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Pulsfühlung: Die ukrainische Gesellschaft zu Beginn des vierten Kriegsjahres

RGOW 02/2025
Volodymyr Fesenko

In der Ukraine nimmt die Erschöpfung über den Krieg zu, ablesbar an der steigenden Zahl derjenigen, die eine Beendigung des Kriegs auch unter der Bedingung territorialer Zugeständnisse an Russland befürworten. Mit dem Amtsantritt von Donald Trump verbinden sich gemischte Hoffnungen auf einen Friedensschluss. Die Verschlechterung der Kriegslage trägt auch zu einer kritischeren Haltung gegenüber den staatlichen Institutionen und neuen innenpolitischen Auseinandersetzungen bei. Mögliche Szenarien zu einer Beendigung des Krieges hängen weitgehend von der militärischen Lage ab.

Vor drei Jahren begann Russland seinen Großangriff auf die Ukraine. Wo steht die ukrainische Gesellschaft zu Beginn des vierten Kriegsjahres? Und was erhoffen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer?

Bei der Beantwortung dieser Fragen helfen soziologische Untersuchungen, die unterschiedliche gesellschaftliche Stimmungen zu verschiedenen Perioden des Krieges aufzeigen: Die erste Periode (die ersten eineinhalb Jahre) des Kriegs war geprägt von einem Aufschwung patriotischer Gefühle, von einer beispiellosen Konsolidierung der ukrainischen Bevölkerung im Widerstand gegen den russischen Angriff. Von Herbst 2022 bis zum Ende des Sommers 2023 dominierte die Erwartung eines Sieges und einer schnellen Beendigung des Krieges. Doch bereits im Herbst 2023 zerschlug sich diese Hoffnung nach und nach. Unzufriedenheit und innenpolitische Widersprüche, die zu einer ganzen Reihe bedeutender Kaderwechsel führten, nahmen zu und wurden in der Öffentlichkeit immer stärker wahrgenommen. Dennoch hatte eine Mehrheit der Ukrainer weiterhin die Hoffnung, dass es mit Hilfe der internationalen Partner gelingen würde, den Kriegsverlauf zugunsten der Ukraine zu verändern oder Russland zur Beendigung des Krieges zu zwingen. Die lange Pause bei der US-Militärhilfe sowie die wachsenden Probleme an der Front und im Hinterland im Jahr 2024 verstärkten jedoch die pessimistischen Stimmungen. Im August 2024 gab es mit dem erfolgreichen Gegenangriff der ukrainischen Streitkräfte in der russischen Region Kursk Grund zu Optimismus, wenn auch nur für kurze Zeit. Insgesamt stand ein Großteil des Jahres 2024 für die Ukrainer unter dem Zeichen der Unsicherheit über die weiteren Aussichten des russisch-ukrainischen Krieges. Klar war nur eines: Der Krieg wird sich auf unbestimmte Zeit ohne absehbares Ende hinziehen.

Eine neue Phase bezüglich der Stimmungen in der ukrainischen Gesellschaft und die Position der politischen Führung begann am 6. November 2024, als der Sieger der Präsidentschaftswahlen in den USA bekannt wurde: Donald Trump.

Der Trump-Faktor
Der Wahlsieg von Donald Trump und sein Versprechen, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden, hatten eine fast magische, wenn auch mehrdeutige Wirkung auf die öffentliche Stimmung in der Ukraine sowie auf die internationale Lage rund um den russisch-ukrainischen Krieg. Erstmals seit Frühling 2022 zeigte sich eine reale Möglichkeit neuer Friedensverhandlungen und zumindest eine potentielle Wahrscheinlichkeit für ein Ende des Kriegs. Am politischen Horizont von 2025 erschienen nicht sehr deutliche, aber dennoch erkennbare Umrisse eines möglichen Friedens in der Ukraine.

