
Buchbesprechungen
RGOW 1/2025
Vier Buchbesprechungen zu
Wassili Grossmann: Armenische Reise
Oliver Jens Schmitt: Machtkirche zwischen Diktatur und Demokratie
Stanislau Paulau: Das andere Christentum
Max Hartmann: Ein Schrei der Verzweiflung
Wassili Grossman
Armenische Reise
Berlin: claassen 2024, 206 S.
ISBN 978-3-546-10093-9. € 24.–; CHF 34.90.
Wassili Grossman (1905–1964) stammte aus einer jüdischen Familie im ukrainischen Berditschew und bezeichnete sich als russischen Schriftsteller. Aufgrund seines Werks als Kriegsreporter und großer Romane wie „Stalingrad“ (1946) und „Leben und Schicksal“ (1959), der erst 1988 gedruckt werden konnte, wird er bisweilen mit Tolstoj verglichen. 1961 erhielt er den Auftrag, eine Interlinearübersetzung eines Romans des armenischen Autors Hrachja Kotschar zu überarbeiten, und unternahm hierzu eine Armenienreise, die er selbst literarisch verarbeitete: „Nehmt diese Zeilen entgegen von einem Übersetzer aus dem Armenischen, der kein Armenisch kann“ (S. 176).
Die Übersetzerin Christiane Körner erläutert in ihrem erhellenden Nachwort den Gesamtkontext. Auch die Lektüre ihrer Anmerkungen ist lohnenswert, da sie auf wichtige Personen der armenischen Geschichte und Kunst und auf intertextuelle Bezüge aufmerksam machen.
Das Werk konnte zu Grossmans Lebzeiten nicht veröffentlicht werden, weil er sich weigerte, eine ihm wichtige Passage zu streichen: „Bis zum Boden verneige ich mich vor den armenischen Bauern, die in einem Gebirgsdorf während einer Hochzeitsfeier öffentlich von den Qualen des jüdischen Volkes zur Zeit des faschistischen, des hitlerischen Wütens sprachen“ (S. 174). Er kritisiert den offiziellen sowjetischen Antisemitismus, die „idiotischen und frappierend anzüglichen Witze über Armenier in der russischen Marktbude“ (S. 25) wie auch mehrfach den türkischen Massenmord an den Armeniern. Grossman, dessen jüdische Mutter beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 ermordet wurde, ist beeindruckt davon, dass an der Hochzeit alle „darüber [sprachen], dass Juden und Armenier einander durch vergossenes Blut und Leiden nähergekommen seien“ (S. 173).
Grossman bringt einen universalen Humanismus zum Ausdruck, der Nationalismus kritisiert, doch wurde ihm, dessen unbewusstes russisch-imperiales Denkmuster sich laut der Übersetzerin ab und an entlarvt (S. 188), klar, „dass für diese übermäßige Wertschätzung des armenischen Nationalcharakters [bei den Armeniern selbst] vor allem diejenigen verantwortlich sind, die im Laufe von Jahrhunderten die Würde der Armenier mit Füßen getreten haben. […] Nationale Freiheit kann nur in einer Form triumphieren – als Triumph menschlicher Freiheit“ (S. 31–32). In der steinernen Gebirgs- und Gerölllandschaft Armeniens sieht er die vierte Dimension der Welt: „die der Zeit. Völkerwanderungen, Heidentum, Marx’ und Lenins Ideen, der Grimm des Sowjetstaates waren im Stein ausgedrückt, in den Basaltmauern der Kirchen, in den Grabsteinen, […] in den steinernen Mauern der Besserungsarbeitslager“ (S. 152).
Regula M. Zwahlen
Oliver Jens Schmitt
Machtkirche zwischen Diktatur und Demokratie
Eine Geschichte der Rumänischen Orthodoxen Kirche (1918–2023)
(= Südosteuropäische Arbeiten, Bd. 170)
Berlin/Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 349 S.
ISBN 978-3-11-133951-1. € 49.95; CHF 69.90.
Die Rumänische Orthodoxe Kirche (RumOK) ist die größte orthodoxe Kirche in der Europäischen Union, doch gibt es bisher kaum kritische Gesamtdarstellungen zu ihrer Rolle im Zusammenspiel mit Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Vor diesem Hintergrund unternimmt der Wiener Osteuropahistoriker Oliver Jens Schmitt mit dieser Monographie den Versuch, „Grundfragen der Geschichte der orthodoxen Kirche im rumänischen Staat aufzuwerfen und sie dort zu beantworten, wo der Forschungsstand dies erlaubt“ (S. 23). Dass bis heute viele Aspekte noch kaum erforscht sind, insbesondere zum Agieren der Kirche während der Herrschaftszeit des Diktators Nicolae Ceauşecu, liegt auch daran, dass die Kirchenleitung die kirchlichen Archive für Forscher unter Verschluss hält, die kein Nahverhältnis zu ihr haben.
