Gebären zum Wohle der Nation. Pronatalismus im illiberalen Ungarn
RGOW 12/2025
Die ungarische Regierung versucht den Bevölkerungsrückgang mit einer ganzen Reihe pronatalistischer Maßnahmen zu bekämpfen. Finanzielle Anreize sollen die Geburtenrate steigern. Die staatlichen Zuwendungen beschränken sich jedoch auf verheiratete, heterosexuelle, ethnisch ungarische Paare mit mehreren Kindern. Familien mit weniger Kindern oder irregulären Erwerbsverhältnissen sowie Personen ohne Kinder und ältere Menschen erhalten kaum Subventionen. Besorgniserregend sind die rassistischen Untertöne dieser Politik, die nicht-ethnische Ungarn ausschließt.
Der Bevölkerungsrückgang sorgt in Ungarn bereits seit mehreren Jahrzehnten für nationale Besorgnis. Panische Stimmen wurden jedoch besonders laut, als die Geburtenrate nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus 1990 rapide zu sinken begann. Als Viktor Orbán und seine Partei Fidesz 2010 an die Macht kamen und mit Unterstützung einer parlamentarischen Supermehrheit die Regierung bildeten, lag die Gesamtfruchtbarkeitsrate auf einem historischen Tiefstand von 1,2. Die Sterberate stieg und die Zahl der Ungarn sank deutlich unter 10 Mio., was als kritischer Schwellenwert angesehen wurde.
Sorgen über die Bevölkerungsentwicklung sind keine Besonderheit Ungarns. Seit vielen Jahren wird in der Europäischen Union über die möglichen Folgen einer alternden Bevölkerung diskutiert, wobei eine Vielzahl von demografischen Prognosen und empfohlenen politischen Maßnahmen für die einzelnen Länder vorliegen. Doch selbst vor diesem Hintergrund sind die pronatalistischen Maßnahmen, die Ungarn in den letzten 15 Jahren eingeführt hat, einzigartig in ihrer Reichweite und Umsetzung, ihrer Exklusivität und darin, wie sie die Gesellschaft und den Wohlfahrtsstaat verändert haben. In diesem Beitrag analysiere ich die Entwicklung von Ungarns pronatalistischer Politik seit 2010 und untersuche ihre ideologischen Grundlagen, ihre Auswirkungen auf individuelle Rechte, ihre rassialisierten und xenophoben Dimensionen sowie ihre Effekte auf marginalisierte Gruppen wie Roma oder sexuelle Minderheiten.
Warum Pronatalismus?
Die pronatalistische Politik Ungarns wurde Anfang 2010 von der selbsternannten illiberalen Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán initiiert. Illiberale Demokratien, auch als weiche autoritäre Staaten oder hybride Regime bezeichnet, bewahren Elemente der Wahldemokratie, höhlen diese jedoch aus.[1] Orbán und seine Partei führten 2011, direkt nachdem sie an die Macht gekommen waren, eine neue Verfassung ein, mit der sie die Wahlregeln zugunsten der Regierungspartei umgestalteten, die Rechtsstaatlichkeit schwächten, der Justiz, den Medien und der Wissenschaft einen Großteil ihrer Unabhängigkeit nahmen und eine groß angelegte Korruption förderten, um eine loyale Gruppe von Oligarchen zu unterstützen, die die Parteipläne finanzieren.[2]
Sehr bald nach der Machtübernahme erließ die Regierung 2011 eine sehr populäre Steuerreduktion für Familien mit Kindern. Die Höhe der Reduktion hing von der Anzahl Kinder einer Familie ab, aber der absolute Wert beruhte auf dem Einkommen der Eltern. Daher konnten Familien mit niedrigem Einkommen oder Personen mit Kindern, die außerhalb des formellen Arbeitsmarkts arbeiteten, gar nicht oder nicht im gleichen Maße davon profitieren wie diejenigen an der Spitze der beruflichen Hierarchie. Denn letztere erhielten eine höhere Reduktion pro Kind als diejenigen am unteren Ende der Einkommensskala.
