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Smartphones sind für die ukrainischen Soldaten an der Front unverzichtbar (Foto: Shutterstock)

Krieg in der Hosentasche. Wie Smartphones Konflikte für immer verändern

RGOW 10/2025
Roman Horbyk

Die ukrainische Armee war schlecht für einen Krieg gegen Russland gerüstet, insbesondere was die Kommunikation betrifft. Schnell wurden daher Mobiltelefone zu einem wichtigen Instrument der Soldatinnen und Soldaten an der Front. In vielen Bereichen zeigt sich, welche wichtige Rolle die Kommunikationsinfrastruktur und Medienkompetenz für eine Gesellschaft im Krieg spielen. Die ukrainische Gesellschaft ist dabei kreative Wege gegangen und hat sich enorm weiterentwickelt.

„Die Ukraine existiert nicht mehr. Es gibt keine ukrainischen Städte mehr. Kyjiw, Dnipro, Charkiw sind alle dem Erdboden gleichgemacht worden.“ Das hörten Ukrainer in Mariupol von den russischen Besatzern, als ihre Stadt nach einer dramatischen Belagerung und heldenhafter 125-tägiger Verteidigung erobert wurde. Vielleicht fragen Sie sich, ob die Einwohner von Mariupol nicht einfach zu ihren Smartphones greifen konnten, um die tatsächliche Situation vor Ort zu überprüfen?

Das Problem ist, dass sie dies nicht konnten, weil die Russen die Mobilfunkmasten in und um die Stadt zerstört hatten und das Signal derjenigen, die außerhalb ihrer Reichweite lagen, störten. Die Besatzer kontrollierten nun auch das Internet und die Fernsehnetze, was insgesamt zu einer vollständigen Informationssperre vor Ort führte. Es mag unvorstellbar erscheinen, dass eine moderne Stadt in unserem Zeitalter der extremen Vernetzung von der Außenwelt abgeschnitten werden kann – doch genau das ist passiert. Auf dieser Grundlage mussten Ukrainer schwerwiegende, lebensverändernde Entscheidungen treffen, wie beispielsweise die Flucht aus Mariupol auf die annektierte Krim oder nach Russland, entgegen ihren ursprünglichen Wünschen, in die Ukraine zu fliehen, denn wie kann man an einen Ort gehen, der angeblich nicht mehr existiert? Erst viel später erfuhren sie, dass sie angelogen worden waren, und dass die Ukraine weiterhin tapfer Widerstand leistete und das Alltagsleben im Kernland trotz der Zerstörung möglichst unverändert aufrechterhielt, dass Kyjiw, Dnipro und Charkiw zwar erschüttert, aber keineswegs ausgelöscht waren.

Diese Situation erinnert an ein anschauliches Beispiel, mit dem Walter Lippmann vor über einem Jahrhundert sein klassisches Buch „Die öffentliche Meinung“ begann: Die Bewohner einer abgelegenen Insel, auf der Nachrichten nur mit einem seltenen Dampfer ankamen, wussten einen ganzen Monat nichts vom Ersten Weltkrieg, während Europa bereits im Blut watete. Was man über die Welt weiß, hängt nicht nur von den Informationsquellen ab, sondern auch von den Mitteln der Informationsvermittlung. Das Wissen ist nur so gut wie die Kommunikationskanäle, die in unserer Welt weitgehend aus der Netzinfrastruktur bestehen: Datenzentren und -austausch, Glasfaserkabel, Mobilfunksender, Router und schließlich die Empfangsgeräte – Smartphones, Tablets und Laptops. Ohne Technologie gibt es in der modernen Welt kein Überleben – aber auch kein Töten. Und so wurden Telefone zu einem Werkzeug des Tötens. Wir tragen sie in der Hosentasche, vielleicht benutzen Sie es sogar gerade, um diesen Artikel zu lesen – eine mächtige Waffe, die Sie, wenn auch unbeabsichtigt, zu einen Kämpfer verwandeln kann. Und zu einem Ziel.

