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Buchbesprechungen

RGOW 3–4/2025
Stefan Kube, Regula M. Zwahlen, Natalija Zenger

Vier Buchbesprechungen zu

Richard Davy: Defrosting the Cold War and Beyond
Jakub Tyszkiewicz (ed.): Human Rights and Political Dissent in Central Europe
Barbara Martin, Nadezhda Beliakova (eds.): Religious Life in the Late Soviet Union
Richard Ottinger (Hg.): Religiöse Elemente im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine

Richard Davy
Defrosting the Cold War and Beyond
An Introduction to the Helsinki Process, 1954–2022
Abingdon, New York: Routledge 2023, 292 S.
ISBN: 978-0-357-70405-6. £ 31.99.

Richard Davy, der fast drei Jahrzehnte für die Londoner Tageszeitung The Times aus Osteuropa, Deutschland und den USA berichtet hat, liefert mit seinem Buch eine gut lesbare Überblicksdarstellung über die wichtigsten Etappen des Helsinki-Prozesses. Dabei beschränkt er sich zeitlich nicht auf die unmittelbaren Verhandlungen im Vorfeld des Gipfels von Helsinki 1975, sondern die Darstellung setzt bereits mit dem Vorschlag des sowjetischen Außenministers Vjatscheslav Molotov 1954 für eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz ein. Auch endet seine Darstellung nicht mit dem Ende des Kalten Kriegs, sondern nimmt auch die Transformation der KSZE in die OSZE und deren heutige Situation angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in den Blick.

Davy beleuchtet die langwierigen Verhandlungen von 1972 bis 1975 erst im finnischen Dipoli und anschließend in Genf zwischen den 35 staatlichen Delegationen, die schließlich zur Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki führten. Für die westlichen Verhandler war es dabei entscheidend zu verhindern, dass die „Breschnew-Doktrin“ von der „begrenzten Souveränität der sozialistischen Länder“ Eingang in das Abkommen fand. Damit waren sie letztlich erfolgreich, weil die Prinzipien der Schlussakte nicht nur einen Verhaltungskodex zwischen Ost und West formulierten, sondern auch auf die Beziehungen der Teilnehmerstaaten untereinander anzuwenden waren, d. h. die Sowjetunion war angehalten, die Souveränität ihrer Verbündeten achten (S. 108). Noch bedeutender war die Aufnahme der Menschenrechte in Prinzip VII der Schlussakte, „da die explizite Verbindung zwischen Sicherheit und Achtung der Menschenrechte ein neuer Aufbruch in den internationalen Beziehungen war“ (S. 2).

Über die KSZE-Folgekonferenzen in Belgrad, Madrid und Wien verfolgt Davy die Debatten um die Umsetzung der Schlussakte und die Entstehung eines Helsinki-Netzwerks in Ost und West, das auf Verletzungen der Menschenrechte in den Ostblockstaaten aufmerksam machte. Mit Blick auf die gegenwärtige Situation fragt Davy, ob es nach 1989/90 eine verpasste Gelegenheit zum Aufbau einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur gegeben habe, die von der Ausweitung der NATO torpediert worden sei. Davy verneint dies und verweist darauf, dass die Clinton-Administration in den 1990er Jahren die Erweiterung der NATO nicht als antirussischen Schachzug verfolgte, sondern „um eine Grauzone [im östlichen Europa] zu verhindern, in der nationalistische Konflikte ausbrechen können“ (S. 192). Auch wenn manche Entscheidungen des Westens diskussionswürdig seien, war es letztlich Putins Entscheidung, Krieg zu führen, und damit fundamental gegen die Schlussakte von Helsinki zu verstoßen.

Stefan Kube

Jakub Tyszkiewicz (ed.)
Human Rights and Political Dissent in Central Europe
Between the Helsinki Accords and the Fall of the Berlin Wall
New York: Routledge 2022, 288 S.
ISBN 978-1-032-03505-5. £ 41.99; CHF 70.–.

Nach der Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki begannen die westlichen Staaten, die Menschenrechte in ihren Beziehungen zum Ostblock stärker zu thematisieren. Zugleich entstanden in den kommunistischen Staaten neue Dissidentengruppen. Der Sammelband zielt darauf ab, die „Beziehung zwischen diesen zwei simultanen Narrativen zu verstehen“, sich dabei aber „nicht nur auf den direkten Einfluss des Helsinki-Abkommens zu konzentrieren, sondern auch die Auswirkungen der ‚Menschenrechte‘ als allgemeine Vorstellung, die eine wichtige Rolle in der Politik westlicher Staaten einerseits und in der Entwicklung (oder nicht) von politischer Opposition in den sowjetisch dominierten Ländern in Ostmittel- und Osteuropa seit Mitte der 1970er Jahre andererseits spielte, zu analysieren“ (S. 2). Aufgrund des schwindenden Stellenwerts der Menschenrechte in internationalen Beziehungen und der Rückkehr der Realpolitik befürchtet der Herausgeber, dass die Verdienste des Helsinki-Abkommens und seine Auswirkungen in Vergessenheit geraten könnten.