Diese Situation schürte natürlich bestimmte Erwartungen. Gemäß einer Telefonumfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) glaubten im Dezember 2024 45 Prozent der Ukrainer, dass der Sieg Trumps den Frieden näherbringt (wobei 30 Prozent glaubten, dass der Frieden „ein bisschen näher“ sei, und 15 Prozent, dass er „viel“ näher sei).[1] Das kann man als zurückhaltenden Optimismus bezeichnen. Dabei ist das Verhältnis zu Trump in der Ukraine – wie überall auf der Welt – alles andere als eindeutig. Doch im ganzen Land ist die Wahrnehmung Trumps in großem Maße mit sozial-psychologischen Einstellungen zu Krieg und Frieden verbunden. Die Befürworter eines schnellstmöglichen Kriegsendes setzen große Hoffnungen auf Trump. Die Hoffnung dieser Leute gleicht einem Glauben an wunderwirkende Bestrebungen Trumps. Diese Stimmung gründet nicht nur auf seinen Versprechungen, sondern auch auf der Überzeugung, dass die militärische und politische Macht der USA und Trumps Entschlossenheit Putin zur Beendigung des Kriegs zwingen könnten. Eine andere Gruppe von Trump-Anhängern glaubt nicht so sehr an seine wunderwirkenden Fähigkeiten, sondern an seine Entschlusskraft. Ihnen zufolge wird Trump ziemlich schnell über die Möglichkeit eines friedlichen Kompromisses mit Putin enttäuscht sein und daher auf eine Aufstockung der Militärhilfe an die Ukraine setzen, um den Druck auf Russland zu erhöhen, was schließlich zu einer Niederlage des Kremls führen werde. In diesem Fall wird das Erwünschte (der Sieg über Russland) als mögliches Szenario für die Entwicklung des Kriegs ausgegeben, und Trump spielt darin die Rolle eines fast magischen Umbruchfaktors.

Doch nicht wenige Ukrainer stehen Trump auch kritisch gegenüber. In dieser Gruppe dominieren sorgenvolle Erwartungen, dass der 47. Präsident der USA die Militärhilfe für die Ukraine stoppen und das Land zu einem ungerechten Frieden zu russischen Bedingungen zwingen wird. Laut der erwähnten KIIS-Umfrage glauben 31 Prozent der Befragten, dass unter Trumps Präsidentschaft ein Frieden vorwiegend ungerecht sein wird (11 Prozent: „vollkommen ungerecht“; 20 Prozent: „vorwiegend ungerecht“, aber mit der Erfüllung einiger Forderungen der Ukraine). Eine weitere große Gruppe von Ukrainern steht zu Trump und seinem Friedensversprechen äußerst skeptisch gegenüber: 18 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass Trump in keiner Weise zu einem Frieden in der Ukraine beitragen wird, weitere 22 Prozent bekundeten Schwierigkeiten damit, diese Frage zu beantworten.

Seltsamerweise (aber eigentlich zu Recht) beeinflusste der Trump-Faktor am stärksten die Politiker in der Ukraine. Sie sind es, die Trump und seinen Versprechungen auf einen schnellen Frieden leidenschaftlich und von ganzem Herzen glauben. Denn für sie würde ein Kriegsende die Rückkehr von Wahlen bedeuten, die man zu Kriegszeiten nicht durchführen kann. Dabei stehen Wahlen für ein vollwertiges innenpolitisches Leben, nach dem sich ukrainischen Politiker und ein Teil der Wählenden sehnen. Doch der Krieg ist noch nicht vorbei, aber Politiker und das politiknahe Publikum leben bereits in der Erwartung von Wahlen. In der Ukraine ist ein regelrechtes Wahlfieber ausgebrochen. Einige politische Kräfte bereiten sich bereits auf künftige Wahlen vor – noch ein Beispiel dafür, wie das Erwünschte als das Wirkliche ausgegeben wird.

Der Trump-Faktor wirkt sich auch auf die Position von Präsident Volodymyr Zelenskyj aus. Er muss sowohl Trumps Wunsch, den Krieg in der Ukraine zu beenden, als auch die widersprüchlichen Stimmungen der Ukrainer berücksichtigen. Deshalb demonstriert er einerseits Bereitschaft zu künftigen Friedensgesprächen, die Trump initiieren will, und andererseits muss er die Position derjenigen Ukrainer berücksichtigen, die gegen Zugeständnisse an Russland sind.