Der Krieg der Kabel
Russland hat sich lange vor 2014 auf einen Angriff auf die Ukraine vorbereitet. Ukrainische Telekommunikationsfachleute, die ich für meine Forschung interviewte, erinnern sich, dass sie ab 2010 seltsame Anfragen von russischen Firmen erhielten, um gegen eine „Konsultationsgebühr“ die Kabel um die Krim zu kartografieren. Die Regierung wurde damals vom russlandnahen Möchtegern-Autokraten Viktor Janukovytsch angeführt, und nichts deutete auf die Möglichkeit einer russischen Invasion hin. Die meisten lehnten das Angebot ab, aber vielleicht nicht alle. Als Russland die Halbinsel annektierte, wurde sie schnell vom ukrainischen Kommunikationsnetz abgekoppelt und an das russische angeschlossen, teils aufgrund der vorangegangenen Kartografierung. Wenn heute mit Russland verbundene Schiffe ungehindert Kommunikationskabel in der Ost- und Nordsee kartografieren und manchmal zerstören, sind skandinavische und baltische Sicherheitsfachleute besorgt, was der ukrainische Präzedenzfall über die russischen Pläne für die Region aussagt.

Es geht um die Kontrolle über die Kommunikationsflüsse. Bereits 2014 schufen die russischen Paramilitärs von Donezk und Luhansk mit Unterstützung aus Russland ihre eigenen GSM-Netzbetreiber: Fenix in Donezk und Lugakom in Luhansk. Sie beschlagnahmten die Vermittlungsstellen von Kyivstar, dem größten ukrainischen Mobilfunkbetreiber, in Donezk und Luhansk und zwangen das Unternehmen zum Rückzug. Obwohl Kyivstar seine schwedische Ericsson-Ausrüstung deaktivierte, gelang es den Russen, sie mit Hackersoftware von Piratentorrents wiederzubeleben.

Bis zum nächsten Frühling wurden 270 neue Basisstationen errichtet und 40 km Glasfaserkabel verlegt, um den Donbass von den ukrainischen Netzen zu trennen und mit den russischen zu verbinden. Innerhalb von fünf Jahren stieg die Zahl der Stationen auf 575. Zwischen Donezk und Aksai in der Region Rostow wurden drei Hauptglasfaserkabel verlegt, die eine wichtige Verbindung zwischen Rostow, Luhansk und Donezk bildeten und als Erweiterung des russischen Netzes auf ukrainisches Gebiet an die Rostelekom- und RETN-Hauptleitungen angeschlossen wurden. Damit wurden nicht nur die geografischen und politischen Grenzen der Ukraine verletzt, sondern auch ihre kommunikativen und digitalen Grenzen. Schließlich gingen Internetdatenpakete aus Donezk nicht mehr direkt nach Kyjiw, sondern via Moskau: Imperien bestehen heute ebenso sehr aus Kabeln wie aus Straßen.[1]

Andere ukrainische Anbieter erlitten ein ähnliches Schicksal. Am widerstandsfähigsten war Vodafone: Selbst nach der Räumung seiner Schaltzentrale in Donezk versorgte es 2020 weiterhin ca. 350 000 Nutzer – die einzige Telekommunikationsverbindung zwischen der Ukraine und den besetzten Gebieten (und ihr einziger Roaming-Dienst). Diese verwobenen Daten-Herrschaftsgebiete schufen eine seltsame Landschaft: Von Russland unterstützte Anbieter kolonisierten den neuen Kommunikationsraum nach Moskaus Regeln, z. B. Passkontrollen für SIM-Karten, während Vodafone-SIM-Karten weiterhin wie in der Ukraine ganz normal in Supermärkten verkauft wurden. Seine Netzwerkqualität blieb allerdings auf dem Niveau von 2014 stecken, mit lückenhaftem GSM-Empfang und kaum mobilem Internet.