Dies war bis 2015 die wichtigste Maßnahme Ungarns zur Förderung der Geburtenrate, als eine Welle von Flüchtlingen, vor allem aus Afghanistan und Syrien, durch das Land schwappte und versuchte nach Westeuropa zu gelangen. Die Mehrheit der EU stand den Immigranten offen gegenüber, und es begannen Verhandlungen darüber, wie die Lasten ihrer Integration verteilt werden sollten. Diese Maßnahmen standen in krassem Widerspruch zu Orbáns Xenophobie und seinem Bestreben, den Aufbau der Nation zu seiner wichtigsten politischen Agenda zu machen. Daher lancierte die Regierung eine umfangreiche Kampagne gegen Immigration überhaupt und Immigranten als Personen, beschuldigte die EU, Ungarn Ausländer aufzuzwingen, und verbreitete Verschwörungstheorien über George Soros und seine angeblichen Pläne, die ungarische Zivilisation durch Multikulturalismus zu ersetzen. Die Kampagne war erfolgreich: Umfragen zeigten, dass Ungarn, die noch nie in ihrem Leben Flüchtlinge getroffen hatten, diese zu fürchten begannen. Es kam zu einem großen Skandal, als einer Flüchtlingsfamilie ein zweiwöchiger Urlaub im pittoresken Heimatdorf eines reichen ungarischen Spenders angeboten wurde, die Dorfbewohner jedoch vehement dagegen protestierten, dass eine Flüchtlingsfamilie auch nur für eine vorübergehende Zeit in ihrer Nachbarschaft Fuß fassen sollte.
Die Flüchtlingskrise diente als Anlass zur Stärkung der pronatalistischen Politik, und nach 2015 wurde sie unter dem politischen Etikett der Familienfreundlichkeit eine wichtige politische Priorität für die Regierung. So behauptete ein Plakat aus dieser Zeit, dass „die EU eine Immigrationspolitik hat, Ungarn aber eine Familienpolitik“.
Politische Maßnahmen der pronatalistischen Kampagne
Seit 2015 widmete die ungarische Regierung jährlich über 5 Prozent des BIP dem „Familienschutz“ und setzt ein umfangreiches Instrumentarium politischer Maßnahmen ein, die darauf abzielen, Anreize für Geburten zu schaffen, wobei einheimische, ethnisch ungarische Familien bevorzugt behandelt werden.[3] Dazu gehören mindestens 15 verschiedene Maßnahmen, von denen die wichtigsten im Folgenden beschrieben werden.
Subventionierte Wohn- und Hypothekenprogramme
Ein wesentlicher Bestandteil des Geburtenförderungsprogramms war das Angebot von zinsgünstigen, subventionierten Hypothekendarlehen – manchmal auch als „Familienwohnungsbaudarlehen” bezeichnet – für Familien mit Kindern, insbesondere für diejenigen, die sich zu weiteren Kindern verpflichten. Die subventionierten Darlehen konnten für den Bau oder Kauf eines neuen Hauses verwendet werden, zudem gab es spezielle Zuschüsse für Mehrfamilienhäuser und die Renovation bestehender Wohnhäuser. Für die meisten dieser Zuschüsse mussten die Eltern verheiratet, die Frauen unter 40 Jahre alt sein und sie mussten von einer Hypothekarbank als kreditwürdig eingestuft werden. Das bedeutet, dass sie in der Regel über ein angemessenes Einkommen auf dem formellen Arbeitsmarkt verfügen mussten.
Steueranreize und der Baby-Bond
Die Regierung führte einen direkten Geldzuschuss („Baby-Erwartungsdarlehen“) für junge (unter 35 Jahre), rechtmäßig verheiratete Familien ein, die versprachen, Kinder zu bekommen. Für die Aussicht auf drei Kinder oder mehr beträgt der Maximalbetrag des Zuschusses im Jahr 2025 11 Mio. Forint, was mehr als zwei durchschnittlichen Nettojahreslöhnen entspricht. Wenn die Familie die erforderlichen drei oder mehr Kinder innerhalb von zehn Jahren bekommt, wird das Darlehen in einen steuerfreien Zuschuss umgewandelt. Wenn sie die Bedingungen nicht erfüllt, muss die Familie den ganzen Betrag oder einen Teil davon zurückzahlen, oft mit Strafzinsen. Auch diese Leistungen sind an eine formelle Beschäftigung und ein bestimmtes Einkommensniveau gekoppelt, wodurch Familien mit mittlerem und hohem Einkommen begünstigt werden. Zudem stellen sie eine potentielle Bedrohung insbesondere für Frauen dar, die nach Erhalt des Zuschusses die Scheidung beantragen, aber die versprochene Anzahl von Kindern nicht oder nicht ganz erfüllen.
Außerdem gewährt die Regierung Frauen mit drei oder mehr Kindern seit 2025 einen vollständigen Steuererlass auf ihr Erwerbseinkommen. Sie hat versprochen, in den kommenden Jahren die gleiche Leistung auf Frauen mit zwei Kindern auszuweiten.
