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Buchbesprechungen

RGOW 2/2025
Stefan Kube, Regula M. Zwahlen, Natalija Zenger

Vier Buchbesprechungen zu

Cindy Wittke: Frieden verhandeln im Krieg
Ostap Sereda et al. (eds.): Invisible University for Ukraine
Ingo Petz: Rasender Stillstand
Ales Adamowitsch et al.: Feuerdörfer

Cindy Wittke
Frieden verhandeln im Krieg
Russlands Krieg, Chancen auf Frieden und die Kunst des Verhandelns
Co-Autorin: Mandy Ganske-Zapf
Köln: Quadriga 2024, 235 S.
ISBN 978-3-86995-147-8. € 22.–; CHF 24.90.

Um es gleich vorwegzunehmen, dieses überaus empfehlenswerte Buch der Politikwissenschaftlerin Cindy Wittke und der Journalistin Mandy Ganske-Zapf enthält keine Blaupause, wie sich ein Friedensprozess angesichts von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine initiieren lässt, und wie ein Friedensabkommen letztendlich konkret aussehen könnte. Stattdessen stellt es grundlegende Fragen nach dem Verständnis von Frieden, nach den Zielen und Handlungsspielräumen der beteiligten Konfliktparteien, nach möglichen Vermittlern und Garanten von Friedensvereinbarungen, nach dem Timing von Verhandlungen, und welche Schritte zu einem dauerhaften Frieden führen könnten. Fragen, die nicht nur die Ukraine und Europa, sondern die ganze Welt betreffen, da es um „nichts weniger als die Aushandlung ganz neuer Friedensordnungen“ geht (S. 18). Zur Beantwortung dieser Fragen schauen die beiden Autorinnen auf die Lehren der Minsker Abkommen von 2014/15 zurück, und wie Russland in den letzten drei Jahrzehnten als Akteur bei – oftmals fälschlicherweise so bezeichneten – „eingefrorenen“ Territorialkonflikten im postsowjetischen Raum (Moldova, Georgien, besetzte ukrainische Gebiete vor 2022, Berg-Karabach) agiert hat.

Wittke und Ganske-Zapf warnen davor, die Minsker Abkommen weiterhin als Blaupause für einen Friedensprozess anzusehen, sondern als „ein Lehrstück des Scheiterns“ (S. 67), da sie auf der Fiktion von Russlands Vermittlerrolle basierten und eine Projektionsfläche schufen, „wonach man es angeblich mit einem ‚klassischen‘ Sezessionskonflikt der zusammengebrochenen Sowjetunion zu tun hätte“ (S. 64). Die beiden Autorinnen räumen auch mit dem immer wieder vorgebrachten Narrativ auf, es hätte bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühling 2022 ein verpasstes Momentum zu einem Frieden gegeben, da bei den damaligen Gesprächen die Frage von Sicherheitsgarantien für die Ukraine nicht gelöst wurde. Die bisher plausibelste Friedensinitiative ist aus Sicht der Autorinnen der Zehn-Punkte-Friedensplan des ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelenskyj. Dessen Ansatz beruhe auf der „Suche nach einem globalen Konsens für Frieden für die Ukraine, um Russland durch eine Art ‚diplomatischer‘ Übermacht zum Einlenken zu bringen“ (S. 158).

Da Russland aber weiterhin an seinen maximalen Kriegszielen festhält und nicht an echten Verhandlungen interessiert ist, sei momentan nur eine Art „Desaster- und Katastrophen-Management“ (S. 184) möglich, etwa um die Sicherheit des Kernkraftwerks Saporischschja zu gewährleisten. Es droht daher die Gefahr, „dass es auf einen negativen, wenn nicht sogar schmutzigen Frieden hinausläuft – mit allen Konsequenzen für die Ukraine, Europa und die internationale (Friedens-)Ordnung“ (S. 204).

Stefan Kube


Ostap Sereda, Balázs Trencsényi, Tetiana Zemliakova, Guillaume Lancerau (eds.)
Invisible University for Ukraine
Essays on Democracy at War
Ithaca (NY): Cornell University Press 2024, 160 S.
ISBN: 978-1-5017-8286-2. USD 7.99; open access

Der Titel dieses schmalen Buchs mag falsche Erwartungen wecken. Darin erwarten uns keine politikwissenschaftlichen Analysen, sondern 18 kurze, persönliche Essays von gegenwärtigen ukrainischen Studierenden und Forschenden in und außerhalb der Ukraine für Leser, „die wahrscheinlich nicht in einer Kriegssituation sind, um mit uns zu denken und zu fühlen“ (S. 20). Die „Unsichtbare Universität für die Ukraine“ (IUFU) ist eine internationale Studienplattform, die seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Frühling 2022 aufgebaut worden ist. Das Projekt entstand an der Central European University in Wien und Budapest und wird vom Imre Kertész Kolleg in Jena und diversen Stiftungen getragen (S. 11–12). Ziel ist es, in der Ukraine eine pluralistische und demokratische politische und intellektuelle Kultur aufrecht zu erhalten (S. 3) sowie ein nicht Russland-zentriertes Verständnis des postsowjetischen Raums zu erarbeiten (S. 17).

