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Buchbesprechungen

RGOW 10/2025
Stefan Kube, Regula M. Zwahlen, Natalija Zenger

Vier Buchbesprechungen zu:

Martin Löffelholz u.a. (Hg.): Krieg der Narrative. Russland, die Ukraine und der Westen;
Nadia Zasanka u.a. (eds.): Digital Warfare;
Susanne Spahn: Das Russland-Netzwerk;
Julian Hans: Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen


Martin Löffelholz, Kathrin Schleicher, Christian F. Trippe (Hg.)
Krieg der Narrative. Russland, die Ukraine und der Westen
Berlin/Boston: de Gruyter 2024, 273 S.
ISBN 978-3-11-133129-4. € 39.95; CHF 55.90.

Im digitalen Zeitalter werden Kommunikation und Medien zu einem „wesentlichen Bestandteil der Kriegsführung selbst“. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich von dem ersten „TikTok und Telegram-Krieg“ sprechen, wie die Herausgeber dieses Sammelbands betonen, da beispielsweise Smartphone-Videos von der Front in Echtzeit in den sozialen Medien geteilt werden (S. 6 f.). Mit der medialen Konstruktion und Aufbereitung des Kriegs setzen sich 27 Expert:innen aus Wissenschaft und Journalismus in 17 Beiträgen auseinander und beleuchten dabei das Handeln von staatlichen Akteuren, Journalist:innen sowie die Reaktion des Publikums auf die Berichterstattung.

Im ersten Teil beschäftigen sich sieben Beiträge mit der strategischen Kommunikation im russisch-ukrainischen Krieg, wobei sie unterschiedliche Akteure in den Blick nehmen: die russische Herrschaftselite, das russische Staatsfernsehen, die russischen Militärblogger, die ukrainische Regierung, EU und NATO sowie die deutsche Bundesregierung. Angesichts des direkten Zugriffs der russischen Machtelite auf fast alle Kanäle der Massenkommunikation und des massiven Einsatzes von Fälschungen, Täuschungen und Lügen als Kommunikationsstrategie plädieren Florian Toepfl und Arista Beseler für eine klarere Abgrenzung in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung „zwischen öffentlicher Kommunikation in demokratischen und autokratischen Systemen“ (S. 43).

Die sieben Beiträge des zweiten Teils widmen sich den Herausforderungen für den Journalismus, dabei geht es u. a. um Fragen der Faktenprüfung, der Auswahl von Bildern, und wie neue Technologien wie künstliche Intelligenz und virtuelle Realität dem Kriegsjournalismus neue Wege eröffnen können. Dabei wird deutlich, dass selbst erfahrene Faktenchecker im Nachhinein zugeben müssen, „die russische Desinformation, die seit spätestens 2014 international gestreut wird, unterschätzt und relativiert zu haben“ (S. 188).

Die fünf Beiträge des dritten Teils gehen auf die Medienrezeption des deutschen Publikums sowie auf die psycho-sozialen Folgen des Kriegs für die Bevölkerungen in der Ukraine und Russland ein. Mykola Berdnyk und Denis Trubetskoy konstatieren dabei, dass in der Ukraine die große Trauer erst nach dem Krieg beginnen wird, wenn die tatsächlichen Verlustzahlen bekannt werden (S. 229). Zum Abschluss formuliert Marlis Prinzig einige Unbehagen an der Ukraine-Berichterstattung und warnt davor, journalistische Standards aufzugeben: „Solidarität auf Prinzipienebene und kritische Beobachtung stehen nicht im Widerspruch zueinander, journalistische Professionalität und Weglassen relevanter Informationen oder gar die Aufforderung zum Regelbruch hingegen schon“ (S. 256).
Stefan Kube

Nadia Zasanska, Nadiya Ivanenko (eds.)
Digital Warfare. Media and Technologies in the Russo-Ukrainian War
Bielefeld: transcript Verlag 2025, 366 S.
ISBN: 978-3-8376-7521-4. € 49.–; CHF 67.90; open access