Der Rest der Ukraine machte unterdessen große Fortschritte. Vor dem Krieg gab es kaum 3G-Dienste, doch bis 2020 wurde 5G eingeführt, und vor der vollständigen Invasion gab es 32 000 Mobilfunkantennen. Die Internetinfrastruktur war bemerkenswert dezentralisiert: 1 000 Besitzer betrieben rund 5 000 Internetdienstanbieter, von nationalen Giganten bis zu winzigen Nachbarschaftsunternehmen, die alle durch ein Netz von Datenzentren und Glasfaseraustausch verbunden waren. 2019 belegte die Ukraine bei den Glasfaseranschlüssen für Privathaushalte den vierten Platz in Europa, übertroffen nur von Russland, Frankreich und Spanien. 60 Prozent der Ukrainer waren in den sozialen Medien aktiv, und die 40 Mio. Smartphones im Land entsprachen der Gesamtbevölkerung, inklusive Kleinkinder und 90-jährige.

„Hallo, wir haben gerade deinen Sohn getötet“
Als 2014 der Krieg mit Russlands Annexion der Krim und der begrenzten Invasion im Donbass begann, war die Ukraine militärisch völlig unvorbereitet. Sie konnte nur gerade 6 000 kampffähige Soldaten ins Feld schicken. Ihre Ausrüstung war sowjetisch, veraltet und schlecht gewartet. Waren die ukrainischen Streitkräfte schon schlecht für den Kampf ausgerüstet, so waren sie für die Kommunikation im Kampf noch schlechter ausgerüstet. Es fehlten sichere Kanäle für die Einsatzkoordination, und die verfügbaren und schwierig zu hackenden (wie Festnetzfeldtelefone) verlangten eine stabile Front. Mobilere Kanäle wie billige chinesische Funkgeräte konnten mühelos vom Feind abgehört werden.

Daher wurden die eigenen Mobiltelefone der Soldaten unverzichtbar. An der Front erfüllten sie vielseitige Zwecke. Einige unterscheiden sich nicht von den uns vertrauten – soziale Medien nutzen, lustige Videos machen, Filme schauen oder Spiele spielen an der Front, die in den „ruhigeren“ Jahren von 2016 bis 2021 als extrem „langweilig“ beschrieben wurde. Das Lesen von Nachrichten war ebenfalls wichtig, da es sich um ein Umfeld handelte, das stark von Gerüchten und feindlichen Täuschungsmanövern geprägt war. Viele Soldaten wurden schnell gegenüber allem misstrauisch und vertrauten den offiziellen Quellen und den Medien nicht mehr. Oft kamen die vertrauenswürdigsten Informationen von einem Verwandten zuhause, einem Freund oder einem Kameraden aus einem nahen gelegenen Sektor. Das glich einige der Mängel der Mainstream-Medien aus, beförderte aber auch Gerüchte. Viele Soldaten erzählten mir, dass sie sich an der Front zum ersten Mal Desinformation und Medienkompetenz bewusst geworden seien. Aber egal ob von Medien oder Kumpeln, die Informationen erreichen die Soldaten via soziale Medien und Messenger auf dem Smartphone.

Die private und vertrauliche Kommunikation mit Nahestehenden hatte oberste Priorität, funktionierte jedoch ganz anders als im zivilen Leben. Telefonanrufe konnten die Soldaten erreichen, wenn sie unter Beschuss standen oder sich mitten in einem Feuergefecht befanden. Textnachrichten wurden an der Front, wo militärische Täuschungen und Abhörmaßnahmen an der Tagesordnung waren, misstrauisch betrachtet. Auch wenn das Telefon den Soldaten und ihren Familien half, in Kontakt zu bleiben, war es nicht die Erfahrung, die man sich basierend auf Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg oder Vietnam vorstellen würde. Damals waren die Soldaten weitgehend isoliert von ihren Angehörigen gewesen. Heute nehmen sie ihre Familie mit an die Front – in der Hosentasche. Und das kleine Gerät aus Glas, Metall und Kunststoff bringt den Krieg auf unmittelbarste Weise zu ihren Familien, wodurch Beziehungen bewahrt werden, aber auch neue Traumata entstehen.