Einstellungen zu Friedensbedingungen
Der Trump-Faktor hat die widersprüchlichen Tendenzen in der ukrainischen Gesellschaft noch verstärkt. Die öffentliche Polarisierung zur Frage der Bedingungen eines Kriegsendes hat sich immer mehr verschärft. 2024 hat die Zahl der Befürworter einer Beendigung des Kriegs auch unter der Bedingung territorialer Zugeständnisse an Russland klar zugenommen. Laut Umfragen waren dazu Ende 2022 nur 8 Prozent der Befragten bereit, doch 2024 vertraten bereits 32 Prozent diese Ansicht. Nach dem Wahlsieg Trumps stieg diese Zahl auf 38 Prozent.[2]

Demgegenüber stehen die „Unversöhnlichen“, die kategorisch gegen Konzessionen an Russland sind und die Ansicht vertreten, dass der Krieg bis zur vollen Befreiung aller ukrainischen Territorien, die von Russland besetzt sind, fortgesetzt werden sollte. Wird die Frage nach territorialen Zugeständnissen direkt gestellt, so ist zurzeit etwa die Hälfte der Befragten dagegen (Anfang 2022 und Anfang 2023 waren es noch 87 Prozent). Berücksichtigt man jedoch das Verhältnis der Ukrainer zu verschiedenen Kompromissvarianten, so liegt die Zahl der „Unversöhnlichen“ zwischen 21 und 26 Prozent.

Das dritte Lager sind die Befürworter eines gerechten Friedens. Sie befürworten ein Kriegsende auf diplomatischem Weg, sind aber gegen „einen Frieden um jeden Preis“. Die KIIS-Umfragen erforschte das Verhältnis der Ukrainer zu den Bedingungen einer Beendigung des Kriegs noch genauer, indem es drei verschiedene Kompromissvarianten zur Bewertung anbot. Die Ergebnisse zeigten eine Zunahme der Anhänger von Kompromissvarianten. Im Juni 2024 lag der Anteil der Befürworter verschiedener Kompromissvarianten zwischen 38 und 57 Prozent, im Dezember 2024 waren es 41 bis 64 Prozent. Dabei schlägt die populärste Variante, die 64 Prozent Unterstützung erhielt, Folgendes vor: Russland behält die Kontrolle über die besetzten Gebiete um Zaporizhzhija, Cherson, Donezk, Luhansk und die Krim, ohne dass die Ukraine dies offiziell anerkennt; die Ukraine wird Mitglied der NATO und der Europäischen Union.[3] Diese Daten zeigen, dass Sicherheitsgarantien für die Ukraine in der Nachkriegsperiode für die Befragten sehr wichtig sind. Die meisten Ukrainer wünschen sich ein Ende des Kriegs. Gleichzeitig ist ihnen aber auch klar, dass der Krieg nicht von allein zu Ende gehen wird. Sie sind weiterhin bereit, Widerstand zu leisten und die Härten des Kriegs zu ertragen. Gemäß Umfragedaten vom Dezember 2024 sind weiterhin 57 Prozent der Ukrainer bereit, den Krieg so lange zu ertragen, wie das nötig ist.[4]

Unterschiedliche gesellschaftliche Ansichten zeigen sich auch bei anderen Themen. Seit Herbst 2023 nehmen die Probleme an der Front und im Hinterland zu. In den östlichen Regionen der Ukraine haben die russischen Streitkräfte ihre Angriffe verstärkt. 2024 wurden die Mobilisierungsmaßnahmen für die ukrainischen Streitkräfte stark ausgeweitet, wobei teilweise rigorose Methoden angewandt wurden. Sowohl die Ablehnung dieser Methoden als auch die Angst um Freunde und Verwandte, die an der Front sterben könnten, haben zu einem sehr widersprüchlichen Verhältnis zur Mobilisierung geführt. Patriotische Stimmungen und das Verständnis für die Notwendigkeit der Mobilisierung stehen auf paradoxe Weise neben einem kritischen Verhältnis zur Massenmobilisierung.[5] Die Verschlechterung der Kriegslage hat eine kritische Haltung im Hinterland gegenüber einzelnen Beschlüssen und Handlungen der Behörden (von der lokalen Selbstverwaltung bis zur Regierung und dem Präsidenten) sowie vor allem gegenüber den Korruptionsfällen zu Kriegszeiten befördert.