Durch einen Vergleich des „Orts, der Rolle und der Verwendung von Menschenrechten“ innerhalb des kommunistischen Blocks sowie zwischen kommunistischen und westlichen Ländern beleuchtet der Sammelband, wie der Menschenrechtsdiskurs die Entwicklung der Opposition in Ostmitteleuropa und die Außenpolitik der USA und ihrer Verbündeten beeinflussten. Die Mehrheit der Beiträge beschäftigt sich mit Polen, wobei die ersten vier Artikel auf die Politik bestimmter westlicher Staaten gegenüber Polen eingehen. Mehrere Beiträge nehmen die römisch-katholische Kirche in den Blick: Ein Artikel beleuchtet den Fall des Dominikanerpriesters Ludwik Wiśniewski, der in den 1970er Jahren ein wichtiger Organisator für jugendliche Dissidenten war. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle der Menschenrechte für die Kirche in der Slowakei und mit der Verfolgung von Christen in der Slowakei von 1975 bis 1989. Der dritte Beitrag in diesem Themenblock geht auf die Rolle der Menschenrechte in den Aktivitäten von Papst Johannes Paul II ein.

Die übrigen Beiträge sind der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien gewidmet. Der abschließende Artikel beleuchtet das Thema umfassender und blickt über das Jahr 1989 hinaus. Dabei schildert der Autor, wie sich die meisten postsowjetischen Staaten zwar in die (ausgebauten) europäischen Menschenrechtsstrukturen einfügten. Für die Jahrtausendwende allerdings stellt er einen Stillstand und neuen Widerstand gegen die Menschenrechte fest. Die wenigen „echten Menschenrechtsverteidiger in der Region“ (S. 232) seien heute in der Defensive, während die internationale Gemeinschaft gegenüber Berichten über Menschenrechtsverletzungen abgestumpft sei.

Natalija Zenger

Barbara Martin, Nadezhda Beliakova (eds.)
Religious Life in the Late Soviet Union
From Survival to Revival (1960s–1980s)
Abingdon, New York: Routledge 2024, 241 S.
ISBN: 978-1-032-31777-9 (pbk). € 60.–; CHF 69.90.

Dass der Kampf gegen die Religion nicht nur ein politischer, sondern auch ein spiritueller war, dämmerte den sowjetischen Machthabern in den 1960er Jahren, wie Victoria Smolkins „History of Soviet Atheism“ von 2018 eindrücklich gezeigt hat. Der vorliegende Sammelband gibt Einblick in die Überlebensstrategien religiöser Gemeinschaften als auch in die Vielfalt spiritueller Suchwege, auf die sich vor allem jüngere Menschen in der späten Sowjetzeit begaben – entgegen der Annahme, dass Religion zusammen mit ihren Großmüttern von alleine aussterben werde. Dabei legen die Forschenden anhand neuer Quellen (Privatarchive, Ego-Dokumente, Interviews) einen besonderen Fokus auf den bisher weniger beachteten Aspekt der Individualisierung der Religion und die Rolle der Laien, im Gegensatz zum besser erforschten Verhältnis von Religionsgemeinschaften zum sowjetischen Staat. Zudem legen neuere Studien das Augenmerk weniger auf religiöse Menschen als Opfer – was im Laufe des Helsinki-Prozesses seit 1975 im Vordergrund stand (S. 9) –, sondern als Akteure, die nicht immer als Dissidenten zu verstehen waren. Dazu bieten die beiden Herausgeberinnen eingangs einen informativen Überblick über den aktuellen Forschungsstand.