Für unser übliches Spielzeug und unser Kommunikationszentrum gibt es auch sehr kriegsspezifische Verwendungen. In vielerlei Hinsicht hat das Mobiltelefon die Ukraine gerettet, indem es ihren Soldaten, die nicht einmal über genug Walkie-Talkies verfügten, eine Möglichkeit bot, schnell und sicher zu kommunizieren, gerade genug, um sich einen Vorteil gegenüber dem Feind zu verschaffen. Das Mobiltelefon wurde zur Navigation, zum Anzeigen von Karten, zum Planen von Minenfeldern und zum Ausführen von Apps für Artillerieberechnungen verwendet. Es half auch, Verhöre mit Kriegsgefangenen aufzuzeichnen, den Feind abzuhören und Angriffe zu planen. Schließlich wurde es oft zum Steuern von Drohnen verwendet, bei Aufklärungsmissionen oder vielleicht auch, um das Leben eines feindlichen Soldaten mit einem Granatenabwurf zu beenden, der durch eine Berührung des Smartphonebildschirms ausgelöst wurde. Auf diese Weise „kann ein Soldat es sowohl dazu benutzen, den Feind zu töten, als auch Minuten später mit seinen Kindern zu sprechen“, wie ich in einem Forschungsartikel geschrieben habe.[2]

„Ein moderner Soldat ist ohne Mobiltelefon nicht denkbar“, sagte mir einer meiner Interviewpartner. Es ist seine oder ihre Gefechtsstation. Aber es kann auch leicht zu einer Belastung werden, weil man abgehört oder zum Ziel eines Angriffs werden kann. Am schlimmsten war es, als YouTube 2014 voller Videos von getöteten und sterbenden ukrainischen Soldaten war, die von russischen Paramilitärs mit ihren Handys gefilmt und als demoralisierende Propaganda veröffentlicht wurden. Sie filmten und veröffentlichten auch die Misshandlung von Kriegsgefangenen; Aufnahmen von den Handys toter Soldaten wurden veröffentlicht. Am schrecklichsten waren die Videos, in denen die „Separatisten“ das Handy eines soeben von ihnen getöteten Soldaten nahmen und seine Eltern anriefen oder den Anruf nichtsahnender Eltern auf sein Telefon mit „Hallo, wir haben gerade deinen Sohn getötet“ entgegennahmen.

Do-it-yourself Widerstand gegen Desinformation
Bei den ersten russischen Einfällen war die Ukraine auf einen Informationskrieg weitgehend unvorbereitet. Das beliebteste soziale Netzwerk in der Ukraine war das russische Vkontakte, russische Medien unterlagen kaum Einschränkungen und waren in den von Russland beanspruchten Gebieten Krim und Donbass weitaus präsenter als die nationalen ukrainischen Medien. Medienkompetenz stand nicht gerade ganz oben auf der Prioritätenliste.

Während der Staat viel zu beschäftigt damit war, die Armee auf Vordermann zu bringen, blieb es den Bürgern überlassen, ihre Newsfeeds zu verteidigen. Und sie nahmen diese Aufgabe an: 2014 kam es zu einem starken Anstieg bei verschiedenen Basis- und Nichtregierungsinitiativen. Noch bevor die Annexion der Krim endgültig war, gründete eine Gruppe Lehrer und Studierende an der Mohyla Schule für Journalismus StopFake, das sich zum führenden Faktenprüfer Osteuropas entwickeln sollte.[3] Die Plattform entlarvte Tausende russischer Fake News und staatliche Medienpropaganda und arbeitete zeitweise mit Facebook zusammen, um die Verbreitung von Desinformation einzudämmen. Auf kreative Weise wurde auch versucht, gefährdete Gruppen wie Soldaten und Zivilisten im Frontgebiet zu erreichen, die von Desinformation und Täuschung heimgesucht wurden. So entwickelte StopFake eine Zeitung, die qualitative Nachrichten und das Aufdecken von Fake News in abgelegenen Frontgebieten mit schlechter Internetverbindung bot, eine Initiative, die als ziemlich effektiv gilt.

Das Programm Lerne zu unterscheiden[4] wurde von mehreren Akteuren entwickelt, die sich mit Medienkompetenztrainings an 90 000 Ukrainer in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen wandten, darunter Lehrer, Ärztinnen, Bibliothekare und Polizistinnen. Bereits zuvor hatte eine Gruppe professioneller Historiker:innen LikBez gegründet[5], ein Netzwerk, das historische Fälschungen aufdeckt, die von Russland inzwischen global propagiert werden. Beispiele für solche Gruppen und Projekte gibt es Dutzende. 2022 verfügte die Ukraine über eine florierende, dezentrale und von unten organisierte Wissensindustrie von Do-it-yourself-Institutionen, die die Schwächen des Staats und des Mediensystems kompensierten.