Ausgeweitete Elternzeit und Familienunterstützung
Neben finanziellen Zuschüssen dehnte die Politik die Elternurlaubsentschädigung aus und gestaltete sie flexibler; zudem unterstützt sie Kinderbetreuungsdienste für erwerbstätige Frauen. Die Elternurlaubsregelungen setzt Anreize, damit Frauen ein Jahr nach der Geburt ihres Kindes zur Arbeit zurückkehren, ermöglicht jedoch bis zu drei Jahre bezahlte Abwesenheit. Auch Großeltern können in Ungarn bezahlten Elternurlaub beziehen, damit ihre Kinder früher in die Erwerbstätigkeit zurückkehren können. Staatlich finanzierte Kinderbetreuungsdienste und Krippen wurden aufgebaut, genügen aber noch immer nicht der Nachfrage, vor allem in weniger privilegierten Gebieten.
Prinzipien hinter der pronatalistischen Politik
Im Gegensatz zu liberalen Modellen, die Entscheidungen über Fortpflanzung als private Entscheidungen betrachten, interpretiert die ungarische Regierung Fruchtbarkeit als Bürgerpflicht und Angelegenheit von kollektiver nationaler Bedeutung. Durch diese Neuinterpretation werden reproduktive Rechte von individuellen Freiheiten zu Instrumenten für die nationale Wiedergeburt. Der Staat erwartet und ermutigt Frauen, Kinder nicht nur aus persönlichen oder familiären Gründen zu gebären, sondern als Beitrag zur Zukunft der Nation.
Frauen, insbesondere diejenigen im gebärfähigen Alter, werden als zentrale Akteurinnen der demografischen Rettung positioniert, wobei ihre Körper dem Einfluss und den Erwartungen des Staats unterworfen sind. Die Politik stellt Frauen oft als biologisch und kulturell prädisponiert – wenn nicht sogar verpflichtet – dar, der Mutterschaft zum Wohle der Nation Vorrang einzuräumen. Männer haben diese Verantwortung nicht. In einer Rede nach seinem Wahlsieg 2018 deutete Viktor Orbán an, dass er sich mit Frauen beraten und ihnen das bieten wolle, was sie brauchten, um mehr Kinder zu bekommen. Er sprach allerdings nicht über die Wichtigkeit von Vaterschaft oder die Rolle, die Männer im Leben von Kindern spielen können. Er übertrug Frauen die Verantwortung für die Entscheidung, Kinder zu bekommen, und machte sie damit auch verantwortlich, wenn die geforderte Kinderzahl nicht erreicht wird. Auch andere Politiker haben Frauen als Verantwortliche für die Betreuung innerhalb und außerhalb der Familie benannt und sie aufgefordert, dies nicht aus finanziellen Gründen zu tun, sondern als Opfer und Ausdruck ihrer Liebe zu ihren Familien und ihrer wahren Weiblichkeit.
Ein wichtiger Aspekt von Ungarns pronatalistischer Politik ist die Neudefinition von sozialen Bürgerrechten. Traditionell gewähren Wohlfahrtsstaaten Unterstützung auf der Grundlage von erworbenen Rechten (wie politische Bürgerrechte oder Versicherungen) oder von Bedürftigkeit, wie Einkommen, Gesundheit und soziale Benachteiligung. Der derzeitige Ansatz Ungarns basiert jedoch zunehmend auf reproduktivem Verhalten und verwandelt den Wohlfahrtsstaat effektiv in einen „Sorgfahrtsstaat“ („carefare“ state).[4] Diese Transformation ist gekennzeichnet durch Sozialleistungen und Rechte, die an die Geburt und Betreuung von Kindern geknüpft sind und nicht einfach an die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder Bedürftigkeit. So bietet der Staat, wie erwähnt, großzügige Steuerfreibeträge, Wohnzuschüsse und Pauschalbeihilfen ausschließlich für Familien, die bestimmte Fortpflanzungskriterien erfüllen – insbesondere denen mit drei oder mehr Kindern. Umgekehrt erhalten alleinstehende oder kinderlose Personen oder Familien ohne oder mit nur einem Kind sowie Familien, die die Arbeits- oder Einkommensvoraussetzungen nicht erfüllen, nur minimale oder gar keine staatliche Unterstützung.
