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Versöhnungskonferenz in Charkiv 2015 (Foto: ks. Ihor Shaban, ekumenia.pl)

„Versöhnung in Europa“ – ein ökumenisches Projekt in Mittel- und Osteuropa

RGOW 11/2025
Grzegorz Giemza

Vor 60 Jahren leisteten die evangelische und römisch-katholische Kirche wichtige Beiträge zur deutsch-polnischen Versöhnung. Diese Entwicklung inspirierte vor 30 Jahren die Gründung einer vom Polnischen Ökumenischen Rat geleiteten interkonfessionellen Arbeitsgruppe zur Versöhnung in Mittel- und Osteuropa. Ihre vertrauensbildenden Aktivitäten bilden die Grundlage für den Austausch in der aktuellen Kriegszeit und für zukünftige Versöhnungsprojekte.

Das Projekt „Versöhnung in Europa – Aufgabe der Kirchen in der Ukraine, Belarus, Polen und Deutschland“[1] wurde erstmals an der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung 1997 in Graz einem internationalen Publikum vorgestellt. Der Name des Projekts ist Programm: Es soll die Kirchen ermutigen, sich für Versöhnung zwischen den Völkern, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, einzusetzen. Die Initiatoren des Projekts waren überzeugt, dass die Kirchen für eine Versöhnung zwischen den Völkern – oder deren Ausbleiben – von entscheidender Bedeutung sind. Dies ergab sich aus den Erfahrungen der Initiatoren – der Kirchen aus Polen und Deutschland, deren Anstöße zum polnisch-deutschen Versöhnungsprozess ein gutes Beispiel sein können, auch wenn dieser Prozess sehr komplex war (und immer noch ist), da die Beziehungen über Jahrhunderte hinweg kompliziert waren.

Anfänge des Projekts
Das Projekt entstand 1995 im „Haus der Stille“ in Weitenhagen bei Greifswald als Ergebnis der Aktivitäten des Kontaktausschusses zwischen dem Polnischen Ökumenischen Rat (PÖR) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die erste Sitzung des Kontaktausschusses hatte im Mai 1974 in Frankfurt am Main stattgefunden. Die Gründung des Ausschusses war eine Folge der Entspannung in den polnisch-deutschen Beziehungen in den 1970er Jahren sowie das Ergebnis langjähriger Kontakte des PÖR mit der EKD. Von entscheidender Bedeutung war die Unterzeichnung des Abkommens zur Normalisierung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sowie die verantwortungsvolle Geste des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt am 7. Dezember 1970, als er vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos niederkniete. Diese Geste, der „Kniefall von Warschau“, wurde zu einem Symbol der Buße und Versöhnung, als Bitte im Namen Deutschlands um Vergebung für die von den Nazis während des Zweiten Weltkriegs begangenen Verbrechen.

Eine wichtige Rolle im polnisch-deutschen Versöhnungsprozess spielten auch die Kirchen. Dabei lassen sich drei kirchliche Meilensteine ausmachen: Als erstes ist das berühmte Stuttgarter Schuldbekenntnis der EKD vom Oktober 1945 zu nennen. Darin finden sich wichtige Worte: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“ sowie „durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“[2] Dieses mutige Dokument ebnete der EKD den Weg zum Aufbau ökumenischer Beziehungen. Ein zweiter wichtiger Meilenstein war der offizielle Besuch einer EKD-Delegation unter der Leitung von Pfarrer Martin Niemöller in Polen im Februar 1957. Als dritter Meilenstein gilt die sog. Ostdenkschrift der EKD von 1965 zur „Lage der Vertriebenen und zum Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“.[3] Die Ostdenkschrift sorgte nicht nur in Deutschland, sondern auch in Polen für großes Aufsehen, und zwar nicht nur in evangelischen Kreisen, sondern auch in der römisch-katholischen Bischofskonferenz. Das Ergebnis war der Briefwechsel zwischen den polnischen und deutschen Bischöfen, der unter dem Einfluss der Ostdenkschrift der EKD von den polnischen Bischöfen initiiert wurde, die am Zweiten Vatikanischen Konzil teilnahmen und den berühmten Satz prägten: „Wir strecken unsere Hände zu Ihnen hin in den Bänken des zu Ende gehenden Konzils, gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“[4]