Schmitt nimmt die Geschichte der Kirche und wichtiger kirchlicher Akteure von der Gründung des modernen großrumänischen Staats 1918 und dessen fragilen parlamentarischen Systems, über die drei Diktaturen Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre (Königsdiktatur, Diktatur der Legionärsbewegung und Militärdiktatur unter Antonescu) und die kommunistische Diktatur bis in die postkommunistische Zeit nach 1989 in den Blick. Es endet mit den Positionierungen kirchlicher Akteure zur Covid-Pandemie und den zurückhaltenden Äußerungen der RumOK zum ukrainischen Kirchenkonflikt. Grundlegend ist dabei die Überlegung, dass sich die Geschichte der Kirche nicht isoliert vom politischen und sozialen Kontext verstehen lässt, sondern im Spannungsfeld und Wechselspiel mit staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen verortet werden muss.
Diese wechselseitigen Beeinflussungen verbieten auch einfache Kategorisierungen, wie Schmitt an der politischen Position der RumOK nach 1989 aufzeigt: „Die orthodoxe Kirche ist in einem offiziell überkonfessionellen Staat faktisch die Staatskirche, die aber vom Staat viel weniger kontrolliert wird als in sämtlichen Systemen vor 1989“ (S. 268). Das Wohlwollen des Staates gegenüber der Kirche lässt sich dabei an der massiven Unterstützung der RumOK mit Steuergeldern ablesen, während unter Patriarch Daniel gleichzeitig eine mediale Modernisierung und Kommerzialisierung der Kirche stattgefunden hat. Das lesenswerte und zu weiteren Forschungen anregende Buch endet mit einer Reihe entscheidender Fragen, mit denen sich auch die rumänische Gesellschaft konfrontiert sieht: ob die Kirche einen konstruktiven Zugang zum demokratischen System und zum euro-atlantischen Rahmen findet und sich somit auch selbstkritisch mit dem Fortbestehen legionärer Traditionen auseinandersetzt, oder ob „sie latent oder offen Vorbehalte gegen den Westen schürt“ (S. 300).
Stefan Kube
Stanislau Paulau
Das andere Christentum
Zur transkonfessionellen Verflechtungsgeschichte von äthiopischer Orthodoxie und europäischem Protestantismus
(= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 262)
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 270 S.
ISBN: 978-3-525-33604-5. € 99.–; CHF 126.–; open access
Dass der Besuch eines äthiopischen Mönchs bei Martin Luther und Philipp Melanchthon am 31. Mai 1534 in Wittenberg nicht nur eine in Vergessenheit geratene „theologiegeschichtliche Kuriosität“ ist, sondern „äthiopisch-orthodoxe Theologie auf protestantisches Denken, und nicht etwa umgekehrt, wirkte“ (S. 212), zeigt Stanislau Paulau in seiner preisgekrönten Dissertation. Mit der „transkonfessionellen Verflechtungsgeschichte“ stellt er die „Selbstverständlichkeit der Kategorie ‚Konfession‘ infrage“ und macht sie als „Produkte multilateraler Beziehungen“ zum Gegenstand historischer Reflexion (S. 18). Der Autor präsentiert seine quellennahe Forschung anhand von vier Teilaspekten dieser histoire croisée von der Frühen Neuzeit bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
Zunächst wird dargestellt, wie es – als Folge direkter Beziehungen Äthiopiens mit Portugal (S. 31) – zur Begegnung der äthiopischen Mönche mit den europäischen Reformatoren kam, und welche Themenfelder (Trinität, Abendmahl, Ekklesiologie, Eschatologie) in diesem proto-ökumenischen Dialog zur Sprache kamen, der von einem – wechselseitigen – „großen Informationsbedürfnis im Hinblick auf die Existenz von Christen in den fernen sagenumwobenen Ländern“ zeugt (S. 34). Vor dem Hintergrund missionarischer Aktivitäten des Jesuitenordens, der die Äthiopische Orthodoxe Kirche der römischen Kirche angliedern wollte, ergab sich auch das gemeinsame Feindbild der katholischen Kirche (S. 40). Die Vorstellung, dass sich äthiopische Orthodoxie und europäischer Protestantismus besonders nahestehen, blieb lange erhalten, wie das Kapitel zu „Transfer und Transformation des äthiopisch-orthodoxen theologischen Wissens (1540–1791)“ zeigt. Erst häufigere unmittelbare Kontakte ab dem frühen 19. Jahrhundert, etwa im Rahmen der evangelischen Äthiopien-Mission, führten zur Betonung des „Anderen“, wobei das äthiopische Christentum als „Inbegriff der [jüdischen] Werkgerechtigkeit“ (S. 131), die europäischen Missionare als „Feinde Marias“ wahrgenommen wurden (S. 139 f.). Das fünfte Kapitel vergleicht schließlich die politischen Theologien der äthiopischen und deutschen Kaiser zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die das gemeinsam Christliche in Abgrenzung gegenüber dem Islam betonten (S. 161). Beleuchtet wird auch die Rolle Adolf von Harnacks für die deutsche auswärtige Kulturpolitik, das negative Bild des östlichen Christentums und die Erschließung urchristlicher Handschriften in äthiopischen Städten. Seine Hauptfrage: „Was ist Christentum? Was ist es gewesen, was ist es geworden?“ (S. 172) ist in Anwendung auf die christlichen Konfessionen auch die Frage, der Paulau mit dieser äußerst beeindruckenden und spannend zu lesenden Studie nachgeht.