Eine Frage bestand darin, ob der Krieg eher ausgeblendet oder direkt angesprochen werden soll, und wie im akademischen Setting mit Emotionen umgegangen werden soll? Mit dem Dilemma zwischen akademischer Distanz und persönlicher Kriegserfahrung setzte sich ein Schreibseminar von Tetiana Zemliakova auseinander, aus dem die hier vorliegenden beeindruckenden, diverse Sichtweisen zum Ausdruck bringenden Essays stammen. Sie sind in drei Teile arrangiert: Frontlinien, Solidarität und Ausdauer. Sie werfen viele Fragen auf, so für ukrainische Studierende im Ausland: „Wie kann ich sicher sein, dass ich genug tue, während Menschen töten und getötet werden?“ (S. 29). Kateryna beobachtet: „Der meist dokumentierte Krieg ist der am besten [über Social Media] vermittelte und gleichzeitig der distanzierteste“ (S. 24). Denys und Maksym wagen auch Zweifel zu äußern, ob sie wirklich ihr Leben geben wollen für eine „freie Welt, die in ihrer Mehrheit gar nicht weiß, dass sie gerade verteidigt wird“ (S. 54), oder ob das strenge Mobilisierungsgesetz gerechtfertigt ist (S. 88). Marta setzt sich mit Hass und essentialistischen Feindbildern auseinander: Wenn die „russische Natur“ so böse sei, weshalb sollte man überhaupt noch auf eine demokratische Zukunft in Russland hinarbeiten? (S. 60) Olha, die ein Kriegswörterbuch erstellt hat, fragt ihre Schwester: „Worüber haben wir eigentlich vor dem Krieg miteinander gesprochen?“ (S. 115). Nadiia fühlt sich vom omnipräsenten Plakat „Sei mutig wie die Ukraine“ überwältigt und erkennt: „Meine Bemühungen, meine Verwundbarkeit zu verbergen werden genauso entmenschlichend wie der Krieg selbst“ (S. 135).

Regula M. Zwahlen

Ingo Petz
Rasender Stillstand
Belarus – eine Revolution und ihre Folgen
Berlin: edition.fotoTAPETA 2025, 191 S.
ISBN 978-3-949262-47-0. € 13.–; CHF 15.–.

Fünf Jahre sind seit dem „belarusischen Sommer“ mit den friedlichen Protestzügen und bunten Sonntagsmärschen vergangen, der sowohl die belarusische als auch die internationale Öffentlichkeit überraschte. Von außen betrachtet mag nach der Unterdrückung der Proteste und den bis heute andauernden massiven Repressionen des Lukaschenka-Regimes wieder der Eindruck von „ewigem Stillstand“ herrschen, aber der Journalist Ingo Petz, der sich seit Jahrzehnten mit dem Land beschäftigt und es immer wieder bereist hat, macht mit dieser Flugschrift deutlich, dass „diese ‚belarusische Welt‘ nicht still“ steht (S. 17). Es lohnt sich genauer hinzuschauen, welche Folgen die Revolution von 2020 bis heute zeitigt.

Petz analysiert die Entstehung der Protestbewegung, die auf Graswurzel-Initiativen während der Corona-Zeit aufbaute, den Verlauf und die Ausdrucksformen der Proteste, die Gründe für die Langlebigkeit des Regimes und dessen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, die Demokratiebewegung im Exil, und wie sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf Belarus und die belarusisch-ukrainischen Beziehungen auswirkt. Dabei hat er einerseits immer einen größeren Rahmen im Blick, so ordnet er die belarusische Revolution in die Geschichte der Emanzipationsbewegungen im östlichen Europa und in die Geschichte der belarusischen Nationswerdung ein, andererseits nimmt er den Leser an konkrete Orte wie die Minsker Hinterhöfe mit, die „zum Ausdruck der steilen Lernkurve in Sachen Demokratie und Selbstorganisation“ wurden (S. 69). Er spricht mit belarusischen Wissenschaftlern und Autorinnen, stellt den vielfältigen belarusischen Kultursektor vor und webt in den Text auch Zitate aus Songs belarusischer Bands ein. So entsteht ein buntes und lebendiges Panorama, das zeigt, dass die Demokratiebewegung trotz Exil, Repressionen und Krieg weiterhin eine „vitale Einheit“ ist (S. 167).