Schließlich intensivierte auch der Staat seine Bemühungen. Er richtete Einrichtungen wie das Zentrum zur Bekämpfung von Desinformation ein, verbesserte die Gesetzgebung und unternahm entschlossene Schritte, um die russische Medienpräsenz schrittweise zurückzudrängen, so ein Verbot russischer sozialer Medien wie Vkontakte und Odnoklassniki. Auch wenn dieser Schritt in Europa kritisiert wurde, erwies er sich letztlich als effektiv: Obwohl via VPN noch immer auf die russischen Plattformen zugegriffen werden kann, wurde so die Nutzung umständlicher, so dass die Nutzerzahlen langsam auf ein vernachlässigbares Niveau sanken. Damit wurde Russland ein Schlüsselinstrument der Einflussnahme entzogen, was 2022 zur ukrainischen Widerstandsfähigkeit beitrug.

Dies sollte jedoch nicht als ein von oben verordnetes System staatlicher Zensur angesehen werden. Im Gegenteil war es das aufblühende Feld zivilgesellschaftlicher und informeller Organisationen, die eine Schlüsselrolle spielten und oft den noch immer schwachen Staat in Zugzwang brachten. Diese Teams bestanden häufig ausschließlich aus Freiwilligen oder sie erhielten ein wenig staatliche oder ausländische finanzielle Hilfe, wurden aber immer von Fachleuten oder Kreativen nach eigenem Ermessen geleitet. Der Einklang zwischen diesem System und der Regierungs- und legislativen Unterstützung und Durchsetzung machte es zu einem demokratischen und widerstandsfähigen Gegengewicht – etwas, das der Kreml nicht ertragen konnte.

Der mobile Ausfall
Am 24. Februar 2022 wusste die russische Armee: Um die Ukraine zu brechen, musste sie ihr Kommunikationssystem zerstören. Das versuchte sie auf verschiedene Arten zu erreichen. Zunächst durch die physische Zerstörung der Infrastruktur: Rechenzentren, Kabel und Sendestationen. Allein im ersten Jahr der Großinvasion verzeichnete Kyivstar 485 000 durch Kampfhandlungen verursachte Unfälle, 18 Prozent seiner Sendestationen waren beschädigt. In einigen Regionen wurde die Kommunikationshardware vollständig zerstört.

Begleitet wurde diese massive physische Zerstörung von Störsignalen. Die russische Armee ist seit langem in elektronischer Kriegsführung spezialisiert. Zu den neuen, von den Russen entwickelten Systemen zählen so ausgeklügelte Produkte wie Zhitel 1, Infauna und Leer 3.[6] Auf einen Lastwagen montiert, startet Leer 3 zwei bis drei Drohnen, die in der Lage sind, die die Mobilkommunikation in einem Gebiet von 6km2 unterbinden können und eine Flugreichweite von bis zu 100km haben. Leer 3 kann falsche, virtuelle Sendestationen erzeugen, die feindliche GSM-Anbieter imitieren und so Daten von allen Telefonen, die sich mit ihnen verbinden, abschöpfen. Es kann auch jedes dieser Telefone dazu bringen, Nachrichten und Malware zu verbreiten. Schließlich kann es die Koordinaten von Mobiltelefonen, deren Signal es abfängt, an eine Artillerieeinheit für einen gezielten Schlag weiterleiten. Bezeichnenderweise übte die russische Armee 2021, Städte nur mit SMS-Propaganda von einer Drohne zu erobern.[7]