Regula M. Zwahlen
Max Hartmann
Ein Schrei der Verzweiflung
Aquarelle von Danylo Movchan zu Russlands Krieg in der Ukraine
(= Ukrainian Voices, vol. 69)
Stuttgart: ibidem-Verlag 2024, 202 S.
ISBN 978-3-8382-2011-6. € 34.95; CHF 30.–.
Der ukrainische Ikonenmaler Danylo Movchan begann kurz nach dem Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine 2022 Aquarelle zu malen. Auf Facebook veröffentlichte er sie als loses Tagebuch zum Krieg, worauf er schon bald zahlreiche Reaktionen, auch aus dem Ausland, erhielt. Das Malen helfe ihm am besten, mit der aktuellen Situation in der Ukraine umzugehen, sagt er. Zugleich könne er in seinen Werken „der Welt auch etwas davon zeigen, wie schrecklich es ist, was gerade bei uns geschieht“ (S. 48). Der Autor des Buchs kannte und schätzte schon die früheren Arbeiten Movchans und war von den neuen Arbeiten zum Krieg tief beeindruckt. Um zu einer weiteren Verbreitung der Arbeiten beizutragen, veröffentlichte er in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler Ende 2024 das Buch „Ein Schrei der Verzweiflung“.
Neben den zahlreichen abgebildeten Aquarellen bildet eine Kompilation aus mehreren ausführlichen Gesprächen zwischen Max Hartmann, Danylo Movchan, dessen Ehefrau Yaryna Movchan und der Übersetzerin Solomia Horyn ein wichtiges Element des Buchs. Dabei geht es einerseits um die Geschichte der Ukraine, andererseits um den Werdegang des Künstlers sowie um die jüngsten Ereignisse in der Ukraine und deren Verarbeitung in den Aquarellen. Zu einer Reihe der präsentierten Aquarelle teilt Hartmann im Austausch mit Movchan seine Gedanken und Interpretationsansätze mit. Über seine Bilder sprach der Maler auch mit dem Lviver Architekten, Urbanisten, Politiker und Blogger Julian Chaplinsky. Dieser thematisiert auf YouTube Fragen von Stadtplanung, Architektur, Kunst und Urbanismus in ukrainischen Städten. 2023 sprach er für seinen Vlog mit Movchan über dessen Aquarelle zum Krieg, das Gespräch wurde für das Buch leicht gekürzt übersetzt. Damals erklärte Movchan, dass er sich für Aquarellmalen als Verfahren entschieden habe, weil es weniger Zeit brauche. Dabei entstehe das Bild „wie von selbst“ im Prozess des Malens. Die Werke seien dabei „eine Möglichkeit, über alle diese Gefühle, die in mir sind, in meiner Kunst eine Sprache zu finden“ (S. 119). Zusätzlich werden einige Bilder von Gedichten des polnischen Dichters Dariusz Pado begleitet, der ebenfalls online auf die Werke Movchans aufmerksam wurde.
Eigens für das Buch führte auch der Autor Max Hartmann ein Gespräch mit Chaplinsky über die Situation in der Ukraine, aber auch über Russland, die Stimmung im Westen und die mangelnde Unterstützung des Westens für die Ukraine. Dabei befürchtet Chaplinsky für die Zukunft Schlimmes, insbesondere hinsichtlich der Wirtschaft und des Wiederaufbaus angesichts der enormen Zerstörungen und zahlreichen Geflüchteten, bis hin zu einer militärischen Niederlage der Ukraine.
Natalija Zenger