Petz gibt sich allerdings keinen Illusionen hin: Für die belarusische Demokratiebewegung wird es ein Marathon werden. Dank der russischen Unterstützung konnte sich Lukaschenka an der Macht halten, und in den letzten fünf Jahren hat sich der einst autoritäre Staat, „der gewisse Freiheiten gewährt, zu einem totalitären Staat [entwickelt], der Gegner nicht nur massiv bekämpft, sondern solche ‚aussondert‘, die die Loyalitätsprüfung nicht bestehen“ (S. 105). Gleichzeitig wirkt der russische Angriffskrieg als „Beschleuniger der belarusischen Abhängigkeit von Russland“ (S. 131). Doch gerade vor diesem Hintergrund und der wachsenden belarusischen Diaspora in Westeuropa ist es wichtig, sich mit dem Land zu beschäftigen – Petz’ Buch ist dazu eine ausgezeichnete Gelegenheit!

Stefan Kube

Ales Adamowitsch, Janka Bryl, Uladsimir Kalesnik
Feuerdörfer
Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten
Berlin: Aufbau Verlage 2024, 587 S.
ISBN 978-3-351-03997-4. € 39.–; CHF 51.50.

Die Verbrechen der Nationalsozialisten in Belarus wie generell in Osteuropa sind in der Öffentlichkeit häufig noch immer kaum präsent. In Belarus ermordeten deutsche Soldaten zwischen 1941 und 1944 rund 2 Mio. Menschen, sie verbrannten Tausende Dörfer und Städte, häufig mitsamt ihren Bewohnerinnen und Bewohnern. Das nach diesen „Feuerdörfern“ benannte Buch wurde vor 50 Jahren in der Sowjetunion veröffentlicht, nun erscheint es erstmals auf Deutsch und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Schließung dieser Wissenslücken. Mit ihrem dokumentarischen Werk ging es den Autoren darum, die historische Wahrheit über die Gräueltaten zu bewahren und sichtbar zu machen. Denn „die mit ihren Bewohnern verbrannten, ermordeten Dörfer sind die sengende, schmerzliche, zornige Wahrheit und bilden das Gedächtnis von Belarus. Die Bewohner der über zweihundert im Krieg verheerten Städte und der über neuntausend verbrannten Dörfer, von denen Hunderte mitsamt der Bevölkerung vernichtet wurden, haben der Welt etwas zu sagen“ (S. 15 f.).

Die drei Autoren Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik, der die Zeitzeugen auch fotografierte, besuchten von 1970 bis 1973 147 Dörfer in ganz Belarus, um Berichte von Überlebenden zu sammeln. Sie zeichneten die Erzählungen Hunderter, oft wie durch ein Wunder dem Tod entkommener Menschen auf Tonband auf, um „den unerträglichen Grad des menschlichen Schmerzes, der Fassungslosigkeit und des Zorns, die sich nicht allein in Worten zeigen, sondern auch in Stimmen, Augen und Gesichtern ‚im Zustand des Plasmas‘ zu bewahren und erhalten“ (S. 17). Es ist ihnen gelungen, die Stimmen authentisch zu übermitteln, zu weiten Teilen besteht das Buch aus direkter Rede der Zeitzeugen. Zusammengehalten werden die Berichte von einer Erzählerstimme, die Rahmeninformationen zu den Orten und Menschen sowie zum Kontext der Naziideologie gibt. Auffallend ist die stark umgangssprachlich geprägte, mündliche Ausdrucksweise in den Berichten, die bewusst erhalten wurde. Bei den meisten Augenzeuginnen und Augenzeugen handelte es sich um einfache Menschen, die oft als Bauern in den Dörfern lebten.

Die erschütternden Augenzeugenberichte vermitteln eindringlich die Ereignisse, obwohl sie zum Zeitpunkt der Aufzeichnung schon 30 Jahre zurücklagen. Damit ist das Buch ein eindrückliches Zeugnis der barbarischen Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht in Belarus. Zudem kommt ihm der große Verdienst zu, den Tragödien ein menschliches Gesicht zu geben und die individuellen Geschichten und Gefühle sichtbar zu machen sowie sie für die Zukunft zu bewahren.

Natalija Zenger

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