Die ersten vier von insgesamt 14 Beiträgen zeigen, wie Riten der orthodoxen Kirche (Ukraine, Russland), im Judentum (Moldau) und unter Moskauer Muslimen zwar oft eine Norm blieben, sich aber veränderten und auch von nicht offiziell beauftragten Personen vollzogen wurden. Gemeinschaften wie die Evangeliumschristen-Baptisten oder die deutschen Katholiken in Kasachstan versuchten einen legalen Status zu erreichen, während gewisse pfingstchristliche Gemeinschaften bewusst außerhalb der Registrierung blieben und sich auch bürgerrechtlich engagierten. Hier spielten Frauen eine herausragende Rolle. Christliches Engagement von Frauen kam auch im Frauenclub „Mariia“ (besonders bekannt durch Tatiana Goritscheva) zum Ausdruck, dessen „Feminismus“ aufgrund seiner religiösen Prägung in starkem Gegensatz zum marxistischen wie auch westlichen Feminismus stand. Ähnliche Gruppen von jungen Intellektuellen auf spiritueller Suche formierten sich selbständig in orthodoxen Klöstern um gewisse Starzen oder Priester (z. B. Alexander Men’) und in Form von spontanen Untergrundseminaren. Die Haltungen der so sozialisierten sowjetischen Konvertiten standen oft in starkem Gegensatz zur staatstreuen kirchlichen Hierarchie (S. 168). Noch wenig erforscht ist die Anziehungskraft des Islam wie auch indischer Spiritualität für Intellektuelle in der späten Sowjetzeit – der Band verschafft hier ebenso spannende Einblicke wie in die Anfänge des boomenden postsowjetischen Esoterikmarkts im „astrologischen Samizdat“ der 1970er Jahre.

Regula M. Zwahlen

Richard Ottinger (Hg.)
Religiöse Elemente im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine
Propaganda, Religionspolitik und Seelsorge, 2014–2024
Hannover/Stuttgart: ibidem 2025, 128 S.
ISBN: 978-3-8382-1980-6. € 19.90; CHF 29.90.

Wer sich für die religiösen Aspekte des russischen Kriegs gegen die Ukraine interessiert, findet in diesem Sammelband gute, relativ knappe Zusammenfassungen der wichtigen Entwicklungen in der letzten Dekade, so zur ukrainischen Orthodoxie von Johannes Oeldemann, zum Zusammenhang von „russischer Welt“, Russischer Orthodoxer Kirche (ROK) und Kriegspropaganda von Andreas Heinemann-Grüder und zur Bedeutung des Kriegs für die Weltorthodoxie von Thomas Bremer.

Wer sich auf diesem Feld bereits auskennt, wird in diesem Sammelband auf neue Informationen stoßen. Der Oberrabbiner Moskaus im Exil, Pinchas Goldschmidt, räumt mit der Idee auf, Putin habe den russischen Antisemitismus besiegt und berichtet von der vom Kreml geförderten jüdischen Parallelstruktur. Die russischen Juden „stimmten mit den Füßen ab“: 100 000 sind seit 2022 aus Russland geflohen (S. 42, 47). Andreas Jacobs zeichnet die Entwicklung eines „russischen Islam“ nach, der nun den Angriffskrieg als Pflicht der Muslime islamisch absichert (S. 94). Demgegenüber betonen Vladyslav Zaiets, Joshua T. Searle und Oleksandr Geychenko das starke zivilgesellschaftliche und karitative Engagement zahlreicher religiöser Gemeinschaften und insbesondere der Freikirchen in der Ukraine seit 2014. Searle und Geychenko beobachten im russisch-ukrainischen Krieg einen „Zusammenprall zweier gegensätzlicher Visionen des Christentums […], die sich als staatlich gefördertes Christentum und offenes Christentum charakterisieren lassen“ (S. 74).

Ein ähnlich gearteter Gegensatz kommt auch in Regina Elsners vergleichendem Beitrag zu den Konzepten der Militärseelsorge in der Ukraine und Russland zum Ausdruck: Während in der ukrainischen Militärseelsorge „die Wahrung der Religions- und Gewissensfreiheit in allen Dokumenten an erster Stelle steht“, steht in Russland ein metaphysisch und vor allem russisch-orthodox legitimierter Vaterlandsdienst im Zentrum (S. 102, 106). Die Aufarbeitung der Teilnahme der ROK an den Kriegsverbrechen der russischen Armee werde im Kontext der ökumenischen Friedensethik noch eine wichtige Rolle spielen müssen (S. 108). In diesem Zusammenhang stellt Ludwig Ring-Eifel Anfragen an die „moralische Autorität des pazifistischen Papstes“ und seine „überparteiliche“ päpstliche Diplomatie. Der Band schließt mit gewichtigen Argumenten von Franz-Josef Bormann dafür, keinen Gegensatz zwischen der Lehre vom gerechten Krieg und dem Konzept des gerechten Friedens aufzubauen und eigene Verantwortlichkeiten nicht auszublenden: „Es wäre eigenartig, wollten wir die deutschen Interessen zwar am Hindukusch verteidigen, unsere ungleich größere Verantwortung gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn aber weiter gedanklich marginalisieren“ (S. 118).

Regula M. Zwahlen

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