In der Praxis führte die russische Doktrin des „mobilen Blackouts“ dazu, dass weite Teile der besetzten und umkämpften Gebiete von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Damit wurden vermutlich zwei Ziele verfolgt: Einerseits die militärische Kommunikation der Ukraine zu stören, die nach wie vor weitgehend auf Mobiltelefone angewiesen ist. Andererseits wurde sie zu einem praktischen Instrument des Völkermords. Die Welt hatte nur eine begrenzte Vorstellung vom Ausmaß der Zerstörung in Mariupol. Azov hatte nur ein Endgerät in seinem Hauptquartier, und die Überlebenden aus Mariupol, die ich interviewte, erzählten mir, wie sie auf das Dach eines Hochhauses kletterten, um einen Funken eines Signals aus einer entfernten Sendestation zu erwischen, wobei sie sogar unter Beschuss ihren Tod riskierten. Die Massaker in Butscha blieben bis zur Befreiung der Stadt völlig unbekannt. Alles nur weil kein Telefonanruf, keine Textnachricht, kein Foto oder Video aus den Gebieten unter dem Blackout hinausgelangen konnte. Nur schon die Schwierigkeit, in einer modernen Stadt ohne Smartphone zu überleben (man denke an Kartennavigation, Bankdienstleistungen, Zahlungen, Taxidienste, das Anfordern von Hilfe), unterstreicht die mobile Kommunikation in einem Konflikt als ein Menschenrecht. Aber wie kann dies gewährleistet werden, wenn sie zugleich als Waffe eingesetzt werden kann? Bisher gibt es noch keine wissenschaftliche Antwort auf diesen Widerspruch.

Ukrainische Schwärme gegen den russischen Bären
Für das ukrainische Militär war das alles weniger verheerend als erwartet, denn es reagierte wieder innovativ. Militärangehörige benutzen Smartphones mehr als zuvor, aber im Flugmodus und verbinden sie mit dem nächsten Starlink-Terminal. Das Satelliteninternet von Elon Musks SpaceX erwies sich als Rettungsanker für die Ukraine, allerdings hatte das seinen Preis. Berichten zufolge schaltete das Unternehmen die Terminals während der ukrainischen Offensive bei Charkiw 2022 ab und ließ nicht zu, sie zum Betrieb von Seedrohnen in der Nähe der Krim zu benutzen, was die staatliche Militäroperation effektiv behinderte. Das zeigt, wie sehr Armeen heute von Unternehmen abhängig sind, und wie es zu Interessenkonflikten kommen kann. SpaceX war unzufrieden damit, dass mit Starlink beschädigte Sendestationen betrieben und so ganze Dörfer verbunden wurden, und protestierte dagegen, dass seine „zivilen“ Geräte als Waffen eingesetzt würden. Aber sind Autos, Lastwagen und Spritzen, die vom Militär verbreitet genutzt werden, nicht auch „zivile“ Technologien?

Weit entfernt von Geschossen und Störsendern können sogar interne Faktoren das System herausfordern, so eine Überlastung der Kommunikationswege. In den ersten zwei Wochen der Invasion stieg der mobile Internetverkehr in einigen Gebieten um das 2,5-fache, insbesondere auf Telegram, was die Mobilfunkanbieter unter enormen Druck setzte. Die Russen attackierten die ukrainische Infrastruktur auch mit pausenlosen Cyberangriffen. Der erste wirklich bedeutende Sieg gelang ihnen jedoch erst nach zwei Kriegsjahren, als das gesamte Netzwerk von Kyivstar im Dezember 2023 massiv gestört wurde. Alle 24 Mio. Nutzer waren tagelang ohne Verbindung. Dadurch waren auch viele Dienste unterbrochen, was die Bedeutung der mobilen Kommunikation für moderne Gesellschaften unterstreicht. So waren Bankomaten und Zahlungsterminals, die Kyivstars Verbindungen nutzten, außer Betrieb. In mehreren Städten konnte nicht einmal die Straßenbeleuchtung eingeschaltet werden, sie musste manuell aktiviert werden.

