„In Nizäa wurde eine Grammatik des Glaubens formuliert“
RGOW 11/2025
Die Kirchen feiern in diesem Jahr den 1700. Jahrestag des Konzils von Nizäa sowie den 100. Jahrestag der Weltkirchenkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm. Im Interview geht Andrej Jeftić, Direktor der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“ des Ökumenischen Rats der Kirchen, auf die Bedeutung dieser beiden Jubiläen für die ökumenische Bewegung ein. Angesichts der innerorthodoxen Konflikte seien ökumenische Plattformen zudem als Begegnungsorte wichtig.
Regula M. Zwahlen und Stefan Kube im Gespräch mit Andrej Jeftić
Sie wurden 2022 zum Direktor der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“ (Faith and Order Commission) des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) ernannt. Was ist Ihre persönliche Motivation für das Engagement in der ökumenischen Bewegung?
Ich komme aus einer Region, in der ethnische Spannungen und Konflikte auch mit konfessionellen Spannungen und oft militärischen Konflikten verbunden sind. Es gibt verschiedene Ansätze, inwiefern die Konflikte im früheren Jugoslawien durch Religionen und religiöse Differenzen beeinflusst wurden. Sicher lässt sich jedoch sagen, dass Religion, die für die ethnischen und nationalen Identitäten in dieser Region eine wichtige Rolle spielt, in diese Konflikte involviert war. Ich bin in den 1990er Jahren im multikonfessionellen und multireligiösen Umfeld Bosnien-Herzegowinas und Serbiens aufgewachsen, und es war mir wichtig, als Orthodoxer mit meinen christlichen Nachbarn ins Gespräch zu kommen. Als Student nahm ich an ökumenischen Treffen mit anderen Theologiestudierenden aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien teil, die meistens römisch-katholisch oder protestantisch waren. Durch diese Begegnungen erweiterte sich mein Horizont für Glaubenserfahrungen in anderen Kirchen und christlichen Traditionen. Ein Meilenstein auf meinem eigenen ökumenischen Weg war die Teilnahme an der ÖRK-Vollversammlung in Busan 2013. Es war eine einmalige Gelegenheit für junge Menschen aus aller Welt, ihre Glaubenserfahrungen zu teilen, was für mich sehr wichtig war. Schließlich hatte auch meine Doktorarbeit über den schottischen protestantischen Theologen Thomas F. Torrance eine ökumenische Dimension, und ich bewunderte vor allem orthodoxe Theologen, die sich prominent für die Ökumene engagierten. Für mich ist es zentral, Theologie auf eine ökumenische Weise zu betreiben und nicht in konfessioneller Isolation. Die besondere Arbeit der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“ ist Teil meines ökumenischen Wegs, die mich aufgrund ihrer theologischen Perspektive am meisten interessiert. Insofern ist diese Berufung ein Segen und eine spannende Angelegenheit für mich.
In diesem Jahr feiern die Kirchen den 1700. Jahrestag des ersten ökumenischen Konzils von Nizäa (325). Das Bekenntnis von Nizäa gilt als eines der Fundamente des christlichen Glaubens. Welche Rolle spielt dieses Erbe in der ökumenischen Bewegung?
In der ökumenischen Bewegung und insbesondere im ÖRK spielt das Glaubensbekenntnis von Nizäa eine zentrale Rolle. Seit der Vollversammlung in Porto Allegre 2006, als die Regeln für die Aufnahme afrikanischer Kirchen festgelegt wurden, werden Kirchen, die Mitglieder des ÖRK werden wollen, nach ihrem Verhältnis zu diesem Bekenntnis gefragt. Glaube und Kirchenverfassung hat dem Bekenntnis von Nizäa besondere Aufmerksamkeit gewidmet. In den 1980er Jahren gab es einen langen Studienprozess, der zu dem Dokument „Gemeinsam den einen Glauben bekennen“ führte, das die Bedeutung und Relevanz des Bekenntnisses für die Christen von heute beschreibt.[1] Das Ziel war die Aufnahme des Bekenntnisses als DAS Glaubensbekenntnis in der Verfassung und Satzung des ÖRK, was aber nie geschah.