Pilgerfahrten der Versöhnung
Das Projekt wird von einer internationalen und interkonfessionellen Arbeitsgruppe geleitet. Ursprünglich gehörten ihr Vertreter der im PÖR zusammengeschlossenen Kirchen und der EKD an, derzeit setzt sie sich aus Vertretern der Kirchen auch aus Belarus und der Ukraine zusammen.[5] Die Leitung liegt beim PÖR. Die Arbeitsgruppe bietet eine Plattform und Möglichkeiten für die konfessionell und kulturell vielfältigen Kirchen Mittel- und Osteuropas, „an einem Tisch“ zusammenzukommen. In der Kennenlernphase war es wichtig, einander zuzuhören, um sich besser zu verstehen und gegenseitige Akzeptanz zu fördern. Ein Fokus liegt auf der Wahrnehmung des Reichtums, der in der vielfältigen Entwicklung des christlichen Glaubens in einer bestimmten Region liegt. Hierzu werden in den Ländern gemeinsame Projekte und verschiedene Aktivitäten durchgeführt. Das Projekt entwickelte sich so bald zu einer Art Pilgerfahrt der Versöhnung.

Die ersten Gespräche fanden 1997 in Graz und Minsk statt. Bis zum Ausbruch der COVID-19-Pandemie im März 2020 traf sich die Arbeitsgruppe fast jährlich in den einzelnen Projektländern. Bei den Treffen der Gruppe wurden weitere Aktivitäten geplant und Vertreter verschiedener Kreise und Institutionen eingeladen. Je nach den Bedürfnissen der örtlichen Kirchen wurden NGOs und internationale Organisationen besucht und Treffen mit Vertretern lokaler oder nationaler Behörden organisiert. Es fanden auch Treffen mit Kirchenvertretern von außerhalb der Arbeitsgruppe statt. Ein wichtiges Arbeitselement waren Treffen in den lokalen Botschaften der Projektländer, die der Vorbereitung größerer, offener Konferenzen zu verschiedenen Themen dienten. In diesem Rahmen wurde beschlossen, die Versöhnungsarbeit mit praktischen, sozialen und theologischen Themen zu beginnen, die für die lokalen Kirchen und die gesamte Gesellschaft in dem Land, in dem die Konferenz stattfindet, von Bedeutung sind. So standen die Themen oft im Zusammenhang mit aktuellen Herausforderungen des jeweiligen Landes, wie z. B. bei der Konferenz in Minsk im September 2004 zum Thema: „Christlicher Dienst in Gefängnissen in Belarus – das Problem AIDS“.

Schwierige Themen in den Beziehungen zwischen den Projektländern wurden nicht vermieden. Ein Beispiel dafür ist die Konferenz in Warschau im Oktober 2013 mit dem Titel „Versöhnung in Mittelosteuropa. Neue Herausforderungen“. Dabei wurde ein für die polnisch-ukrainischen Beziehungen komplexes Thema angesprochen, nämlich die Frage der Verbrechen in Wolhynien im Zweiten Weltkrieg, die bis heute ein Problem in den Beziehungen darstellt und einer gemeinsamen Aufarbeitung bedarf.[6] Es wurden auch globale Herausforderungen wie Migration behandelt. Im September 2006 befasste man sich mit „Migration in Europa – Erfahrungen an der Ostgrenze Polens“. 2010 wurden in Kamień Śląski anlässlich des Themas „Migration in Mittel- und Osteuropa. Das Problem der Versöhnung und des Zusammenlebens der Kulturen“ Fragen der Integration erörtert. Am selben Ort wurde 2016 das Thema „Die Eigenen und die Fremden im Kontext der aktuellen Migrationskrise. Erfahrungen und Aufgaben der Kirchen und der Gesellschaft“ diskutiert.

Sehr wichtig war bei allen Veranstaltungen, dass Vertreterinnen und Vertreter aller Länder und religiösen Traditionen zu Wort kamen, wodurch Dinge angesprochen werden konnten, die für die Gastgeber allein manchmal schwer auszusprechen gewesen wären. Und was man auf keinen Fall übersehen darf: Unabhängig vom behandelten Thema war es am wichtigsten, einen Begegnungsraum für Personen aus verschiedenen Kontexten zu schaffen, insbesondere solcher, die normalerweise nie oder nur selten an einem Tisch zusammenkommen. Die COVID-Pandemie läutete eine neue und schwierige Phase des Projekts ein, da sich die Gruppe nur noch online treffen konnte. Im Mai 2020 fand eine virtuelle Konferenz zum Thema „Jugendliche in Versöhnungsprozessen in Europa – Rolle und Aufgaben“ statt. Einige Jahre zuvor hatte die Gruppe mit Vorbereitungen für die Einbeziehung von Jugendlichen in das Projekt begonnen.