Es ist bedenklich, dass Ungarns pronatalistische Maßnahmen sehr selektiv sind. Sie richten sich in erster Linie an einheimische, ethnisch ungarische, heterosexuelle Paare in verheirateten Beziehungen, die arbeiten und über ein formelles Einkommen verfügen. Diese gezielte Ausrichtung steht im Einklang mit der breiteren nationalistischen und ethnozentrischen Ideologie der Regierung, die die Bewahrung der „ethnischen Reinheit” und der kulturellen Homogenität betont. Diese Exklusivität wird durch politische Bestimmungen verstärkt, die Leistungen an die Ehe knüpfen und damit Alleinerziehende, unverheiratete Paare oder gleichgeschlechtliche Paare diskriminieren. So hat die ungarische Regierung beispielsweise rechtlich registrierten gleichgeschlechtlichen Paaren verboten, Kinder zu adoptieren, und damit heteronormative Familienideale weiter zementiert.
Einer der umstrittensten Aspekte der ungarischen Bevölkerungspolitik sind ihre explizit rassistischen und fremdenfeindlichen Untertöne. Die Regierung stellt ihre pronatalistische Agenda der Einwanderung entgegen und argumentiert, dass die Zukunft der Nation davon abhänge, dass einheimische Ungarn mehr Kinder bekommen. Die Regierung lehnt es ab, Einwanderer aufzunehmen – insbesondere nicht-weiße, oft muslimische Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika. Orbáns Rhetorik vermengt den Bevölkerungsrückgang mit Bedrohungen für die nationale Identität und sieht die Lösung darin, einheimische Ungarn zur Fortpflanzung zu ermutigen. Die Strategie spricht explizit rassische und ethnische Nationalismen an.
Die Maßnahmen marginalisieren die Roma-Minderheit in Ungarn weiter, die eine bedeutende ethnische Gruppe im Land darstellt. Die Roma-Gemeinschaft ist mit tief verwurzelter Diskriminierung sowie Einschränkungen beim Zugang zu formeller Beschäftigung, Bildung und staatlicher Unterstützung konfrontiert. Da viele Roma informell oder in nicht registrierten Jobs arbeiten, haben sie keinen Anspruch auf Leistungen, die von einem formellen Einkommen abhängen, wie Steuerreduktionen oder Familienbeihilfen. Gleichzeitig hat die Regierung die Unterstützung für Roma-Gemeinschaften zurückgezogen oder eingeschränkt, die Segregation in Schulen und Siedlungen verstärkt sowie diskriminierende Maßnahmen gefördert, die gesellschaftliche Spaltungen entlang ethnischer Linien vertiefen.
Der rassifizierte Charakter der ungarischen pronatalistischen Politik ist beunruhigend und erinnert an Ideen aus der Zeit der Eugenik. Öffentliche Kampagnen propagieren die Vorstellung, dass die „wahren“ Bürger Ungarns bestimmte rassische und kulturelle Merkmale verkörpern – nämlich ethnisch ungarisch und christlich sind. In einem eher überraschenden Schritt hat die Regierung die Kontrolle über Fertilitätskliniken übernommen und übt eine strenge Aufsicht darüber aus, wer sich auf diese Weise fortpflanzen kann und wer nicht. Sie hat den Zugang zu unterstützenden Reproduktionstechnologien für nicht heterosexuelle Paare explizit eingeschränkt.
Während die Nationsbildung für viele illiberale Länder in Europa wichtig ist, funktionieren nicht alle pronatalistischen Strategien nach den gleichen Prinzipien wie die ungarischen.[5] In Polen beispielsweise wurde 2016 eine universell verfügbare Familienbeihilfe namens Familie 500+ eingeführt. Die Maßnahme gewährt Familien eine Pauschalzahlung, die sich nach der Anzahl ihrer Kinder richtet, jedoch unabhängig von Einkommen, Arbeit oder Familienstand ist. Sie wurde von der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) eingeführt, die in anderen Bereichen eine ähnlich illiberale Agenda verfolgte wie Orbáns Fidesz in Ungarn, doch die polnischen pronatalistischen Überlegungen beinhalteten keine ethnozentrische Strategie.
Kontroversen und Konsequenzen
Ungarns aggressive pronatalistische Politik während des letzten Jahrzehnts stellt eine tiefgreifende Verschiebung darin dar, wie Staaten Bevölkerungsdynamiken im Dienst nationalistischer, ethnozentrischer und konservativer Ideologien formen können. Während diese Politik vordergründig darauf abzielt, dem Bevölkerungsrückgang entgegenzuwirken, dient sie auch als Instrument der sozialen Kontrolle, der Entdemokratisierung, der Verfestigung traditioneller Geschlechterrollen, der Marginalisierung sexueller Minderheiten und der Festigung rassischer und ethnischer Hierarchien.