Zur 1700-Jahrfeier war Glaube und Kirchenverfassung an zahlreichen Veranstaltungen zur Bedeutung von Nizäa beteiligt. Solche Gespräche zeigen oft, dass für eine Reihe von Kirchen das Bekenntnis von Nizäa eine wichtige und fast selbstverständliche Säule und Erklärung des Glaubens ist, wie z. B. für die orthodoxe oder römisch-katholische Kirche, aber auch einige protestantische und anglikanische Kirchen. Es gibt jedoch auch Kirchen, in denen das Glaubensbekenntnis nicht so häufig verwendet wird, die es nicht gut kennen oder sich als sog. bekenntnislose Kirchen verstehen. Hinzu kommen verschiedene Lesarten der Geschichte und unterschiedliche Auffassungen der ökumenischen Konzile – Nizäa hat also gleichzeitig ein Potenzial zur Vereinigung, aber auch zur Spaltung.
Meiner Ansicht ist das Konzil von Nizäa viel umfassender als das Bekenntnis, da es die Ideen der Konziliarität und Synodalität als Prozesse der Entscheidungsfindung beinhaltet. Das Konzil befasste sich auch mit dem Osterdatum, das ein weiteres wichtiges Thema bezüglich der Einheit der Kirchen ist. Glaube und Kirchenverfassung hat sich in diesem Jahr besonders damit befasst und ein Dokument dazu publiziert.[2] Schließlich gibt es über das Konzil hinaus noch etwas Substantielleres, was man als den „Glauben von Nizäa“ bezeichnen kann: den Glauben an Jesus Christus als unser Gott und Herr und an die Trinität, den Dreieinen Gott. Ich glaube, dass alle Christen weltweit etwas Essentielles teilen, was man als „Grammatik des Glaubens“ bezeichnen kann, die in Nizäa formuliert wurde. Sie kann Gespräche und Debatten in Gang bringen und Christinnen und Christen inspirieren, über die gemeinsamen Fundamente unseres Glaubens nachzudenken.
Ende Oktober findet auch die Sechste Weltkonferenz von Glaube und Kirchenverfassung zum Thema „Welchen Weg nun zur sichtbaren Einheit?“ in Wadi El Natrun in Ägypten statt. Wie kam es zu dieser thematischen Ausrichtung?
Die Entscheidung, die Weltkonferenz in diesem Jahr durchzuführen, fiel tatsächlich zu Ehren der Erinnerung an das Konzil von Nizäa. Die letzte Weltkonferenz fand vor 30 Jahren 1993 statt, es handelt sich also um keine regelmäßige Veranstaltung. Den Titel „Welchen Weg nun zur sichtbaren Einheit?“ schätze ich gerade deswegen, weil er als offene Frage formuliert ist. Sichtbare Einheit ist ein Konzept oder ein Ziel, das die ökumenische Bewegung seit ihren Anfängen geprägt und inspiriert hat. Die Satzung des ÖRK enthält den Aufruf an die Kirchen, einander zur vollen „sichtbaren Einheit in dem einen Glauben und der einen eucharistischen Gemeinschaft aufzurufen“.[3] Ich glaube, dass jede Generation von Theologen, Ökumenikern und allen, die sich in der ökumenischen Arbeit engagieren, auf diese immer wiederkehrenden Fragen „Was bedeutet sichtbare Einheit für uns?“, „Was ist die sichtbare Einheit, die wir tatsächlich anstreben?“ antworten muss. Im Laufe der Geschichte des ÖRK und der bereiteren ökumenischen Bewegung gab es eine Reihe von Ansätzen und Konzepten der Einheit. Dabei wurden zahlreiche Erfolge erzielt, aber ich glaube, dass die Menschen manchmal von den Errungenschaften des letzten Jahrhunderts geblendet sind. Bei vielen ist eine gewisse Ermüdung spürbar, aufgrund des Gefühls, dass wir nach Einheit streben, sie aber stets weiter von uns wegläuft. Werden wir sie je erreichen, und wenn ja wann? Ich spüre viel Ungeduld.
