Buchbesprechungen
RGOW 09/2024
Vier Buchbesprechungen zu
Edward G. Farrugia, S. J. u.a. (eds.): Autocephaly. Coming of Age in Communion;
Mihai-D. Grigore, Vasilios N. Makrides (eds.): Orthodoxy in the Agora. Orthodox Christian Political Theologies Across History;
Barbara Hallensleben, Regula M. Zwahlen u.a. (eds.): Building the House of Wisdom. Sergij Bulgakov and Contemporary Theology;
Martin Illert, Andriy Mykhaleyko (Hg.): Perspektiven der Ostkirchenkunde.
Edward G. Farrugia, S. J.; Željko Paša, S. J. (eds.)
Autocephaly. Coming of Age in Communion
Historical, Canonical, Liturgical, and Theological Studies, Vol. I und II.
(= Orientalia Christiana Analecta, Bde. 314 und 315)
Rom: Pontificio Istituto Orientale 2023, 1326 S.
ISBN 978-88-7210-409-5. € 120.–.
In den letzten Jahren hat vermutlich kein anderer Begriff aus dem Umfeld der Orthodoxen Kirche eine solche Karriere hingelegt und ist auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden wie der Begriff der „Autokephalie“, wie der römisch-katholische Theologe Thomas Bremer in seinem Beitrag zu diesem Sammelband konstatiert (S. 965). Mit Autokephalie wird gemeinhin die Freiheit und das Recht einer orthodoxen Lokalkirche bezeichnet, ihr Oberhaupt selbst zu bestimmen und ihre inneren Angelegenheiten selbständig, ohne Einmischung von außen zu regeln. Innerorthodox heftig umstritten ist allerdings das Verfahren, wie eine Lokalkirche autokephal werden kann, und welche kirchlichen Akteure dabei wie einbezogen müssen. Die Konflikte um die ukrainische Autokephalie haben zu einer Spaltung zwischen den Patriarchaten von Konstantinopel und Moskau geführt, die auf die gesamte orthodoxe Welt ausstrahlt. Vor diesem gravierenden Hintergrund erscheint eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konzept der Autokephalie umso dringender, der dieser zweibändige Sammelband auf über 1000 Seiten nachkommt.
Im ersten Band wird der historische Kontext und die Entstehung der einzelnen autokephalen Kirchen beleuchtet. Dabei werden in einem ersten Teil die altkirchlichen Patriarchate Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem vorgestellt, daran schließen in einem zweiten Teil die jüngeren autokephalen orthodoxen Kirchen an, wobei zwischen den Kirchen unterschieden wird, deren Autokephalie von allen anderen orthodoxen Kirchen anerkannt wird, und denjenigen, deren Autokephalie nur von einem Teil der anderen orthodoxen Kirchen anerkannt wird (Orthodox Church in America, Orthodoxe Kirche der Ukraine und Makedonische Orthodoxe Kirche). Das Bestreben der Herausgeber war es dabei, wenn möglich Autoren aus den jeweiligen Kirchen für die einzelnen Beiträge zu gewinnen. Der erste Band schließt mit einem Teil zum Einfluss politischer Autoritäten (Römisches Reich, Osmanisches Reich, Habsburgermonarchie, Russisches Reich und Sowjetunion) auf die Ausgestaltung der Kirchenstrukturen ab.
Der zweite Band ist in zwei Teile unterteilt: Im ersten Teil geht es um Zeichen der Einheit unter den autokephalen Kirchen in der liturgisch-kanonischen Praxis; im zweiten Teil werden theologische, kanonische und historische Fragen behandelt, u. a. wie die Debatte um die Autokephalie die orthodoxe Ekklesiologie verändert. Wer sich mit Autokephalie befassen möchte, wird an diesem voluminösen Sammelband nicht vorbeikommen.
Stefan Kube
Mihai-D. Grigore, Vasilios N. Makrides (eds.)
Orthodoxy in the Agora
Orthodox Christian Political Theologies Across History
(= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 143)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 431 S.
ISBN 978-3-525-30256-9. € 80.–; CHF 104.–; open access.