„Der Dritte Weltkrieg ist ein Guerilla-Informationskrieg ohne Trennung zwischen militärischer und ziviler Partizipation“ (S. 24) – diese Prophezeiung von Marshall McLuhan aus dem Jahr 1970 zitiert Roman Horbyk in der Einführung zu diesem Sammelband, der das Phänomen der „digitalen Kriegsführung“ am Beispiel des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine behandelt. Dahinter steht die Idee, dass im digitalen Zeitalter auch die Zivilbevölkerung, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, vermehrt aktiv am Krieg teilnimmt (S. 25), z. B. durch Spenden, als Influencer oder Teilnehmer an Debatten in den (sozialen) Medien. Außer Frage steht, dass „der russisch-ukrainische Krieg zurzeit der am häufigsten aufgezeichnete, medial übertragene und mediatisierte Krieg der Geschichte ist“ (S. 30). Das bedeutet jedoch keine Aufhebung der klassischen Kriegsführung – im Gegenteil: provozierte Blackouts, Überwachungskameras und technische Kontrolle von Kommunikationsflüssen demonstrieren, dass „der physische Raum weit davon entfernt ist, vom virtuellen Raum verdrängt zu werden“ (S. 38).

Mit diesen Zusammenhängen setzte sich im Oktober 2023 ein Workshop am Interdisziplinären Zentrum für Europa-Studien der Universität Flensburg auseinander, dem die Beiträge des Bandes entstammen. Im ersten sozialtheoretischen Teil geht es um die Mobilisierung in der ukrainischen Diaspora für humanitäre Aktionen in der Heimat, strategische Kommunikation im Krieg und vom Krieg beeinflusste sprachliche Innovationen im Englischen. Der zweite Teil konzentriert sich auf das Thema Kriegsrealität und Desinformation, der dritte auf Erinnerung und Resilienzbildung – z. B. durch „strategischen Humor“ im Kapitel über „When War Cats Go Viral“.

Der vierte Teil beinhaltet Beiträge zum Thema „Religion, Medien und Krieg“: zum Versuch der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und insbesondere der „Union orthodoxer Journalisten“, ihre Abgrenzung von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) in digitalen Medien der Ukraine zu kommunizieren; zur digitalen Präsenz des russisch-orthodoxen Weltkonzils des Russischen Volks, wo sich der Wandel von der Förderung russischer Hegemonie im postsowjetischen Raum mit friedlichen Mitteln zur Unterstützung russischer Dominanz mit militärischen Mitteln nachvollziehen lässt (S. 297). Der Beitrag zur digitalen religiösen Kriegsführung, insbesondere des TV-Kanals Spas und des Telegram-Kontos der militanten orthodoxen Organisation Sorok Sorokov, zeigt die bedeutende Rolle der ROK als zentrale Mitproduzentin der Staatsideologie und Unterstützerin des russischen Angriffskriegs (S. 317).
Regula M. Zwahlen

Susanne Spahn
Das Russland-Netzwerk
Wie ich zur Russlandversteherin wurde und warum ich es heute nicht mehr sein kann
Frankfurt/M.: Frankfurter Allgemeine Buch 2024, 288 S.
ISBN 978-3-96251-204-0. € 24.–; CHF 37.90.

Am 24.Februar 2022 überfällt die russische Armee die Ukraine mit dem Ziel, das Land der russischen Herrschaft zu unterwerfen. In einer Umfrage vom November 2022 stimmen in Deutschland jedoch 40 Prozent der Befragten der Aussage zu, der russische Angriffskrieg sei eine „alternativlose Reaktion Russlands auf die Provokation der Nato“ (S. 10) gewesen. Der Westen sei also schuld. Die detailgenaue Studie von Susanne Spahn klärt darüber auf, wie es zu dieser Verdrehung der Tatsachen hat kommen können, und wie man dem entgegenwirken sollte. Zu den wichtigen Ursachen gehört das „unrealistisch positive Russlandbild“ in großen Teilen der deutschen Gesellschaft (S. 230). Hinzu kommt die lange Tradition einer auf Partnerschaft mit Russland ausgerichteten deutschen Außen- und Außenwirtschaftspolitik, die in Russland einen ganz normalen Staat sah, zumindest aber einen, der durch „Wandel durch Annäherung“ auf dem Weg dahin war. Das Verständnis für Russland wurde durch die guten Geschäfte mit Russland wesentlich befeuert. Die Warnung vor einer aggressiven, neo-imperialistischen Weltmacht galt in Deutschland dagegen als polnische und baltische Besessenheit.

Die Autorin zeigt, wie Russland seit Beginn des hybriden Krieges gegen die Ukraine 2014 ein umfassendes Netzwerk zur Desinformation und Manipulation in Deutschland aufbaute, zu dem Aktivisten vom extrem rechten bis zum extrem linken Spektrum gehören, und das mit seinen „alternativen“ Narrativen ein Millionenpublikum erreichte. Das Netzwerk lebte vom offenen und verdeckten Sponsoring durch den russischen Staat. Neben Akteuren aus Parteien und Einzelpersonen traten zahlreiche kleinere und größere pro-russische Organisationen, wie die Freien Sachsen, die den Krieg gegen die Ukraine als „notwendige Verteidigung“ (S. 206) Russlands rechtfertigten.