Die Umwandlung von Ungarns Wohlfahrtsstaat in einen „Sorgfahrtsstaat“ stellt die Vorstellung von universellen sozialen Rechten in Frage. Diese Politik hat auch reale Konsequenzen: verstärkte soziale Schichtenbildung, tiefere Segregation und Marginalisierung verletzlicher Gruppen. Diese Maßnahmen drohen Ungarns Verpflichtung zu demokratischen Normen, Minderheitenrechten und Geschlechtergleichheit zu untergraben.
Demografen messen die Wirksamkeit pronatalistischer Politik in der Regel anhand der Gesamtfruchtbarkeitsrate (total fertiliy rate, TFR) eines Landes. In dieser Hinsicht war das Orbán-Regime erfolgreich. Nach einem anfänglichen Anstieg, der schon 2012 begann und 2022 bei 1,6 seinen Höhepunkt erreichte, begann die TFR zu sinken. Aber neue Maßnahmen stützten sie wieder, so dass für 2025 ein Wert von ca. 1,5 erwartet wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Zahl der Ungarn gewachsen ist, ganz im Gegenteil. Als Orbán 2010 an die Macht kam, wurden über 90 000 Babys geboren, während es 2024 nur etwa 77 500 waren. Das liegt daran, weil die Kohorte im gebärfähigen Alter derzeit klein ist, und daher ein moderater Anstieg der Fertilitätsraten nicht zu einer Erhöhung der absoluten Zahl der Geburten geführt hat.
Demografische Maßnahmen haben noch weitere soziale Folgen, die selten diskutiert werden. Drei Bereiche sind dabei erwähnenswert: Erstens zeigt die öffentliche Meinung in Ungarn – wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern – ziemlich konservative Ansichten zu Geschlechterrollen. 2022 waren laut Daten des International Social Survey Project 49 Prozent der Ungarn ganz oder teilweise mit der Aussage einverstanden, dass das, „was Frauen wirklich wollen, eine Familie ist“, während nur 24 Prozent der Österreicher und 12 Prozent der Deutschen damit einverstanden sind.[6] 42 Prozent der Ungarn stimmten der Aussage zu, dass „es die Aufgabe einer Frau ist, sich um den Haushalt zu kümmern, während es die Aufgabe des Mannes ist, Geld zu verdienen“, während das nur für 14 Prozent der Österreicher und 7 Prozent der Deutschen gilt. In den letzten zehn Jahre wurden die Ansichten über Geschlechterrollen in vielen westeuropäischen Ländern deutlich weniger konservativ. In Ungarn ist im Vergleich dazu keine oder nur eine geringfügige Veränderung zu sehen. Die Botschaften von Orbáns illiberaler Regierung sind angekommen: Frauen werden eher für Hausarbeit und Kinderbetreuung verantwortlich gemacht. Der Unterschied in den öffentlichen Meinungen zwischen osteuropäischen und westeuropäischen Ländern an sich sowie die Dynamik des Wandels sind auffallend. In Westeuropa ist eine rasche Liberalisierung zu beobachten, in den mittel- und osteuropäischen Ländern hingegen nur eine geringe, zögerliche oder gar keine Liberalisierung, insbesondere in den Ländern mit einer illiberalen Regierung.
Ein zweiter Bereich, in dem pronatalistische Maßnahmen Auswirkungen haben dürften, ist die Kinderarmutsquote. 2015 lebten 19 Prozent der Familien mit unterhaltsberechtigten Kindern unter der Armutsgrenze, dieser Anteil sank in den folgenden Jahren auf ca. 15 Prozent im Jahr 2024. Diese Erfolgsgeschichte ist jedoch mit zwei Vorbehalten verbunden: Erstens hat das Statistische Amt der EU (Eurostat) die ungarische Regierung aufgefordert, ihre Armutsstatistiken zu überprüfen und anzupassen, da die Daten Unregelmäßigkeiten aufwiesen.[7] Es ist unklar, wie sich die Anpassungen auf die Armutsquoten auswirken werden. Der zweite Vorbehalt ist, dass die Mittel für Familien mit Kindern eindeutig aus anderen Bereichen abgezogen wurden. Während die Kinderarmutsquote sank, hat sich das Armutsrisiko von älteren Menschen, insbesondere alleinlebender älterer Menschen, im gleichen Zeitraum von etwa 10 Prozent auf fast 30 Prozent verdreifacht. Wie bereits erklärt, ersetzte die Familienpolitik bedürfnisorientierte und universelle Zuwendungen, indem sie das Konzept der „Bedürftigkeit“ anders definierte. Während der Bedarf von Familien an Unterstützung für die Kindererziehung als legitim angesehen wird, gilt dies für die Armuts- und Gesundheitsbedürfnisse älterer Menschen weniger.