Mit dem Sammelband widmen sich die Herausgeber einem lange vernachlässigten Thema, nämlich der politischen Theologie in der Orthodoxie. Denn das „ganze Thema der politischen Theologie ist, historisch gesprochen, im westlichen christlichen Diskurs, theologisch oder anders, viel umfassender, systematischer und theoretischer ausgearbeitet und von verschiedenen Akteuren in zahlreichen Konstellationen, sowohl individuell als auch institutionell, gefördert worden“ (S. 14). Dies gelte nicht nur für die Vergangenheit, sondern noch mehr für die Moderne bis in die Gegenwart. Allerdings habe das Ende des Kommunismus in vielen orthodox geprägten Länder Ost- und Südosteuropas ein neues Interesse am Thema geweckt. In der eingehenderen Beschäftigung damit versuchten orthodoxe Theologen, Intellektuelle und Denker eine „spezifisch orthodoxe“ politische Theologie zu entwickeln, oft in kritischer Auseinandersetzung mit westlichen Diskursen (S. 15).
Der vorliegende Sammelband will dank einer breiteren, interdisziplinären Perspektive zur jüngsten Beschäftigung mit orthodoxer politischer Theologie beitragen. So kommen auch die Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge aus unterschiedlichen Disziplinen wie Theologie, Geschichte, Soziologie, Philosophie und Politikwissenschaft. Dabei konzentriert sich der Band vor allem auf die „historische Evolution orthodoxer christlicher Theologien“, vom frühen Byzanz bis heute (S. 17 f.). Dabei sollen verschiedene Formen und Artikulationen orthodoxer politischer Theologie in verschiedenen lokalen Kontexten aufgezeigt werden, wobei ihre Vielschichtigkeit und Komplexität zutage tritt.
Gleich mehrere Beiträge beschäftigen sich mit der Zeit des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, einer häufig vernachlässigten Periode. Geografisch decken die Artikel verschiedenste Gebiete ab, darunter den Balkan, Russland, Byzanz, das Osmanische Reich, Georgien, Zypern und Äthiopien. Zudem finden sich Beiträge über die „orthodoxe Minderheitenkirchen von Finnland bis Polen“ und über die russische orthodoxe Diaspora im Westen, aber auch übergreifende Artikel wie zu „Ursprung, Entwicklung und Verbreitung des ‚Politischen Hesychasmus‘“. In den Beiträgen werden Beziehungen der Orthodoxie zu Themen wie Autokratie, Herrschaftslegitimierung, Nationalismus, Geschichte und Moderne beleuchtet. Der Sammelband überzeugt mit seinem breiten Spektrum an Zugängen, Themen und Perspektiven, die einen vertieften Einblick in das Thema der orthodoxen politischen Theologie ermöglichen.
Natalija Zenger
Barbara Hallensleben, Regula M. Zwahlen, Aristotle Papanikolaou, Pantelis Kalaitzidis (eds.)
Building the House of Wisdom.
Sergij Bulgakov and Contemporary Theology: New Approaches and Interpretations
(= Epiphania, Bd. 19)
Münster: Aschendorff Verlag 2024, 536 S.
ISBN 978-3-402-12061-3. € 75.–; CHF 101.–; open access
Im Jahre 1937 veröffentlichte Sergij Bulgakov die Schrift „The Wisdom of God“, um einer westlichen Leserschaft seinen sophiologischen Ansatz näherzubringen. Dieser Ansatz hatte in der russischen Diaspora, zu der Bulgakov seit seiner erzwungenen Emigration in den frühen 1920er Jahren selbst gehörte, erhebliche Kontroversen entfacht; 1935 wurde Bulgakov von der Kirchenleitung des Moskauer Patriarchats bezichtigt, eine an die Gnosis erinnernde Irrlehre zu vertreten. Bulgakov sah sich zu einer Klarstellung genötigt, denn sein eigenes Anliegen bestand gerade darin, eine dezidiert christliche Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart zu geben. Aus eben diesem Grunde engagierte er sich auch in der sich in dieser Zeit formierenden ökumenischen Bewegung und ließ das Buch auf Englisch erscheinen.