Andererseits gibt es meines Erachtens viele Wurzeln der Einheit, die wir nicht erkennen oder noch nicht entdeckt haben. Die Frage „Welchen Weg nun zur sichtbaren Einheit?“ bedeutet auch, innezuhalten und über das Erreichte nachzudenken, um dann zu fragen „Welche Richtung sollen wir nun einschlagen?“. Das Konferenzprogramm basiert auf den drei Säulen „Glaube“, „Mission“ und „Einheit“. Es geht darum, als globale Gemeinschaft zusammenzukommen und sich Zeit für substanzielle theologische Gespräche zu nehmen, die uns Perspektiven auf die Vergangenheit und Gegenwart eröffnen, aber auch dabei helfen, eine Vision für die Zukunft im Streben nach Einheit zu entwickeln.
Meines Erachtens zeigt sich die heute sichtbare Einheit in vielerlei Hinsicht: in institutionellen Formen, in denen die Kirchen sich begegnen. Ökumenische Gremien sind gewissermaßen Zeugen für die sichtbare Einheit, die wir bereits haben. Akademische Programme, Austausche, verschiedene gemeinsame Bekenntnisse, die wir in dieser Welt ablegen, sind ebenfalls Zeichen sichtbarer Einheit. Es gibt aber auch noch viel Einheit, die erst noch sichtbar gemacht werden muss. Es geht nicht nur um das Erreichen von Einheit, die wir noch nicht haben, sondern auch um die Entdeckung und Sichtbarmachung von Einheit, die wir bereits teilen, und die unter verschiedenen Schichten von Missverständnissen und fehlendem Engagement begraben liegt. Außerdem gibt es auch bereits erreichte Einheit, die wir aktiv bewahren müssen.
Am Beginn der modernen ökumenischen Bewegung stand die Stockholmer Weltkirchenkonferenz für „Praktisches Christentum“ (Life and Work) vor hundert Jahren. Damals hoffte man, auf Grundlage ethischer, praktischer Aufgaben eine gemeinsame Basis zu finden. Heute sind sozialethische Fragen zunehmend Auslöser von Spannungen zwischen und in den Kirchen. Wie geht der ÖRK damit um?
1925 gab es die Losung „Doktrin spaltet, Dienst vereint.“ Heutzutage scheint fast das Gegenteil der Fall zu sein. Diskrepanzen, Missverständnisse oder Unterschiede in der Lehre scheinen für die Kirchen – sowohl innerhalb der einzelnen Traditionen als auch zwischen ihnen – kaum mehr eine Rolle zu spielen. Soziale und ethische Auseinandersetzungen sind heute prägender. Das zeigt, dass unsere Unterschiede nicht so sehr im Glauben oder in der Lehre begründet liegen, sondern im kulturellen, politischen oder sozialen Umfeld. Damit meine ich nicht nur unterschiedliche geographische Räume, sondern verschiedene Milieus und Kontexte am selben Ort. Moderne Technologien fördern die weitere Polarisierung zwischen und innerhalb von Gesellschaften und Nationen. Diese Probleme betreffen auch ganze Kirchenfamilien, wir kennen Beispiele aus der anglikanischen, römisch-katholischen und methodistischen Gemeinschaft, wo diese ethischen Herausforderungen große Störungen verursachen. In der orthodoxen Welt spielt die besondere Herausforderung durch Russlands Krieg gegen die Ukraine eine große Rolle.