Drittens und letztens hat sich die reproduktive Belastung von Frauen aufgrund der pronatalistischen Politik der Regierung zweifellos erhöht. In einer Umfrage des International Social Survey Project 2022 erklärten Ungarn und vor allem Ungarinnen, dass sie aufgrund ihrer häuslichen Pflichten zu erschöpft seien, um ihrer Arbeit angemessen nachzukommen. Der Prozentsatz war deutlich höher als 2002 – 25 Prozent 2022 im Vergleich zu 11 Prozent 2002 – und etwa doppelt so hoch wie der Anteil von Frauen in Österreich oder Deutschland, die das gleiche angaben. Das deutet darauf hin, dass die pronatalistische Politik der ungarischen Regierung und all die sie begleitenden Regelungen Frauen belasten, von denen erwartet wird, dass sie eine Vollzeitbeschäftigung mit einem wachsenden Umfang an Reproduktionsarbeit vereinbaren. Während die pronatalistische Politik finanzielle Anreize für die Geburt und Erziehung von Kindern bietet, wurden staatlich finanzierte Einrichtungen für Angehörige jeden Alters stark vernachlässigt. Die Bildungs- und Gesundheitsversorgung sind unterfinanziert, Altenpflege und Sozialdienste existieren kaum. In diesem Zusammenhang sind Frauen in der Regel gezwungen, die Arbeit von Kinderbetreuungsdiensten oder Alterspflegeeinrichtungen zu übernehmen, was ihre häuslichen Pflichten noch vermehrt.
Insgesamt zeigt der Fall Ungarn, wie Bevölkerungspolitik über demografische Belange hinausgehen und Teil eines umfassenderen Projekts der Nationsbildung, Bewahrung der Identität und autoritären Umgestaltung der Gesellschaft werden kann. Er demonstriert auch das gefährliche Potenzial einer Verflechtung staatlich gelenkter demografischer Initiativen mit nationalistischen und rassistischen Ideologien, wodurch die Grenzen zwischen öffentlicher Gesundheit, Sozialpolitik und rassistischer Politik verschwimmen.
Anmerkungen:
[1]) Enyedi, Zsolt: Concept and Varieties of Illiberalism. In: Politics and Governance 12 (2024), https://doi.org/10.17645/pag.8521; Laruelle, Marlene: Illiberalism: A Conceptual Introduction. In: East European Politics 38, 2 (2022), S. 303–327, https://doi.org/10.1080/21599165.2022.2037079
[2]) Barlai, Melani: Schleichender Umbau. Ungarns politisches System unter Viktor Orbán. In: RGOW 52, 10 (2024), S. 26–27.
[3]) Szelewa, Dorota; Szikra, Dorottya: Leave Policies in Populist and Illiberal Regimes: The Cases of Hungary and Poland. In: Dobrotić, Ivana; Blum, Sonja; Koslowski, Alison (eds.): Research Handbook on Leave Policy. Parenting and Social Inequality in a Global Perspective. Northampton 2022, S. 99–113.
[4]) Fodor, Eva: The Gender Regime of Anti-Liberal Hungary. Cham 2022.
[5]) Bartosik, Krzysztof: The Family 500+ Benefit and Changes in Female Employment in Poland. In: Central European Economic Journal 10, 57 (2023), S. 23–34 https://doi.org/10.2478/ceej-2023-0002; Szikra, Dorottya; Öktem, Kerem Gabriel: An Illiberal Welfare State Emerging? Welfare Efforts and Trajectories under Democratic Backsliding in Hungary and Turkey. In: Journal of European Social Policy 33, 2 (2023), S. 201–215, https://doi.org/10.1177/09589287221141365
[6]) https://search.gesis.org/research_data/ZA10000
[7]) https://www.valaszonline.hu/2025/04/11/reliability-eu-silc-income-data-in-hungary/
Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
Eva Fodor, Dr., Professorin an der Abteilung für Gender Studies der Central European University in Wien.
Bild: Mit Plakaten wirbt die Orbán-Regierung für Steuererleichterungen für Familien mit drei Kindern. (Foto: Shutterstock.com)