Leitmedium der russischen Desinformation war von Anfang an und ist bis heute RT DE (Russia Today Deutsch) mit seinem TV-Programm und zahlreichen Auslegern in der Medienwelt. Eigentlich ist RT DE in der EU sanktioniert und in Deutschland wegen nachweislich falscher Tatsachendarstellung gerichtlich verboten. Aber das Verbot wird nicht durchgesetzt. Fehlt der politische Wille?

Die Autorin stellt ihrer Untersuchung des Medienkrieges eine autobiographische Skizze voran, in der sie ihren Weg von einer romantischen Russlandfaszination als Studentin bis zu den Untiefen der Arbeit als Korrespondentin erzählt. Dabei erfährt der Leser viel über den russischen Alltag und die Mentalität in postsowjetischer Zeit. Dieses eindrucksvolle Buch ist ein wichtiges Werkzeug der Aufklärung!
Gerhard Simon, Pulheim

Julian Hans
Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen
München: C. H. Beck 2024, 253 S.
ISBN 978-3-406-80886-9. € 18.–; CHF 28.90.

Nicht erst seit dem Beginn der russischen Großinvasion in die Ukraine werden das immer autoritärere System des russischen Präsidenten Vladimir Putin sowie seine Person im Westen ausgiebig analysiert. Zu kurz kam und kommt dabei oft eine eingehendere Beschäftigung mit der russischen Gesellschaft. Diese sei noch schwerer zu fassen als ihr Präsident, findet Julian Hans, früherer langjähriger Russland-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Mit Blick auf die seit langem fehlenden öffentlichen Debatten in Russland und das seit Kriegsbeginn immer totalitärere System bringen seiner Ansicht Bevölkerungsumfragen nur noch wenig. Deshalb versucht Hans einen anderen Ansatz: Er analysiert fünf Kriminalfälle, die in deutschsprachigen Medien wenig bis keine Aufmerksamkeit erhielten, in Russland die Öffentlichkeit jedoch intensiv beschäftigt haben. Diese Fälle „geben einen Einblick in eine Wirklichkeit, die durch den Fokus auf die Politik zwangsläufig ausgeblendet wird […], eine Wirklichkeit, die das Bewusstsein der Mehrheit in der Regel stärker bewegt als ein politischer Prozess gegen Vertreter der Opposition“ (S. 12). Zu den behandelten Fällen hätten in Russland viele Menschen eine Meinung und äußerten sie auch. Aus den Reaktionen auf die Verbrechen werden „grundlegende Phänomene und Entwicklungen der russischen Gesellschaft“ deutlich, die ein tieferes Verständnis ermöglichen (S. 13).

Am Fall von drei Schwestern im Teenageralter, die 2018 ihren tyrannischen Vater ermordeten, spiegelt sich beispielsweise die Debatte um die sog. traditionellen Werte wider, die von der russischen Regierung seit Jahren beschworen werden. Im Kern geht es um dabei um die Frage, ob der Wert der Familie wichtiger ist als der Schutz von Individuen vor Gewalt und Missbrauch. Einerseits zeigten viele Russen Verständnis für die Tat der Schwestern, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg sahen, und kritisierten, dass der Täter sich hinter „Traditionen“ versteckte. Andererseits verurteilten viele Menschen den Mord entschieden, weil sich die Mädchen ihrem Vater unterzuordnen gehabt hätten.

Die anderen Fälle betreffen eine Bande, die jahrzehntelang eine Kleinstadt terrorisierte, eine Gruppe Jugendlicher, die Polizei und Staat mit Waffengewalt herausforderten, eine Künstlerin, die im besetzten Donezk gefangengenommen und gefoltert wurde, sowie einen jungen Mann, der den Fall seines repressierten Urgroßvaters neu aufrollte. Das Buch zeigt eindrücklich die große Widersprüchlichkeit des Lebens in Russland, mit dem seine Bewohner täglich zurechtkommen müssen. Es vermittelt einen Eindruck, woher die Gewalt, Korruption und Anpassung in der russischen Gesellschaft kommen, die überwunden werden müssten, um tatsächlich ein anderes (Nachkriegs-)Russland zu ermöglichen.
Natalija Zenger

Bild: Shutterstock.com

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