Versöhnung in Kriegszeiten
Gerade als es danach aussah, dass man nach den Einschränkungen durch die Pandemie wieder zu den „Pilgerreisen“ der Versöhnung zurückkehren und sich in den Projektländern treffen könnte, griff Russland die Ukraine an. Für die Mitglieder der Gruppe war klar, dass der Krieg seit 2014 andauert – und das war auch immer die Botschaft der ukrainischen Gruppe gewesen. Bis Februar 2022 betrachtete sich die belarusische Gruppe als „nicht in den Konflikt verwickelt“, sogar dann, als die Mitglieder der ukrainischen Gruppe sich weigerten, 2019 zu einer Konferenz nach Minsk zu kommen – aus Angst, verhaftet zu werden. Trotz des Krieges in der Ukraine hat die Arbeitsgruppe ihre Arbeit nicht eingestellt. Es wurde eine Reihe von Webinaren organisiert, in denen über die gesellschaftliche und die Situation zwischen den Kirchen berichtet wurde. Bei einem dieser Treffen fragte ein ukrainischer Vertreter die Vertreter von Belarus direkt, ob sie wüssten, dass gestohlene Gegenstände aus der Ukraine über Belarus ausgeführt werden, und wie sie sich dabei fühlten, dass die Aggression auch von belarusischem Gebiet ausginge.

Wie kann eine Gruppe mit dem Ziel der Versöhnung während eines Krieges funktionieren? Die Arbeitsgruppe ist zu der Überzeugung gelangt, dass die in den vergangenen Jahren aufgebauten Vertrauensbeziehungen sehr wichtig sind. Derzeit wird dieses Vertrauen auf die Probe gestellt, aber trotz allem wollen wir die bestehenden Beziehungen nicht verlieren. Leider sehen wir momentan nicht viele Möglichkeiten für Versöhnungsmaßnahmen, aber die Arbeitsgruppe ist überzeugt, dass sie eine Brücke sein sollte, die für solche Maßnahmen in der Zukunft genutzt werden kann, sobald Frieden geschlossen wird. Deshalb organisieren wir weiterhin Online- oder Präsenztreffen. Persönliche Treffen (auch Konferenzen) können nur in Polen und Deutschland stattfinden, wo eine sichere Anreise gewährleistet ist, obwohl nie sicher ist, ob Belarusen die Einreise nach Polen gestattet wird.

Die Gruppe kann den Boden für die nächsten Generationen bereiten, weshalb eine Konferenz für Studierende aus Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland geplant ist. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass Studierende aus Belarus und der Ukraine nicht daran teilnehmen können. Die Arbeitsgruppe setzt jedoch ihre Arbeit zur Bildung einer Gruppe junger Menschen fort, die sich für Versöhnung engagieren. 2023 und 2025 fanden in Polen Workshops für Studierende statt, an denen Vertreter aus Belarus, Deutschland, Polen und der Ukraine teilnahmen. Das nächste Studierendentreffen ist für 2027 geplant, und bis dahin wird die Arbeitsgruppe weiter nach Möglichkeiten suchen, ihre Mission fortzusetzen, die Kirchen zur Versöhnung zu ermutigen.

Anmerkungen: 
[1])    https://ekumenia.pl/pojednanie/projekt/

[2])    https://www.ekd.de/11300.htm

[3])    https://www.ekd.de/hintergrundinformationen-zur-ostdenkschrift-von-1965-57523.htm

[4])    https://www.dbk.de/themen/historischer-briefwechsel

[5])    Deutschland: EKD, Deutsche Bischofskonferenz; Polen: Evangelisch-Augsburgische Kirche, Polnische Autokephale Orthodoxe Kirche, Polnische Bischofskonferenz; Belarus: Belarusische Orthodoxe Kirche, römisch-katholische Kirche, Evangelisch-Lutherische Gemeinde in Grodno (ELKRAS); Ukraine: Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche, römisch-katholische Kirche, Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche, Ukrainische Orthodoxe Kirche.

[6])    https://www.dekoder.org/de/gnose/wolhynien-massaker-1943-ukraine-polen

Übersetzung aus dem Polnischen: Regula M. Zwahlen.

Grzegorz Giemza, Dr., Pfarrer der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen, Direktor des Polnischen Ökumenischen Rats.

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