So entstanden neue innenpolitische Auseinandersetzungen. Alle diese Prozesse haben zu einem wachsenden Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen geführt. Dieser Trend war typisch für die Ukraine vor dem Großangriff Russlands, doch in den ersten eineinhalb Jahren des großen Kriegs gegen Russland zeigte sich mit der gesellschaftlichen Konsolidierung auch ein hoher Grad an Vertrauen in die staatlichen Institutionen. Als sich die Situation an der Front verschlechterte und sich die gesellschaftlichen Haltungen im Hinterland wieder änderten, kam jedoch auch das Problem des Misstrauens gegenüber den Staatsorganen zurück. Nach den erfolglosen Angriffsversuchen der ukrainischen Armee im Sommer 2023 wurde es noch verstärkt.

Das geringste gesellschaftliche Vertrauen genießen Institutionen, die nicht direkt mit dem Widerstand gegen den Feind, sondern mit Korruption und Bürokratie assoziiert werden: das Parlament, das Ministerkabinett, die Gerichte und die Staatsanwaltschaft. Gemäß verschiedenen soziologischen Umfragen misstrauen ihnen zwei Drittel bis über 70 Prozent der Ukrainer.[6] Diese Zahlen bewegen sich wieder auf dem Niveau, auf dem sie sich vor dem russischen Großangriff befanden. Dagegen ist das Vertrauen in die ukrainischen Streitkräfte (über 90 Prozent) und zu anderen staatlichen Strukturen, die mit dem Widerstand gegen die russische Aggression in Verbindung gebracht werden (Nationalgarde, Sicherheitsdienst der Ukraine) nach wie vor hoch.

Tendenziell nimmt auch das Vertrauen in Präsident Zelenskyj ab. Vertrauten ihm im Mai 2022 90 Prozent, so waren es im Dezember 2024 nur noch 52 Prozent.[7] Hierzu trugen sowohl die Misserfolge an der Front als auch die Entlassung des in der Ukraine populären Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Valerij Zaluzhnyj, wie auch die Kritik am Umgang mit Korruptionsproblemen bei. Zelenskyj selbst wird nicht der Korruption verdächtigt, doch ein bedeutender Teil der Ukrainer ist der Meinung, dass er dem Kampf gegen die Korruption zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Vertrauensquoten in den ersten Kriegsmonaten ungewöhnlich hoch und durch die spontane patriotische Konsolidierung bedingt waren. Gegenwärtig herrscht ein eher kritisch-rationales Verhältnis gegenüber Zelenskyj vor, doch insgesamt genießt er das Vertrauen einer Mehrheit der Ukrainer.

Der Trend des schwindenden Vertrauens in staatliche Institutionen, Politiker und hochrangige Beamte wird durch die verschärfte Wahrnehmung von Korruption während des Krieges verstärkt. Für eine Mehrheit der Ukrainer steht das Problem der Korruption an zweiter Stelle nach dem Krieg. Dabei lässt sich ein paradoxer Effekt beobachten: Die regelmäßigen Enthüllungen über Korruption und Bestechung im Zusammenhang mit dem Krieg verstärken nur die Wahrnehmung eines hohen Korruptionsniveaus. Es handelt sich dabei um einen informationspsychologischen Effekt: Die Korruption nahm nicht zu, sondern man begann – im Gegensatz zum ersten Kriegsjahr – offen und häufiger darüber zu sprechen. Dennoch gibt es sowohl ein ernsthaftes Problem als auch einen spezifischen Grund für die Unzufriedenheit: Die Verhaftungen aufgrund von Korruptionsverdacht enden nicht mit schnellen und harten Gerichtsurteilen. Viele aufsehenerregende Korruptionsfälle bleiben oft jahrelang ohne Gerichtsbeschlüsse hängig. Dieser Umstand führt am stärksten dazu, dass der Kampf gegen Korruption als ineffizient wahrgenommen wird.