In Anbetracht dieser Tatsachen hat Glaube und Kirchenverfassung in den vergangenen Jahren ein sehr gutes Dokument zum Thema „Moralisch-ethische Urteilsbildung in den Kirchen“ erarbeitet.[4] Wenn wir zum Beispiel ein konkretes Thema, das zu Spaltungen führt, direkt ansprechen, explodiert die Debatte sofort und das Gespräch wird unterbrochen. Das Dokument befasst sich nicht direkt mit den spaltenden Themen, sondern nimmt den Prozess der moralisch-ethischen Urteilsbildung in den verschiedenen Kirchen in den Blick, um zu verstehen, welche Elemente dieser Prozess umfasst: Wie gestaltet sich das Wechselspiel zwischen unserem Bibelverständnis, unserem kulturellen Hintergrund, mit unseren Positionen zur Erlösung, oder mit unserem mehr oder weniger traditionellen Geschichtsverständnis? Damit möchten wir den Dialog erleichtern, um mit allen Puzzleteilen die Gemeinsamkeiten dieser Prozesse in allen kirchlichen Traditionen zu finden. Auch wenn wir zu unterschiedlichen Standpunkten hinsichtlich eines bestimmten ethischen Themas gelangen, sollten wir dennoch versuchen zu verstehen, warum und wie wir zu diesem Ergebnis gekommen sind, und ob es in diesem Prozess Gemeinsamkeiten gibt. Das Dokument ist ein hilfreiches Werkzeug für Kirchen, wenn sie miteinander in einen produktiven Dialog treten wollen, und ich hoffe, dass es in Zukunft vermehrt zur Anwendung kommt.
Die Orthodoxe Kirche steht vor vielen inneren Herausforderungen, wie der Konflikt zwischen dem Ökumenischen Patriarchat und der Russischen Orthodoxen Kirche. Wie wirkt sich das auf den ÖRK aus?
Spaltungen und Polarisierungen gibt es in verschiedenen Kirchen, von denen sowohl die Gläubigen der Gemeinschaft als auch Mitglieder anderer Traditionen betroffen sind. Wenn man von einem positiven Aspekt dieser innerkirchlichen Spaltungen sprechen kann, dann besteht er darin, dass sie die Notwendigkeit ökumenischen Engagements und das Bedürfnis nach Gemeinschaft stärker zum Ausdruck bringen und zeigen, dass wir einander brauchen und uns nicht in unsere konfessionellen Identitäten zurückziehen können.
Was die Orthodoxe Kirche betrifft, wird deutlich, welche wichtige und sichtbare Rolle das ökumenische Umfeld für sie spielen kann. Denn ohne diese Orte wäre es fraglich, ob es überhaupt innerorthodoxe Begegnungen gäbe. Es ist wichtig, dass sich Orthodoxe in offizieller Funktion mit anderen offiziellen Kirchenvertretern in einem ökumenischen Rahmen treffen können. Hier können der ÖRK und andere ökumenische Gremien für die Orthodoxe Kirche eine wichtige Rolle spielen, indem sie Räume schaffen, wo sich Orthodoxe treffen sowie auf offizielle und weniger offizielle Weise die Fragen diskutieren können, die die Einheit der Orthodoxen beeinträchtigen. Ein Beispiel dafür ist, dass jährlich mindestens ein georgisch-orthodoxer Student am Institut in Bossey studiert, obwohl die Georgische Orthodoxe Kirche den ÖRK verlassen hat.
Aufgrund meiner Erfahrungen würde ich sagen, dass alle Orthodoxen unter der aktuellen Situation leiden. Niemand profitiert davon, und es gibt ein Bedürfnis nach Dialog und Wiederherstellung orthodoxer Einheit. Trotz aller Besorgnis bin ich voller Hoffnung – und Hoffnung betrachte ich als christliche Pflicht –, eben weil es solche Begegnungsorte gibt. Ich bin dankbar für die ökumenische Bewegung und den ÖRK, wo Orthodoxe sich begegnen können, und glaube, dass diese Begegnungen in dieser herausfordernden Situation das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Einheit verstärken.
Anmerkungen:
[1]) https://archive.org/details/wccfops2.160
[2]) https://www.oikoumene.org/resources/publications/towards-a-common-date-for-easter
[3]) https://www.oikoumene.org/de/resources/documents/constitution-and-rules-as-amended-by-the-9th-assembly
[4]) https://www.oikoumene.org/resources/documents/moral-discernment-in-the-churches
Übersetzung aus dem Englischen: Regula M. Zwahlen.
Andrej Jeftić, Dr., Direktor der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“ (Faith and Order) des Ökumenischen Rats der Kirchen.