Da es den Russen nicht gelang, die ukrainische Konnektivität dauerhaft mit Schockangriffen zu unterbrechen, kehrten sie zur Infiltration zurück. In den sozialen Medien, insbesondere auf TikTok, gibt es mittlerweile oft große Netzwerke von Konten, die koordiniert subversive Botschaften verbreiten. Sie zielen auf echte Probleme und versuchen, diese zu intensivieren und vergrößern, was typisch für die russische Propaganda ist. Das betrifft vor allem die Mobilisierung, die manchmal auf problematische Art durchgeführt wird, sowie verschiedene Ungleichheiten: zwischen denen, die kämpfen, und denen, die nicht kämpfen, denen, die im Land bleiben, und denen, die geflohen sind, sogar zwischen Männern und Frauen. Ihre enorme Reichweite verweist auf einen gewissen Erfolg. Regulierungen von Telegram und TikTok werden in der Ukraine häufig diskutiert; aber es scheint keine Lösung in Sicht.

Auch wenn sie über ihre Smartphones mit propagandistischen Kugeln bombardiert werden, sind Ukrainer – wie die meisten heutigen Mediennutzenden – keine passiven Opfer, sondern aktive Handelnde. Ford und Hoskins schreiben in „Radical War“: „Im 21. Jahrhundert ermöglicht es das Smartphone, Bevölkerungen zu mobilisieren, und ersetzt dabei das Gewehr als Waffe der Wahl für diejenigen, die sich massenhaft am Krieg beteiligen.“[8] Was die Widerstandsfähigkeit der Ukraine 2022 besonders stark machte und mehrheitlich noch immer stärkt, war die „Schwarmkommunikation“:[9] ein chaotisches Zusammenkommen über soziale Medien, Gruppenchats und andere Organisationsformen. Die ukrainischen Schwärme waren spontan, versammelten sich schnell und lösten sich wieder auf, waren führerlos, mehrheitlich horizontal und gingen alle möglichen Probleme an: von Spendenkampagnen bis zu koordinierten DDoS-Angriffen auf die russische Infrastruktur, von Informationen über feindliche Bewegungen bis zum Teilen von Memes, um die Moral zu stärken. Sie waren zugleich widerstandsfähig und kurzlebig, und obwohl einzelne Bewegungen chaotisch erschienen, hatten sie ein gemeinsames Ziel: den Sieg der Ukraine. Solange die Ukraine durch ein Netz von Wellen und Kabeln verbunden ist, wird ihre Widerstandsfähigkeit nicht verschwinden – dank der digitalen Kommunikationstechnologie, die es uns ermöglicht, den Krieg in unserer Hosentasche mitzuführen.

Anmerkungen: 
[1])    Limonier, Kevin u. a.: Mapping the Routes of Internet for Geopolitics. The Case of Eastern Ukraine. In: First Monday 26, 5 (2021), https://doi.org/10.5210/fm.v26i5.11700

[2])    Horbyk, Roman: “The War Phone”: Mobile Communication on the Frontline in Eastern Ukraine. In: Digital War 3 (2022), S. 9–24, https://doi.org/10.1057/s42984-022-00049-2

[3])    https://www.stopfake.org/en/main/

[4])    Haigh, Maria; Haigh Thomas; Matychak, Tetiana: Information Literacy vs. Fake News: The Case of Ukraine. In: Open Information Science 3, 1 (2019), S. 154–165, https://doi.org/10.1515/opis-2019-0011

[5])    https://likbez.org.ua/

[6])    Kjellén, Jonas: Russian Electronic Warfare. The Role of Electronic Warfare in the Russian Armed Forces, https://www.foi.se/en/foi/reports/report-summary.html?reportNo=FOI-R--4625--SE

[7])    https://defence-ua.com/news/armija_rf_pohizuvalas_navchalnim_zahoplennjam_mista_listivkami_ta_sms-3209.html

[8])    Ford, Matthew; Hoskins, Andrew: Radical War. Data, Attention and Control in the Twenty-First Century. London 2022.

[9])    Boyko, Kateryna; Horbyk, Roman: Swarm Communication in Totalising War: Media, Infrastructures, Actors and Practices in Ukraine during the 2022 Russian Invasion. In: Mortensen, Mette; Pantti, Mervi (eds.): Media and the War in Ukraine. New York 2023, S. 37–56.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Roman Horbyk, Dr., Dozent für Medienwissenschaft am Slawischen Seminar der Universität Zürich.

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