Trotz der zunehmenden öffentlichen Kritik an Parlament, Regierung und an Präsident Zelenskyj lehnen 56 Prozent der Ukrainer die Durchführung von Wahlen während des Kriegs ab.[8] Neben Sicherheitsbedenken und der Unmöglichkeit, einen normalen Wahlprozess in einem Krieg zu gewährleisten, in dem Hunderttausende von Ukrainern an der Front kämpfen und Millionen ukrainischer Bürger zur Flucht gezwungen sind, ist man sich auch darüber im Klaren, dass ein offener innenpolitischer Wahlkampf während des Krieges gegen Russland unangemessen und sogar gefährlich ist.

Das vierte Kriegsjahr: Szenarien für 2025
Für das laufende Jahr sind mindestens drei Szenarien denkbar. Ein relativ optimistisches Szenario ist eine Beendigung des Kriegs. Dies würde höchstwahrscheinlich die Vereinbarung eines Waffenstillstands („Einfrieren“) entlang einer bestimmten Kontaktlinie bedeuten. Ein systemisches, allumfassendes Friedensabkommen über einen stabilen, geschweige denn „gerechten“ Frieden ist unter den gegenwärtigen Bedingungen – angesichts der unüberbrückbaren Widersprüche zwischen Russland und der Ukraine in Bezug auf den Status der von Russland besetzten und annektierten ukrainischen Gebiete und in einer Reihe anderer Fragen – schlicht unmöglich. Entsprechend groß ist das Risiko erneuter Kriegshandlungen nach einer gewissen Zeit. Deshalb ist dies nur ein relativ optimistisches Szenario.

Dieses Szenario wäre wahrscheinlich, wenn es der Ukraine gelänge, den russischen Vormarsch aufzuhalten (oder so weit wie möglich zu verlangsamen), wenn Trump und seine Unterhändler hartnäckig und wirksam Druck auf den Kreml ausüben, und wenn Putin mit den Bedingungen eines Friedensabkommens zufrieden ist, z. B. mit einem Moratorium für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und einer schrittweisen Aufhebung der Sanktionen gegen Russland. Vielleicht möchte er auch zur Feier des 80. Jahrestags des Siegs über Hitler-Deutschland einen zumindest relativen Sieg demonstrieren. Dies könnte ihn zur Unterzeichnug einer Waffenstillstandsvereinbarung bis spätestens Ende April, Anfang Mai motivieren. Das läge auch im Interesse Trumps, der dann die ersten 100 Tage seiner Präsidentschaft feiern wird.

Bei diesem Szenario könnten in der Ukraine im Herbst Wahlen stattfinden. Viele Experten schätzen, dass die Vorbereitung und Durchführung der Nachkriegswahlen etwa sechs Monate in Anspruch nehmen werden: Das Wählerregister muss aktualisiert und der optimale Wahlmechanismus für die Millionen ukrainischer Bürger, die ihr Land während des Krieges verlassen mussten, bestimmt werden. Höchstwahrscheinlich würden die Kommunalwahlen (die gemäß der ukrainischen Verfassung Ende Oktober 2025 stattfinden sollten) sowie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die aufgrund des Kriegsrechts verschoben wurden, gleichzeitig stattfinden.

Das pessimistische Szenario geht von einer Fortsetzung des Kriegs aus. Die meisten Analysen der weiteren Kriegsentwicklungen sind sehr skeptisch, was Putins Bereitschaft angeht, den Krieg mit einem relativen Kompromiss zu beenden. Aus rein taktischen Gründen könnte er Friedensverhandlungen zustimmen, die Trump initiieren würde. Russland wird jedoch mit einer harten und äußerst aggressiven Haltung in diese Verhandlungen gehen und einseitige Zugeständnisse der Ukraine fordern. Wenn die Ukraine und die USA sich weigern, Russland Zugeständnisse zu machen, könnte sich der Kreml aus den Verhandlungen zurückziehen und den Krieg fortsetzen, um den militärischen Druck auf die Ukraine zu erhöhen. Dann könnte der Krieg bis Ende 2025 oder noch länger andauern. Solange Russland einen militärischen Vorteil hat, wird der Kreml den Krieg gegen die Ukraine fortsetzen. Bei diesem Szenario ist die Wahrscheinlichkeit einer zunehmenden Internationalisierung des Krieges und einer Ausweitung seines Umfangs hoch.