Dass es sich bei Bulgakov in der Tat nicht um einen theologischen Sonderling handelt, der ein abwegiges spekulatives Theoriegebilde entwickelt hat, dass Bulgakov vielmehr mit seinem Ansatz ein „House of Wisdom“ skizziert hat, in dem sich mannigfach Räume und auch versteckte Nischen finden, die sich auszuloten lohnen, das dokumentiert der vorliegende Sammelband „Building the House of Wisdom“. Dieser mit 536 Seiten umfangreiche Band geht auf eine Tagung gleichnamigen Titels zurück, die im Jahre 2021 anlässlich des 150. Geburtstages von Bulgakov an der Universität Fribourg (Schweiz) von der dortigen Forschungsstelle Sergij Bulgakov in Kooperation mit dem Orthodox Christian Studies Center der Fordham University (USA) und der Volos Academy for Theological Studies (Griechenland) veranstaltet worden ist. Versammelt sind in dem Band mehr als 30 Beiträge, die von ausgewiesenen Bulgakov-Forschern stammen und thematisch in die übergreifenden Blöcke „Personhood and Anthropology“, „Politics, Economy, and Ecology“, „Sophiology“, „Creation and Ontology“ und „Ecumenical Perspectives“ gegliedert sind. Den Beiträgen vorangestellt ist eine luzide Einleitung der Herausgeber, die Interesse daran zu wecken versteht, sich mit dem „awakening giant“, als der Bulgakov über Russland hinaus mittlerweile auch in Europa und den USA gilt, näher zu befassen. Dieses Interesse wird mit den Beiträgen des Sammelbandes, die eine Fülle an Einsichten in unterschiedlichen Bereichen bieten, reich belohnt. Der Band sei deshalb nicht nur Bulgakov-Spezialisten empfohlen, sondern allen jenen, die ein theologisch ungemein anregendes Buch lesen möchten.
Jennifer Wasmuth, Göttingen
Martin Illert, Andriy Mykhaleyko (Hg.)
Perspektiven der Ostkirchenkunde
Ausgewählte Ansätze evangelischer und katholischer Ostkirchenkundler
(= Eastern Church Identities, Bd. 13
Paderborn: Brill Schöningh 2022, 193 S.
ISBN 978-3-506-79525-0. € 99.–; CHF 130.–.
Die Ostkirchenkunde als theologische Disziplin zur Erforschung des Lebens und der Lehre der orientalisch- und byzantinisch-orthodoxen Kirchen kann mittlerweile auf eine über 100-jährige Geschichte zurückblicken. Der vorliegende Sammelband nimmt 20 prominente deutschsprachige Ostkirchkundler in den Blick, die mit ihren jeweiligen hermeneutischen Ansätzen die Entwicklung des Faches geprägt haben. Es handelt sich dabei um evangelische und katholische Theologinnen und Theologen aus Ost- und Westdeutschland, deren biographischer Kontext, fachliche Schwerpunktsetzung und wichtigste Schriften vorgestellt werden.
In den Wissenschaftsbiographien vieler Ostkirchenkundler spiegeln sich die politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert: Hans Koch (1894–1959) und Eduard Winter (1896–1981) waren in die deutsche Ostforschung der 1930er und 1940er Jahre involviert, wobei Winter nicht nur für die SS und den SD arbeitete, sondern seine Karriere nach 1945 als Professor für osteuropäische Geschichte in der DDR fortsetzen konnte. Die politischen Rahmenbedingungen wirkten sich auch auf die ökumenischen Kontakte der Forschenden aus, so konnten sich z. B. Hans-Dieter Döpmann (1929–2012) und Günther Schulz (1936–2022) nur „im engen Rahmen einer von der DDR instrumentalisierten Ökumene mit den slawisch-orthodoxen Kirchen Osteuropas“ bewegen (S. VIII).
Im Mittelpunkt stehen bei den porträtierten Ostkirchenkundler vor allem deren Positionsbestimmung des Faches und ihr jeweiliger Zugang zu den östlichen Kirchen. Die „Grande Dame“ der Ostkirchenkunde, Fairy von Lilienfeld (1917–2009), beispielsweise rekurrierte auch auf den Einbezug nicht-kirchlicher Bereiche: Das Fach wird „nicht allein Kirchen- und Dogmengeschichte der Ostkirchen, nicht allein die Kunde von ihrer konfessionellen Gegenwart umfassen, sondern auch die Profangeschichte ihrer Völker und deren Ort in der allgemeinen Geistes- und Kulturgeschichte zu durchleuchten haben“ (S. 67). Deutlich wird auch, dass viele Ostkirchenkundler bei ihrer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Orthodoxie auch die eigenen konfessionellen Prägungen hinterfragten. Diese kritische persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Konfession konnte in Einzelfällen bis zur Konversion führen, wie die Biographien von Susanne Hausamann (1931–2021) und Karl Christian Felmy (1938–2023) zeigen. Weitere vorgestellte Ostkirchenkundler in dem lesenswerten Band zur Fachgeschichte sind u. a. Hildegard Schaeder, Konard Onasch, Hans-Joachim Schulz, Ernst-Christoph Suttner und Reinhard Thöle.
Stefan Kube