für letztere die Stimmabgabe überall im Land (oder bei im Ausland eingerichteten Wahllokalen) erlaubt ist, weil eine nationale Liste gewählt wird. Prognosen für die kommenden Wahlen für Präsident und Parlament sind vor diesem Hintergrund gewagt, zumal bis Ende Juni offiziell keine Kandidatur für das Amt des Staatsoberhauptes beschlossene Sache war – eine in Rumänien einmalige Konstellation.

Eine Wahl hat allerdings Klaus Iohannis verloren: Offenbar ohne jegliche diplomatische Absprache hatte er im März seine Kandidatur für den Posten des NATO-Generalsekretärs angekündigt, obwohl Mitgliedstaaten wie die USA oder Deutschland längst den scheidenden niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte anvisiert hatten. Keine zwei Wochen nach dem ersten Urnengang im Superwahljahr 2024 musste der Präsident, der sichtlich einen internationalen Posten anstrebte, etwas kleinlaut aufgeben, nachdem auch das lang zögernde Ungarn seine Unterstützung für Rutte zugesagt hatte, und Iohannis mit seinem Vorhaben völlig isoliert geblieben war. Dem Präsidenten positiv gesinnte Beobachter hatten hinter seiner Kandidatur einen strategischen Zug zu identifizieren vermocht, um für das Land eine andere wichtige Funktion, etwa bei der EU, zu gewinnen. Doch nach der Verteilung der Spitzenposten in Brüssel ist er auch dort leer ausgegangen. Dabei war sogar öffentlich diskutiert worden, dass die geplante Vorverlegung der Präsidentschaftswahl auf September einen schnelleren Exit für Iohannis ermöglichen sollte. Neben Irritation bei den Verbündeten brachte aber die Kandidatur weder einen diplomatischen Erfolg für das Land noch einen Job für den bald ehemaligen Präsidenten.

Welches Land hinterlässt der erste Siebenbürger Sachse, der im Herbst 2014 die Hoffnungen vieler Rumänen auf einen Wandel geweckt hatte? Ein Land mit viel Politikverdrossenheit, einer schwierigen wirtschaftlichen Lage und unabgeschlossenen (oder zurückgefahrenen) Reformen in Bereichen wie Bildung oder Justiz. 17 Jahre nach dem EU-Beitritt ist die Einführung des Euro in weiter Ferne, auch die vollständige Aufnahme in den passfreien Schengen-Raum konnte (zuletzt wegen eines Vetos aus Wien) ebenfalls nicht erreicht werden. Die Geschichtsbücher dürften über Iohannis jedoch eines festhalten: er bekam viele internationale Preise. Ein schwacher Trost für so viel vergeudete Zeit. 

Anmerkung:
[1])    Avram, Andrei: Das rumänische Superwahljahr 2020 und die Corona-Krise. In: RGOW 48, 5 (2020), S. 8–11.

Andrei Avram ist Experte für Politikplanung und strategische Kommunikation in der Republik Moldau. Früher war er Programmkoordinator beim Auslandsbüro Rumänien der Konrad-Adenauer-Stiftung und zeitweilig auch für die rumänische Regierung als Berater tätig. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.

Bild: Präsident Klaus Iohannis im November 2022 mit NATO-General- sekretär Jens Stoltenberg, auf dessen Amt Iohannis aspiriert hatte (Foto: Shutterstock.com/Alexandra Pandrea).

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