Ein etwas realistischeres Szenario ist eine gleichzeitige Fortführung des Kriegs und die Aufnahme von Verhandlungen. Letztere könnten sich aufgrund der grundlegenden Widersprüche zwischen den Kriegsparteien in die Länge ziehen, zeitweise ins Stocken geraten und für einige Zeit unterbrochen werden. Parallel zu den Verhandlungen wird Russland weiterhin aktive Militäraktionen durchführen und versuchen, weitere ukrainische Gebiete zu erobern und seine Verhandlungsposition zu stärken. Dies ist Putins traditionelle Art, militärischen Druck auf Friedensgespräche auszuüben. In gewisser Weise wird dies der Situation bei den Verhandlungen im Normandie- und Minsk-Format und dem Krieg im Donbass in den Jahren 2014–2021 ähneln, nur dass die Intensität und das Ausmaß der Feindseligkeiten viel größer sein werden. Schließlich dürfte auch am Ende dieses Szenarios eine Art Friedensabkommen stehen. Aber es ist unmöglich vorherzusagen, wann genau dies geschehen wird – in der zweiten Hälfte des Jahres 2025 oder erst 2026 – und zu welchen Bedingungen. Es könnte eine Situation wie bei den Minsker Vereinbarungen eintreten: Man einigt sich auf einen Waffenstillstand, aber diese Vereinbarung wird regelmäßig verletzt werden. Nichtsdestotrotz scheint dieses Szenario im Moment am wahrscheinlichsten.

Eines ist jedoch klar: Das Ende des russisch-ukrainischen Krieges wird nicht so sehr von der Haltung der ukrainischen Regierung und der öffentlichen Meinung in der Ukraine abhängen, sondern von der militärischen Lage und der Bereitschaft Russlands zu einem relativ kompromissbereiten Ende des Krieges. Ein reales Ende des Kriegs setzt voraus, dass Putin gezwungen wird, Frieden zu schließen. Dies bedeutet nicht nur, dass der wirtschaftliche und politische Druck auf Russland erhöht werden muss, sondern auch, dass die Ukraine weiterhin unterstützt und ihr militärisches Potenzial und ihre Verhandlungsposition gestärkt werden müssen.

Anmerkungen: 
[1])    https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1462&page=1

[2])    https://kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1465&page=2

[3])    Ebd.

[4])    https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1464&page=2

[5])    https://zn.ua/ukr/war/mobilizatsija-chomu-ukrajintsi-ne-pospishajut-iti-sluzhiti-i-chi-mozhna-tse-zminiti-rezultati-sotsdoslidzhennja.html

[6])    https://razumkov.org.ua/napriamky/sotsiologichni-doslidzhennia/otsinka-sytuatsii-v-kraini-ta-diialnosti-vlady-dovira-do-sotsialnykh-instytutiv-politykiv-posadovtsiv-ta-gromadskykh-diiachiv-vira-v-peremogu-veresen-2024r; https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1467&page=1

[7])    https://www.kiis.com.ua/?lang=eng&cat=reports&id=1466&page=1

[8])    https://razumkov.org.ua/napriamky/sotsiologichni-doslidzhennia/otsinka-sytuatsii-v-kraini-ta-diialnosti-vlady-dovira-do-sotsialnykh-instytutiv-politykiv-posadovtsiv-ta-gromadskykh-diiachiv-vira-v-peremogu-veresen-2024r

Übersetzung aus dem Russischen: Regula M. Zwahlen.

Volodymyr Fesenko, Dr., Politologe, Leiter des Zentrums für angewandte politische Forschungen Penta, Kyjiw.

Bild:  Soldatenfriedhof bei Charkiv. Der ukrainische Präsident Volodymyr Zelenskyj sprach Anfang Februar von 43 000 gefallenen ukrainischen Soldaten (Foto: Shutterstock.com / Jose Hernandez).

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